Feuer und Blut. Tom Buk-Swienty

Feuer und Blut - Tom Buk-Swienty


Скачать книгу
in die Ecken, hinter den Gardinen, in den Wald oder an den Strand. Er weigerte sich, die Kleidung anzuziehen, die er sollte. Er kam nicht, wenn er gerufen wurde, sondern lief noch tiefer in den Wald oder auf die umliegenden Felder des Guts. Er blieb stundenlang verschwunden. »Er kam mit seinem Vater überhaupt nicht gut aus«, schrieb Thomas Dinesen in seiner kleinen Biografie über seinen Vater Wilhelm. Umgekehrt war es nicht anders. Der Patriarch wusste nicht, wie er mit einem Sohn umgehen sollte, den er nicht biegen und formen konnte. Einem solchen Menschen war er noch nie begegnet.

      Die besondere Ironie bestand darin, dass dieser Sohn doch nach ihm benannt worden war, nach dem kleinen König von Katholm, Adolph Wilhelm Dinesen. Aber das wirklich Ironische daran war, dass der König seinen Sohn weit mehr formte, als beide begriffen. Den unbeugsamen Geist hatte Wilhelm nicht von Fremden, aber vor allem in einem Punkt bekam der Vater einen alles entscheidenden Einfluss auf den Jungen: Krieg. Wenn der Vater vom Krieg erzählte und von seinen Kriegserlebnissen schwärmte, stahl sich Wilhelm aus seinem Versteck hervor und sperrte Augen und Ohren auf. Die einzige detaillierte Kindheitserinnerung, die er in seinen Büchern hinterlassen hat, handelt von ebendiesem Vater, der vom Krieg in einer Weise spricht, die auf den Jungen unendlich verlockend wirkte.

      »Es war an diesen langen, dunklen Winterabenden«, erzählte Wilhelm Dinesen viele Jahre später, »wenn wir Kinder mit unserer Mutter auf dem alten Herrensitz in Jütland im Wohnzimmer saßen, der Wind um den Giebel heulte und im Kachelofen bullerte, die Fensterhaken mit ihrem schwermütigen Ton gegen die Pfosten der Fenster schlugen und die Wetterfahne auf dem Turm pfiff und klagte; dann geschah es, dass mein Vater, an seiner Seite einer der Gutsherren aus der Gegend, im Zimmer auf und ab ging und eifrig von Helgesen und Krogh und Krabbe, von Bov und Ullerup und dem Danewerk erzählte, beschrieb und erklärte – und wir lauschten.«

      Jetzt saßen alle Kinder um den Vater herum – und Wilhelm unter ihnen. »Wenn mein Vater seine Erzählung beendet hatte, aufsprang und ging, konnte es vorkommen, dass er mich in die Seite knuffte und in lustigem Ton sagte: ›Du kommst zum Danewerk!‹ Aber dann nahm meine Mutter mich in die Arme und drückte mich an sich, und ihre Tränen fielen auf mein Haar. Und ich wusste gut, was diese Tränen bedeuteten«, schrieb Wilhelm Dinesen in seinen Erinnerungen.

      Gleichwohl blieben die Tränen der Mutter wirkungslos. Wenn Gutsbesitzer A.W. Dinesen, inzwischen zum Major befördert, vom Krieg erzählte, war Wilhelm hoch konzentriert und begeistert, auf einen kleinen Jungen wie ihn wirkte der Vater in solchen Stunden absolut unwiderstehlich. In Momenten wie diesen stellte der zweitälteste Sohn des Patriarchen sich vor, dass er jedenfalls in einem Punkt gerne wie sein Vater sein wollte. Er wollte das werden, was der Vater in dem gerade überstandenen Dreijährigen Krieg 1848 bis 1850 geworden war.

      Ein Kriegsheld.

      6

      Im Laufe von Wilhelm Dinesens frühester Kindheit trieben nationalistische Fliehkräfte den Gesamtstaat Dänemark in einen drei Jahre währenden blutigen Bürgerkrieg, genannt der Dreijährige Krieg oder Erster Schleswig’scher Krieg (die deutsche Geschichtsschreibung bezeichnet ihn als den »Schleswig-Holsteinischen Freiheitskrieg«). Es war dieser Krieg, in dem A.W. Dinesen kämpfte, zu Ruhm gelangte und zu einem Kriegshelden wurde, und es war dieser Krieg, von dem er mit leuchtenden Augen und Leidenschaft in der Stimme am knisternden Kamin sprach, während der kleine Wilhelm mit atemloser Faszination zuhörte.

      Der Dreijährige Krieg und die Kräfte, die ihn verursachten, bilden ein einschneidendes Kapitel in der deutschen und dänischen Geschichte – und sie sollten einen ebenso entscheidenden Einfluss auf das Geschlecht der Dinesens haben.

      Hintergrund waren Liberalismus und Nationalismus, die in diesen Jahren überall in Europa auf dem Vormarsch waren. Das gutsituierte Bürgertum, dessen Söhne inzwischen die Universitäten besuchten, war der Ansicht, dass diese guten Bürger – Großkaufleute, Anwälte, Ärzte – Anspruch auf politische Freiheit, Gleichheit und Mitbestimmung hätten. Sie opponierten gegen die Dynastien der Fürsten, die in den meisten europäischen Staaten regierten.

      Diese Strömungen hatten den Absolutismus im Laufe der 1830er Jahre geschwächt, und es half nicht, dass es dem erzkonservativen österreichischen Fürsten Metternich und seinem Partner, dem britischen Lord Castlereagh, auf dem Wiener Kongress 1815 gelungen war, eine Europakarte zu entwerfen, die auf autokratischen Regimes beruhte. Selbst der reaktionärste Fürst konnte inzwischen nicht länger im Zweifel sein, woher der neue politische Wind blies. Wollte er vermeiden, umgeweht zu werden, so musste er seinen Untertanen eine gewisse Mitbestimmung einräumen.

      Dies lernte der französische König Karl X. im Juli 1830 auf die harte Art, als er trotz der Eroberung Algeriens durch sein Heer abgesetzt wurde. Die Bürger wandten sich gegen ihn, weil er versuchte, ihre demokratischen Rechte und die Meinungsfreiheit zu beschneiden. Überall in Europa gewannen die Bürger in dieser Zeit zunehmend Einfluss in Räten, Ständeversammlungen und gesetzgebenden Ausschüssen. Diese Bürger waren Liberale, sie traten für freien Handel und Meinungsfreiheit ein. Ihre erweiterte Macht nutzten die vom Volk gewählten bürgerlichen Politiker zur Förderung des Nationalismus. Während die Monarchen des Absolutismus ihre Macht mit der Behauptung gerechtfertigt hatten, sie würde auf Gottes Gnade beruhen, legitimierten die vom Volk gewählten Bürgerlichen ihre Macht dadurch, dass sie einem Volk, einem nationalen Willen, einer Nation mit besonderem Nationalcharakter dienten.

      Auf diese Weise wurden Liberalismus und Nationalismus zu einer Art Zwillingspaar, das immer stärker zusammenwuchs. Diese nationalliberalen Bewegungen sollten Dänemarks und Deutschlands Politik schicksalhaft prägen, und damit nähern wir uns auch dem Grund dafür, dass A.W. Dinesen wieder in den Krieg zog.

      Als der Nationalismus an Boden gewann, wurde immer deutlicher, dass Dänemarks Monarchie aus einem dänisch gesinnten Land, dem Königreich nördlich des Flusses Kongeå, und einem deutsch gesinnten Gebiet im Süden, dem Herzogtum Holstein, bestand. Die bei Weitem meisten Bürger in den beiden Landesteilen fühlten sich nicht mehr miteinander verbunden, und das Königreich und Holstein hätten sich sicherlich in Freundschaft voneinander trennen können – wären sie nicht durch eine zwischen ihnen liegende Region, das Herzogtum Schleswig, miteinander verbunden gewesen. Dieses Herzogtum, das selbst national zersplittert war – in einen nördlichen dänischen und in einen südlichen deutschen Teil – wurde zum Zankapfel.

      Solange ein Fürst die sammelnde politische Kraft war, hatte es in der Praxis keine Bedeutung, dass es innerhalb des Reichs mehrere Länder gab und innerhalb der Reichsgrenzen unterschiedliche Sprachen gesprochen wurden. Die meisten Staaten in Europa waren multinational und multiethnisch. Aber mit dem Vormarsch des Nationalliberalismus gerieten mehr oder weniger alle europäischen Staaten unter Druck, darunter auch die dänische Monarchie. Die deutsch gesinnten Holsteiner und Schleswiger wollten Dänemark verlassen, während sich im Gegenzug dänische Nationalisten ein Dänemark bis zur Eider wünschten – ausgehend von dem Gedanken, Dänemark habe aus historischer Sicht Anspruch auf Schleswig. Es folgten jahrzehntelange Zwistigkeiten, und ein Bürgerkrieg schien unvermeidbar, als die Holsteiner und deutsch gesinnte Schleswiger eines Tages im März 1848 mit dem Dampfschiff Caledonia eine Delegation von Kiel nach Kopenhagen sandten, um dem dänischen König die Forderung nach der Aufnahme Schleswigs in den Deutschen Bund und der Ausarbeitung einer eigenständigen schleswig-holsteinischen Verfassung zu unterbreiten.

      Sowohl in Kopenhagen als auch in Kiel herrschte bei der Volksabstimmung eine aufgepeitschte Atmosphäre. Ganz Europa schien in diesen bewegenden Frühlingstagen des Jahres 1848 in Flammen zu stehen. Im Februar war die Revolution in den Straßen von Paris ausgebrochen, wo die Bürger nach blutigen Straßenkämpfen den Bürgerkönig Louis Philippe absetzten, der die bürgerlichen Rechte beschränkt hatte, zu deren Fürsprecher er sich zunächst gemacht hatte. Inspiriert durch die Ereignisse in Paris flammten in vielen europäischen Hauptstädten Volksaufstände auf. Der preußische König war vorübergehend aus Berlin geflohen, nachdem seine Truppen mehrere Hundert Demonstranten getötet und verwundet hatten.

      In dem brodelnden (jedoch nicht von gewalttätigen Auseinandersetzungen geprägten) Kopenhagen hielt sich nun eine schleswig-holsteinische Delegation auf, die im Namen deutsch gesinnter bürgerlicher Gruppen Selbstbestimmung verlangte. Spannender konnte das Drama kaum sein. Plötzlich und unerwartet


Скачать книгу