Amos. Rainer Kessler
Städte Tyrus und Sidon in Joel 4,4–6 der Vorwurf erhoben, Judäer und Judäerinnen als Sklaven nach Griechenland verkauft zu haben. Aber Beziehungen der Phönizier nach Edom sind sonst nicht belegt. Vielleicht ist wegen der Übereinstimmung des Wortlauts mit der Philisterstrophe an eine Art Zwischenhandel gedacht.44 Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass mit Edom nicht der südliche Nachbar Judas gemeint ist, sondern der Name „typologisch“ gebraucht wird,45 indem „Edom“ für den Feind schlechthin steht (siehe unten die Ausführungen zur Edomstrophe).
Ohnehin verschiebt sich gegenüber der Philisterstrophe das Gewicht des Vorwurfs durch den Nachsatz der Beschuldigung: „ohne an den Bruderbund zu denken“. Damit ist wohl an die vielleicht in den Bereich der Legende gehörenden Beziehungen Salomos, den Hiram von Tyrus „mein Bruder“ nennt (1 Kön 9,13), gedacht. Das Verbrechen von Tyrus, das der Sache nach mit dem identisch ist, was den Philistern vorgehalten wird, erhält dadurch ein besonderes Gewicht, dass es gegen einen Vertragspartner begangen wurde.
1,10Die Strafandrohung, das Element 4, hier ohne weitere Entfaltung, stimmt ebenfalls mit der Philisterstrophe überein. Einzig der Name der bedrohten Stadt ist ausgetauscht: „So schicke ich Feuer gegen die Stadtmauer von Gaza (V. 7) / Tyrus (V. 10), damit es seine Paläste frisst“.
IV: 1,11–12 – Edom
1,11War in der Philister- und Tyrusstrophe Edom als Empfänger exilierter oder in die Sklaverei verkaufter Bevölkerungsteile schon in den Blick gekommen, so wird ihm nun eine eigene Strophe gewidmet. Sie ist in Kurzform gehalten. Jedoch ist der mit על (ʿal) und Partizip eingeleitete Vorwurf um eine zweite Zeile ergänzt (wie sonst nur noch in der Judastrophe).
Wie in der Tyrusstrophe wird bei Edom an ein Bruderverhältnis gegenüber Israel erinnert. Allerdings ist der Vorwurf gesteigert. Bei Tyrus geht es nur um die Nichtbeachtung eines Vertragsverhältnisses. Bei Edom dagegen liegt aktives Vorgehen vor: Verfolgung mit dem Schwert, Zorn und Wut ohne Ende.
Die gesteigerte Schärfe des Vorwurfs gegen Edom ist auf zwei Ursachen zurückzuführen. Die erste liegt in der historischen Erfahrung. Bereits aus der Königszeit sind militärische Auseinandersetzungen zwischen Juda und Edom bekannt (2 Kön 8,20–22; 14,7.10). Viel breiter gestreut aber sind Texte mit Hinweisen darauf, dass sich die Edomiter im Zusammenhang der neubabylonischen Eroberung und Zerstörung von Juda und Jerusalem unsolidarisch verhalten, Land angeeignet und Geflohene ausgeliefert haben (Ez 25,12; 35,5.10; Joel 4,19; Ob 10–14; Ps 137,7). Der Wortlaut von Am 1,11–12 freilich lässt keinen Rückschluss darauf zu, welche historische Situation gemeint ist.
Zum Zweiten ist die Schärfe des Vorwurfs gegen Edom darauf zurückzuführen, dass das Bruderverhältnis Israels zu Edom ein anderes ist als das mit Tyrus. Bei Tyrus geht es nur um eine diplomatische Beziehung. Dagegen gelten Edom und Israel über ihre Stammväter Esau und Jakob als Zwillingsbrüder (so in der Erzählung von Gen 25–36). Immer wieder erinnern spätere Texte an diese Bruderbeziehung (Num 20,14; Dtn 2,4; 23,8; Ob 10.12; Mal 1,2–3). Es ist wohl die Verbindung der Erinnerung an ein enges Zwillingsbruderverhältnis mit der Erfahrung historischer Feindschaft, aus der der besondere Hass vieler alttestamentlicher Edomtexte zu erklären ist (vgl. neben den genannten noch Jes 34; 63,1–6; Jer 49,7–22; Klgl 4,21). Er geht so weit, dass in nachalttestamentlichen Texten Edom für den Feind schlechthin und – verhüllend – für Rom stehen kann. So weit ist es freilich in Am 1,11–12 noch nicht. Edom ist eines der genannten Nachbarvölker, auch wenn sein Vergehen durch die Erinnerung an das Bruder- und Vertragsverhältnis (vgl. dazu oben die Bemerkung zum Text von V. 11) besonderes Gewicht erhält.
1,12In der Androhung von V. 12 steht an erster Stelle Teman, gegen das Jhwh Feuer schickt, dessen Ziel die Paläste Bozras sind. Auch wenn Teman eigentlich eine Teilgröße von Edom ist (Gen 36,11.15.34.42; Ez 25,13; 1 Chr 1,36.45.53), wird es hier pars pro toto für Edom als Ganzes gebraucht (vgl. Jer 49,7; Ob 9). Ähnlich verhält es sich mit Bozra. Es ist eine unter mehreren Städten in Edom (Gen 36,33 = 1 Chr 1,44), die aber, wenn sie im ausschließlichen Parallelismus von Edom par. Bozra gebraucht (Jes 34,6; 63,1; Jer 49,22) oder als einzige Stadt Edoms genannt (Jer 49,13) wird, als dessen Hauptstadt gilt. Festzuhalten ist, dass auch in dieser wie in allen Strophen mit den Palästen die Wohnstätten der Herrschenden Ziel des göttlichen Eingreifens sind.
V: 1,13–15 – Ammoniter
1,13Mit der Ammoniterstrophe beginnt ein weiteres Paar von Langstrophen. Die Ammoniter, die östlich von Jordan und Totem Meer leben (in der heutigen jordanischen Hauptstadt Amman ist ihr Name erhalten), grenzen südlich an das ostjordanische Gilead an, dessen nördlicher Nachbar der Aramäerstaat von Damaskus ist. Das ihnen vorgeworfene Verbrechen richtet sich wie das der Damaskusstrophe gegen Gilead. Der Vorwurf umfasst zwei Aspekte: die Grausamkeit der Kriegsführung und das Ziel der territorialen Erweiterung. Dass die Ausdehnung des eigenen Herrschaftsgebiets ein vorrangiges Kriegsziel der meisten damaligen Kriege war, geht aus zahlreichen Texten des Alten Testaments wie auch der Nachbarn Israels und Judas, etwa der Mescha-Stele, hervor. Das macht es auch unmöglich, das in Am 1,13–15 angesprochene Ereignis historisch einzugrenzen. Das Aufschlitzen der Bäuche schwangerer Frauen, um Mutter und Kind zu töten, wird immer wieder genannt. In 2 Kön 8,12 wird es als Vorwurf gegen Hasael von Damaskus erhoben. Es wird hier als verwerfliches Kriegsverbrechen angeklagt.
Gleichwohl hat selbst dieser Zug einer in unseren Augen barbarischen Kriegsführung einen ambivalenten Charakter. Denn in einem sogenannten Heldenlied wird ein ungenannter assyrischer Herrscher, wahrscheinlich Tiglatpileser I. (1114–1067 v. Chr.), dafür gerühmt, dass er solche Grausamkeiten begeht: „Er zerfetzte das Innere der Schwangeren, durchbohrte die Schwachen. Ihren Mächtigen schnitt er die Hälse ab.“ “He slits the wombs of pregnant women; he blinds the infants; / He cuts the throats of their strong ones.”46 Wie bei den Vorwürfen gegen Aramäer und Philister kommt es darauf an, aus welchem Blickwinkel man das Geschehen betrachtet. Kriegsgräuel erscheinen sowohl als Klage der Unterlegenen als auch als Selbstruhm der Sieger.
Wird die Härte der Kriegsführung wie hier aus der Perspektive der Opfer heraus kritisiert, tritt ein Effekt ein, den wir schon bei der Damaskusstrophe beobachten konnten. Dort wurde den Aramäern vorgeworfen, dass „sie Gilead mit eisernen Dreschschlitten gedroschen“ hätten (V. 3). Wenn solches „Dreschen“ als Vorwurf gegen ein anderes Volk erhoben wird, trifft dies dann nicht auch Israel selbst (vgl. (Jes 41,15; Mi 4,13)? Dasselbe gilt auch für den Vorwurf, Schwangeren den Bauch aufzuschlitzen. Wenn der israelitische König Menahem nach einer Notiz in 2 Kön 15,16 im Kampf um den Thron die Frauen der eroberten Stadt Tifsach aufschlitzen ließ, handelt er genauso verwerflich wie eines der Nachbarvölker.
1,14Ziel der Strafhandlung ist die ammonitische Hauptstadt Rabba, das heutige Amman. Was die vorangehenden Strophen mit dem wiederkehrenden Motiv des Feuers gegen Stadtmauer und Paläste und den jeweiligen Erweiterungen schon deutlich machten, wird hier ausgesprochen: Es geht um angekündigte kriegerische Handlungen gegen die bedrohte Größe. Wie durchgängig wird auch hier nicht gesagt, wer den zerstörenden Krieg führen wird. Eigentliches Subjekt ist natürlich Jhwh, der das Feuer an die Mauer legt. Aber wer in seinem Auftrag Krieg führt, bleibt offen. Rhetorisch aktiviert eine solche Leerstelle die Phantasie derer, die einen solchen Text hören oder lesen. Sind Werkzeug Jhwhs die Israeliten, die Rache nehmen an ihren Nachbarn? Oder ist es eine der Großmächte der Zeit, die Assyrer oder Babylonier, die Israels Nachbarvölker auf ihren Eroberungszügen heimsuchen werden? Der Text lässt die Antwort offen.
1,15Noch eindeutiger als in den vorangehenden Strophen wird gesagt, dass die Katastrophe für die Ammoniter primär deren herrschende Schicht trifft. V. 15 nennt „ihren König“ und „seine שׂרים (śārîm)“, was Luther mit „Fürsten“ wiedergab, was aber eher „Beamte“47 oder „Würdenträger“ meint. Der König als Spitze und seine Beamten als engstes Machtgremium bilden die Führungselite damaliger westasiatischer Staaten. So erscheint es bei Salomo, wo „der König“ und „die Beamten, die er hatte“, aufgezählt werden (1 Kön 4,1–2), so verhält es sich in den Jeremiaerzählungen (vgl. etwa die Konstellation in Jer 36,21, wo Jeremias Schriftrolle „dem König und allen Beamten, die beim König standen“, vorgelesen