Feuer und Blut. Tom Buk-Swienty

Feuer und Blut - Tom Buk-Swienty


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der Insel Slotsholmen, Charlottenborg, der Kongens Nytorv und die vornehme Geschäftsstraße Østergade. Die stattliche Amaliegade, die breiteste Straße der Stadt, führte zur Residenz der königlichen Familie, Schloss Amalienborg. Dann gab es noch all die anderen breiten Straßen, die den begüterten Bürgern der Stadt vorbehalten waren: Dronningens Bredgade, Borgergade, Adelgade und Store Kongensgade. Dort lag auch Mariboes Realskole, die Wilhelm Dinesen jetzt besuchen sollte.

      Mariboes Realskole, im Volksmund auch nur Mariboes Schule genannt, war genau nach dem Geschmack seines Vaters. Hier verband man eine neuartige, progressive Pädagogik mit Disziplin.

      Die Schule war 1833 von dem früheren Kopenhagener Großhändler Carl Rudolph Ferdinand Mariboe gegründet worden. Er hatte kein großes Talent für den Handel und war in den 1820er Jahren Bankrott gegangen. Was sich indes als glücklicher Umstand erwies, denn jetzt musste er sich nach einer anderen Betätigung umsehen. Und tatsächlich fand er zu seiner wahren Berufung. Er wurde Übersetzer für Englisch, Deutsch und Französisch und erhielt eine Anstellung als Lehrer an der Borgerdydsskolen (Bürgertugendschule). Drei Jahre später unterrichtete er auch Englisch an der königlichen Militärakademie. Er entdeckte seine starke Leidenschaft für das Englische und erwarb schnell den Titel eines Professors für diese Sprache.

      Doch Carl Mariboe wollte eine eigene Schule gründen. 1832, ein Jahr bevor sein Wunsch Wirklichkeit wurde, war er zu einem längeren Studienaufenthalt in England gewesen, dort hatte ihn das englische Schulsystem fasziniert. Besonders beeindruckt war er von einem der großen Pädagogen der Zeit, einem gewissen James Hamilton. Dessen aufsehenerregende Grundphilosophie beruhte darauf, Sprachen nicht durch Büffeln von Verben und Grammatik zu erlernen, sondern sie stattdessen in organischer Form zu vermitteln. Bei dieser Herangehensweise eignet sich der Schüler die fremde Sprache am besten dadurch an, dass er sie zunächst hört, um dann zu lernen, Texte aus der fremden Sprache wortgetreu in die Muttersprache zu übertragen.

      Carl Mariboes Schule wurde auf der Grundlage dieser völlig neuen Pädagogik gegründet. Sie beinhaltete auch die revolutionäre Idee, dass der Lehrer in dem einzelnen Schüler ein Individuum sehen müsse und der Schüler Anspruch auf die Aufmerksamkeit des Lehrers habe. Der Unterricht sollte also nicht auf Drohungen, Prügel und Paukerei basieren. Dafür erwartete man, dass die Schüler äußerst gute Manieren und Engagement zeigten.

      Geschah dies nicht, was oft der Fall war, wurde der Schüler doch zum Prügelknaben. So meinte ein Lehrer namens J.C.S. Neve, der in Wilhelm Dinesens Schulzeit etliche Jahre Rektor war, dass »eine angebrachte Ohrfeige, wenn der Schüler in flagranti [das hieß in diesem Fall bei schlechtem Betragen] ertappt wurde, eine bessere Wirkung erzielen würde als langes Reden und ausgeklügelte Disziplinarstrafen«.

      Somit herrschte trotz allem eine gewisse Ordnung, was A.W. Dinesen sicherlich gefiel, als er eine Schule für seinen Sohn wählen musste.

      In ihren ersten Jahren war die Schule in einem bescheidenen Gebäude in der Boldhusgade nahe am Frederiksholms Kanal untergebracht. Die Schülerzahlen stiegen aber so schnell, dass sie in andere großzügigere Räumlichkeiten in der vornehmen Store Kongensgade umziehen konnte. Mit ihrem Angebot des allerneuesten Standes auf dem Gebiet der Pädagogik wurde die Schule zu einer Modeerscheinung unter vornehmen und ehrgeizigen Eltern. Gleichzeitig richtete Carl Mariboe es klugerweise so ein, dass die Schule auch als militärische Vorschule für künftige Offiziere diente. Dadurch sicherte er der Schule einen anhaltenden Zustrom von Schülern, ungeachtet der pädagogischen Moden.

      Wilhelm Dinesen hat keine Beschreibungen seiner Schulzeit hinterlassen, aber vor dem Hintergrund der Unterrichtspläne der Schule und anhand von Erinnerungen gleichaltriger Schüler lässt sich ein Eindruck von Wilhelm Dinesens Lehrern und ihren Unterrichtsmethoden gewinnen. In Geografie und Geschichte hatte er Herrn Ipsen. Er war ein »kleiner, dicker Mann von würdigem Aussehen, um seinen Hals trug er eine Schnur mit einem Lorgnon, das ihm ebenso oft auf dem Rücken wie vor der Brust baumelte«, schreibt der ehemalige Schüler Arthur Abrahams in seinen Erinnerungen. »Er hatte ein unglaublich hitziges Gemüt und konnte es in seiner Raserei so weit treiben, dass er sich selbst die Haare raufte und sich an den Ohren zog.«

      Wenn sich dieser Zorn gegen einen undisziplinierten Schüler richtete, konnte es außerordentlich brutal zugehen. Es wurde dann ausgesprochen unangenehm, wie Abrahams sich erinnert: »Ipsen sitzt wie gewöhnlich da und hat die Landkarte vom Tisch bis unters Kinn gezogen. Vor ihm steht ein unglücklicher Sünder, der zum Thema deutsche Geografie aufgerufen ist. Ich kann diese Deutschland-Karte immer noch vor mir sehen; die Farben waren ziemlich blass, nur das kleine Fürstentum Reuß war mit einem sehr kräftigen Rot gekennzeichnet.

      Ipsen: ›Wo liegt Halle?‹

      Der Sünder streckt verlegen den Zeigefinger aus, deutet aber noch nicht auf die Karte.

      Ipsen: ›Zeig es! Zum Teufel, zeig es!‹

      Der Sünder nimmt allen Mut zusammen und setzt seinen Zeigefinger auf Reuß, aber im gleichen Moment bekommt er ein paar hinter die Ohren, dass er auf den Boden purzelt. Als er wieder auf den Beinen steht, sagt er in weinerlichem Ton: ›Ich habe herausgefunden, dass man nach Halle kommt, wenn man von Reuß eine gerade Linie auf der Karte nach oben zieht.‹

      Ipsens einzige Antwort ist: ›Na siehst du, es hat geholfen!‹«

      Bei dem dicken Ipsen mit der Nasenklemmen-Brille sollten Wilhelm Dinesen und seine Klassenkameraden Grundtvigs Historisk børnelærdom (Historisches Wissen für Kinder) auswendig lernen und dann im Unterricht aufsagen. Abrahams zufolge war dies leichter gesagt als getan, »denn es enthielt auf knapp zwanzig Seiten die gesamte Weltgeschichte. Es begann mit den Worten: ›Die ältesten Königreiche der Welt, die Aufsehen erregten, waren das assyrische in Asien und das ägyptische in Afrika.‹«

      Das Heft enthielt auch so erbauliche Aussagen wie »Nero, dieser Abschaum, verfolgte die Christen.«

      Einige Lehrer hatten mehr Humor als andere. Im Fach Schreiben hatte der kleine Wilhelm einen lebhaften Lehrer namens Eduard Bjerring. »Ein großer Teil der Unterrichtsstunde verging damit, dass der Lehrer Schreibfedern für die Schüler spitzen musste«, erinnert sich Abrahams. Die Federn verschlissen schnell und begannen zu klecksen. »Wenn es mitten in der Stunde ertönte: ›Herr Bjerring, meine Feder kleckst!‹, antwortete Bjerring stets mit unerschütterlicher Ruhe: ›Dann klecks zurück, mein Freund!‹«

      An Mariboes Schule gab es ungefähr zweihundert Schüler und gut dreißig Lehrer. Die Tage waren lang. In der ersten Klasse hatte Wilhelm zweiunddreißig Stunden Unterricht in der Woche, in den höheren Klassen zweiundvierzig. Ab der ersten Klasse wurden Dinesen und seine Kameraden in Dänisch, Deutsch, Französisch, Englisch, Geschichte, Geografie, Geometrie, Arithmetik, Naturlehre, Naturgeschichte, Schreiben und Zeichnen unterrichtet.

      In den Unterrichtspausen auf dem Schulhof ging es lebhaft zu. Einer der berühmtesten Absolventen der Schule, der Dichter und Schriftsteller Holger Drachmann, schrieb, dass die meisten Schüler »lebhafte Jungens« waren. In den Pausen »prügelten wir uns, schlossen Freundschaften ... und es wurden alle möglichen Streiche ausgeheckt. Es war eine richtige Jungenschule«. Und wie er sich erinnert, war es auch in erster Linie »eine aristokratische Schule«. Der dänische Kronprinz und der spätere König von Griechenland besuchten ebenfalls diese Schule.

      Wilhelm Dinesen hatte keinen weiten Schulweg. Sein Vater hatte wie erwähnt ein Haus in der Kronprinsessegade gekauft. Es lag so nahe an der Schule, dass Wilhelm nur die Dronningens Tværgade hinuntergehen und dann links in die Store Kongensgade einbiegen musste, und schon war er da.

      Die Kronprinsessegade war – natürlich – eine der exklusivsten Straßen der Stadt. Sie war bekannt für ihre dreistöckigen Gebäude in harmonischem, klassizistischem Stil mit ebenmäßigen Fassaden. Die Gebäude waren nach der großen Feuersbrunst Kopenhagens im Jahr 1795 erbaut worden. In der Kronprinsessegade schien das lärmende, überfüllte, von Menschen wimmelnde Kopenhagen weit weg zu sein.

      Von den Wohnungen in den obersten Etagen hatte man Aussicht auf Schloss Rosenborg und auf etwas ganz Ungewöhnliches, eine Grünanlage mitten in der Stadt – Kongens Have, ein großer, einladender Park. Man konnte ihn direkt von der Kronprinsessegade aus betreten. Entlang des Gitters,


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