Feuer und Blut. Tom Buk-Swienty

Feuer und Blut - Tom Buk-Swienty


Скачать книгу
in ihren herrschaftlichen Wohnungen und Palais in der Stadt aufhielten, fast wie eine kleine Theater-Wandertruppe – sie reisten stets umher. Auf den Herrensitzen stattete man sich ständig Besuche ab, und dann kam man nicht mal eben auf eine Tasse Kaffee im heutigen Sinn vorbei. Man blieb tage-, vielleicht sogar wochenlang. Lange bevor »Urlaub« zu einem allgemein verbreiteten Phänomen wurde, praktizierte ihn der Gutsbesitzerstand mit ausgeprägter Leidenschaft. Zu Weihnachten, Ostern und über lange Zeiträume im Sommer kehrten die Söhne heim: von ihren Offiziersschulen oder aus den pulsierenden Weltstädten, in die sie als Militärattachés oder Botschaftssekretäre entsandt worden waren. Wenn sie daheim zu Besuch waren, herrschte unter den Angehörigen der Herrschaft auf dem Gut eine ganz besondere Ferienstimmung.

      Ein junger, von den Eindrücken ganz überwältigter Student, der sich eines Sommers auf Katholm aufhielt, schrieb darüber an seine Schwester: Hier ist es wie im Paradies. »Und das ist noch gelinde ausgedrückt. Wir taten den ganzen Tag nichts anderes, als auf die Schnepfenjagd zu gehen – allerdings ohne Erfolg –, durch die Wälder zu reiten, Spazierfahrten zu machen etc. Zu Hause plauderte man im Mondschein mit den jungen Damen in der Fensternische oder streifte mit ihnen am Ufer des Meeres umher, während der Mond die plätschernden Wogen in Silber tauchte ... Leider ist es bei solchen Gelegenheiten bekanntlich ja immer so, dass der Heimweg so verflixt kurz ist und der Kutscher so schnell fährt, als gelte es, die Hebamme zu holen. Aber wie lange war Adam schon im Paradies?«

      5

      Ganz so wie Adam im Paradies ging es Wilhelm Dinesen auch, als er auf Katholm heranwuchs. Während sich der Vater distanziert und streng zeigte, war seine Mutter Alvilde hingegen voller Zärtlichkeit. Allerdings war sie meist mit den Mädchen und mit der Aufsicht über das viele Personal im Hause beschäftigt. Daher war Wilhelm weitgehend sich selbst überlassen – und er war oft und gern allein.

      Trotz der vielen Bediensteten konnte er ungestört durch die langen Gänge mit den dunklen vergoldeten Ledertapeten flitzen, hinein in große helle Räume mit Rokokokommoden, Schreibsekretären und Spiegeln, vorbei an schweren, mit Schnitzereien versehenen Eichenholztüren mit gigantischen sichtbaren Eisenschlössern. Dann ging es weiter, die Treppen hoch und in den großen Rittersaal, der im Winter kalt und menschenleer war und nicht genutzt wurde. Oder er konnte hinaus auf das zu Katholm gehörige Land. Draußen im Freien war er genau das, was er am allerliebsten sein wollte – frei.

      Wilhelms spätere Nichte, Karen Ræder, hat vor dem Hintergrund ihrer intimen Kenntnisse der Familiengeschichte und der Geschichte von Katholm ein lebendiges und treffendes Bild seiner Welt draußen im Freien gezeichnet.

      » ... man musste einfach dort hinauf, um ergriffen das schäumende Meer zu betrachten, das in gewaltiger Brandung über die Sandbänke spülte – ein stolzer Anblick, wie mein Onkel Laurentzius mit Bestimmtheit sagte, wenn wir zusammen über die Wellen hinüber nach Marsk Stigs Insel Hjelm schauten, die sich bei klarem Wetter hoch gegen den Himmel abhob. Ja, das Meer! Wir sagten niemals Kattegat, nur das Meer – so wie die Nordseefischer von ›die See‹ sprechen – das war eine der vielen Herrlichkeiten von Katholm ... Wenn wir nach Katholm kamen, mussten wir sofort hinaus ans Meer, das die östliche Grenze des gesamten Grundstücks bildete. Hier hatte das Meer zwei Reihen von Dünen geschaffen, die einzigen an der gesamten Ostküste Jütlands. Zu Fuß ist es wohl eine Viertelstunde vom Gut zum Meer, das nur vom obersten Stockwerk und den Turmfenstern aus zu sehen ist. Damals ging man übrigens nicht, man lief, wenn es ums Baden ging; durch die Alleen und Tirløvholm und vorbei an dem Knüppeldamm. Dann wurde der Weg sandig, das Brausen des Meeres war deutlicher zu hören, man erreichte die erste Dünenreihe, kletterte an dieser hoch und dann ging es im Lauf über den flachen Abschnitt, auf dem vereinzelt Büsche wilder Rosen, duftende Gagelsträucher, Haferpflaumen, gelbe Strohblumen und einzelne Wacholderbüsche wuchsen ... Diese lange, unfruchtbare Sandfläche mit ihrem spärlichen Graswuchs wurde zur Zeit meines Großvaters für die Schafhaltung genutzt. Es war ein sehr imponierender Anblick, wenn abends der Schäfer die etwa 300 Schafe heim zum Hof trieb.«

      Die schöne landschaftliche Umgebung bildete die Grundlage für Wilhelm Dinesens lebenslange Passion für die Jagd und seine Naturbegeisterung. Schon als Halbwüchsiger war er ein eifriger Schütze, der auf Jagd nach Enten, Rebhühnern, Fasanen oder Schnepfen ging und in den Seen Hechte, Schleien und Aale fischte. Während er, wie er es später selbst formulierte, allein umherstreifte, lernte er aus der Natur zu lesen und sie zu schätzen. Er lernte ihre Rhythmen kennen, ihre Laute, ihre Gerüche, ihre Vielfalt. Von Kindesbeinen an kannte er alle Pflanzen- und Tierarten in diesem Universum, vom Birkhuhn bis zum Dachs, vom Milan bis zum Baumfalken, der die Schwalbe im Flug schlägt. Er genoss den Klang des rieselnden Baches; er sah Tropfen von Schneewehen perlen, er pflückte Brunnenkresse auf den Böschungen, er sog die Luft und die sengenden Strahlen der Sonne in sich auf. Ja, er kannte schnell seinen Wald, seine Quellen, seine Buchenhecken, seine Tannendickichte, und er kannte besonders die Dünen, die sich die Küste entlangzogen, ihre Kämme und ihre mit Strandhafer bewachsenen Hänge.

      Über dieses Meer, das Kattegat, spähte der kleine Wilhelm oft stundenlang. »Ich sitze auf dem Kamm der Düne. Ich habe Zeit ...«, schrieb er später. Sowohl als Kind wie auch später als Erwachsener war er ein wahrer Tagträumer.

      Es gibt nur wenige eigenhändige Briefe von A.W. Dinesen, in denen er seinen zweitältesten Sohn Wilhelm erwähnt, darunter einen Brief an Laurentzius aus dem Jahr 1852, als Wilhelm sieben Jahre alt war. Darin schreibt der Vater über Wilhelm, dass er »alle Anzeichen und Anlagen zu einem starken und edlen Charakter zu besitzen scheint«.

      Der Patriarch hatte ihn bisher nicht sonderlich beachtet, aber als der zweitälteste Sohn weiter heranwuchs, begann der Vater zu spüren, dass dieser Sohn einen etwas »zu starken« Charakter hatte. Viele Jahre später schrieb Thomas Dinesen, Wilhelms ältester Sohn, dass »er [Wilhelm] sich als einziger von den Geschwistern nicht dem Gebot seines Vaters gefügt hätte«.

      Und dies, obwohl es im Verlauf der Jahre immer mehr gab, dem man sich fügen musste. Gutsbesitzer Dinesen schien sein Vorbild, den humanen Gutsbesitzer, nach und nach zu vergessen und entwickelte sich mit zunehmendem Alter zu einem gnadenlosen Alleinherrscher. »Er war stets gut und liebevoll gegenüber den folgsamen Kindern und ein ausgezeichneter Helfer, wenn Menschen in Schwierigkeiten waren«, schrieb Thomas Dinesen über seinen Großvater, »aber er hielt es für selbstverständlich, dass man ihn bei jeglicher Zusammenkunft als die Nummer Eins anerkannte, er riss ein Fenster auf, um einen Stalljungen wütend anzubrüllen, der ohne jeglichen Fehl seine Arbeit versah, und er konnte gnadenlos jeden hinauswerfen, mit dem er nicht zufrieden war. Abends ... saß er an seinem Schreibtisch, mit einer Kerze an jedem Tischende, während ein Sohn oder zwei, fünf bis sechs Töchter, der Lehrling, das Kindermädchen etc. im Saal von Katholm um den großen Tisch herum saßen mit nur einer Kerze mitten auf dem Tisch.«

      Von anderen Gutsherren und Offizieren wurde A.W. Dinesen für seine Selbstsicherheit, sein fortschrittliches Denken und für seine Visionen bewundert. Von seinen Kindern und allen anderen, die unter ihm standen, wurde er dagegen gefürchtet. Selbstironie war nicht gerade eine Gabe des Gutsbesitzers. Wilhelms Schwester Anna berichtete später über den Vater, dass »sein Fehler eine gewaltsame aufbrausende Art war; und besonders wenn er auf den Arm genommen wurde – oder dies nur glaubte –, konnte er wild werden. Das Merkwürdige war, dass er selbst es gar nicht bemerkte, wenn er so aufbrausend war. Ich habe ihn sagen hören, er sei, als er ganz jung war, sehr aufbrausend gewesen, jedoch bei einer Gelegenheit vollständig davon kuriert worden. ›Ich war mit einigen Bekannten beim Kegeln. Einer von ihnen beschummelte mich, und ich wurde so wütend, dass ich ihm die Kugel an den Kopf werfen wollte, aber in dem Moment wurde ich von einem älteren Freund am Arm gepackt, der hinter mir stand und meine Absicht erkannt hatte. Da wurde mir klar, dass ich mich selbst unglücklich gemacht hätte, wenn ich meinen Vorsatz ausgeführt hätte; ich senkte meinen Arm und ließ die Kugel los, und seither bin ich nie mehr aufbrausend gewesene.‹«

      So sah es der Patriarch selbst. Seine Kinder sahen es anders. »Wir ... litten sehr unter Vaters gewaltsamen Ausbrüchen, die mit den Jahren zunahmen, und meinten im Stillen, dass die Heftigkeit wohl kaum gezähmt war, aber wir wagten es ja nicht, dies laut zu sagen«, berichtete Anna.

      Zwar wagte auch Wilhelm nicht, laut


Скачать книгу