Amos. Rainer Kessler
zumal wenn daraus weitreichende Folgerungen für die Entstehung des Amosbuches gezogen werden.
Nach einer ersten Position ist das „es“ auf die Gerichtsansage in dem voranstehenden Vers 1,2 zurückzubeziehen,17 wenn nicht gar auf die Vokabel „seine Stimme“ in diesem Vers.18 Literargeschichtlich lässt sich daraus ableiten, dass die Völkersprüche einer späten Redaktionsstufe angehören müssen, wenn nämlich 1,2 selbst „einer das ganze Buch umspannenden Kompositionsebene“ angehört und zugleich integraler Bestandteil des Völkerspruchzyklus ist.19 Voraussetzung dieser Argumentation aber ist, dass das „ich nehme es nicht zurück“ sich auf 1,2 zurückbezieht. Doch V. 2 spricht von einem Handeln Jhwhs, dessen Folgen bis zum Gipfel des Karmel reichen. Das ist gerade nicht die Völkerperspektive, die in 1,3 – 2,16 eingenommen wird. Vor allem aber nimmt der Rückbezug auf V. 2 den Sprecherwechsel zwischen V. 2 und V. 3 nicht ernst. In V. 2 hat Amos das Wort und kündigt Jhwhs Gericht an. In V. 3 spricht Jhwh selbst, wenn auch durch den Mund des Amos. Es ist ganz unwahrscheinlich, dass der Text meint, Jhwh beziehe sich mit einem Suffix „es“ auf das Wort des Propheten zurück.20
Alternativ nimmt Jörg Jeremias einen Bezug der Formulierung „ich nehme es nicht zurück“ auf die Visionsberichte mit ihrem „Ich kann nicht länger an ihm vorübergehen“ (7,8; 8,2) an.21 Es sei vor allem die negative Formulierung mit „nicht“, die ins Auge falle: „Die Hervorhebung der Unwiderruflichkeit des göttlichen Beschlusses ist ja nur dort sinnvoll, wo mit einem potentiellen Widerruf gerechnet werden kann.“22 Ein solcher sei bei den Völkersprüchen gar nicht zu erwarten, sondern erkläre sich nur aus den Visionen mit ihrer Bewegung von der anfänglichen Vergebungsbereitschaft hin zur Unwiderruflichkeit. Jeremias folgert daraus, „daß Völkersprüche und Visionsberichte als schriftliche Kompositionen kaum unabhängig voneinander entstanden sein können, sondern sehr wahrscheinlich bewußt aufeinander zu gestaltet worden sind, um sich gegenseitig zu interpretieren.“ Und einen Schritt weiter gehend: „Rechnet man mit einer eigenen Sammlung von Völkersprüchen und Visionsberichten, so spricht allerdings … alle Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Reihenfolge beider literarischer Kompositionen ursprünglich umgekehrt war.“23 Allerdings beruhen diese Folgerungen nicht nur auf der Exegese des „ich nehme es nicht zurück“ der Völkersprüche, sondern auch auf einer Auffassung des Visionsberichts, der diesen in enger formaler Parallele zu den Völkersprüchen sieht, was sich bei der Auslegung als fraglich erweisen wird. Hier geht es zunächst nur um das 2. Formelement der Völkersprüche, das durchaus aus sich heraus verständlich ist und auf dem man deshalb keine allzu weitreichenden literarhistorischen Gebäude errichten sollte.
Die Variable in allen Ausführungen des 2. Formelements ist der Name der Stadt, des Landes oder des Volkes, gegen die Jhwh vorgehen will. In der ersten Strophe ist dies Damaskus. Die Stadt, die erstmalig im 15. Jh. v. Chr. in einer Liste Thutmosis III. im Amun-Tempel von Karnak erwähnt wird,24 steht für den mächtigen Aramäerstaat, dessen Hauptstadt sie bildete. 733/732 wurde Damaskus von den Assyrern zerstört und in ihr Provinzsystem eingegliedert.25 Der Spruch in Am 1,3–5 setzt den noch selbstständigen Staat von Aram-Damaskus voraus und zielt auf die Epoche vor seiner Vernichtung.
Das nun anschließende 3. Formelement benennt das Verbrechen von Damaskus, dessentwegen Jhwh „es nicht zurücknimmt“: „weil sie Gilead mit eisernen Dreschschlitten gedroschen haben.“ Hier wie in allen folgenden Strophen wechselt der Numerus vom Singular zum Plural. Im Singular wird eine kollektive Größe bedroht. Aber nicht eine unpersönliche geographische Einheit, sondern konkrete Menschen haben die ihnen angelasteten Verbrechen begangen. Deshalb geht es in der 3. Person Plural weiter.
Gilead, im nördlichen Ostjordanland gelegen, war in der 2. Hälfte des 9. Jh.s. ein Zankapfel zwischen Israel und den Aramäern von Damaskus, wie aus den Notizen in 2 Kön 8,28f.; 9,14f.; 10,32f.; 13,3–5.25f. hervorgeht (vgl. auch 1 Kön 22,1–40, das aber historisch kaum auswertbar ist). Die in 2 Kön 10,32f. erwähnte Eroberung Gileads und weiter Teile des Ostjordanlands durch die Aramäer dürfte ungefähr um das Jahr 820 v. Chr. anzusetzen sein.26
Dass es bei kriegerischen Auseinandersetzungen zur Gewaltanwendung kommt, liegt in der Natur der Sache. Wenn es hier heißt, die Aramäer hätten „Gilead mit eisernen Dreschschlitten gedroschen“, soll gewiss eine besondere Brutalität der Gewaltanwendung zum Ausdruck gebracht werden. Dennoch ist zu beachten, dass die Aussage, ein Herrscher „dresche“ die Feinde, in sich ambivalent ist. In neuassyrischen Inschriften ist die Metapher Teil der Selbstpräsentation des Königs. Sowohl Assurnasirpal II. (883–859 v. Chr.) als auch Tiglatpileser III. (744–727 v. Chr.) werden dafür gerühmt, ihre Feinde zu „dreschen“. Beide Texte gebrauchen das akkadische Äquivalent für das hebräische דושׁ (dûš = dreschen), nämlich dâšu. In den Vasallenverträgen Asarhaddons (680–669 v. Chr.) wird von der Gottheit erwartet, dass sie die Feinde mit „eisernen Dreschschlitten“ drischt. Der akkadische Ausdruck für den Dreschschlitten, epinni ša parzilli, entspricht genau dem hebräischen ḥaruṣôt habbarzæl, das in Am 1,3 steht.27 Auf das Phänomen, dass im Völkergedicht Taten, deren sich mächtige Könige rühmen können, als „Verbrechen“ denunziert werden, müssen wir unten noch zurückkommen.
Und ein Weiteres ist zu beachten. Zwar wird hier wie an anderer Stelle (2 Kön 13,7) eine fremde Macht des „Dreschens“ bezichtigt. Aber es finden sich auch prophetische Ansagen, in denen die Fähigkeit, mit scharfen Klingen am Dreschschlitten zu dreschen, durchaus positiv als Verheißung für Israel erscheint (Jes 41,15; vgl. Mi 4,13). Auch auf die Möglichkeit, dass der Vorwurf der Gewalttätigkeit, wenn er gegen die Feinde Israels erhoben wird, auf Israel selbst zurückfallen könnte, werden wir noch zurückkommen müssen.
1,4Das 4. Formelement, das in allen Strophen bis auf die Israelstrophe vorkommt und hier in V. 4 vorliegt, kündigt nun Jhwhs strafendes Eingreifen an: „So schicke ich Feuer gegen das Haus Hasaels, damit es die Paläste Ben-Hadads frisst.“ Durchgängig ist Feuer das Strafwerkzeug. Dahinter steht der Gedanke, dass Jhwh eine besondere Affinität zum Feuer hat. Er erscheint im Feuer (Ex 19,18). Er verfügt über das Feuer, um strafend einzugreifen (Gen 19,24), was dann auch der Gottesmann in seinem Namen vermag (2 Kön 1,9–16). Feuer frisst aus Gottes Mund (Ps 18,9), seine Stimme sprüht Feuerflammen (Ps 29,7). Wer solche Macht über das Feuer hat, kann es auch zum Strafen einsetzen, auch wenn nicht näher ausgeführt wird, wie man sich das Auftreten des Feuers vorstellen soll: als Feuerregen vom Himmel oder eher als Feuer, das feindliche Soldaten legen und dessen Herkunft auf Jhwh zurückgeführt wird.
Wichtiger als die Frage nach seiner Herkunft ist die, worauf das Feuer zielt: Es sind die Symbole der Herrschaft, das „Haus Hasaels“ und die „Paläste Ben-Hadads“. Mit Hasael muss der wohl 842/841 v. Chr. wahrscheinlich als Usurpator an die Macht gekommene aramäische König gemeint sein (vgl. 2 Kön 8,7–15), der wie erwähnt Gilead und das Ostjordanland erobert hat (2 Kön 10,32f.). Der an zweiter Stelle genannte Ben-Hadad, in der Bibel ein häufiger Name für Aramäerkönige (vgl. 1 Kön 15,18 mit 2 Chr 16,2.4; 1 Kön 20; 2 Kön 6,24), ist dann wohl Hasaels Sohn und Nachfolger (2 Kön 13,24f.).28 Der Parallelismus bei den Namen legt nahe, dass beim „Haus“ wie bei den „Palästen“ an die jeweiligen Gebäude gedacht ist (und nicht etwa übertragen an die „Dynastie“, was beim Haus gut möglich wäre). Sie als die Symbole der Macht der Aramäerkönige sollen von dem Feuer, das Jhwh schickt, verzehrt werden.
1,5Mit V. 5 kommen wir zum 5. Formelement, bestehend aus vier Halbzeilen weiterer Drohungen gegen Damaskus. Die erste heißt: „Ich zerbreche den Torriegel von Damaskus.“ Die Trias von Mauer, Toren und Riegeln steht für den Schutz einer befestigten Stadt (Dtn 3,5; Ez 38,11; 2 Chr 8,5; in 2 Chr 14,6 noch um die Türme ergänzt). Auch nur zwei dieser Abwehrmittel, Tore und Riegel (1 Sam 23,7) oder Mauern und Riegel (1 Kön 4,13), können genannt sein. Und wenn wie in Am 1,5 nur der Riegel erwähnt wird, steht er pars pro toto für die Befestigung der Stadt. Wird der Riegel zerbrochen (so mit derselben Wurzel wie hier in Jer 51,30) oder auf andere Weise zerstört (Jes 45,2; Nah 3,13; Ps 107,16), dann ist die Stadt den Eroberern schutzlos ausgeliefert.
V. 5aβ und γ nennen als nächstes in chiastischer Stellung zwei Herrschergestalten. In V. 5aβ ist der Bezug auf einen Herrscher