Amos. Rainer Kessler

Amos - Rainer Kessler


Скачать книгу
aus Ägypten. Es handelt sich um Inschriften aus der Zeit zwischen 1850 und 1750 v. Chr., die auf Figurinen geschrieben sind, welche feindliche Herrscher darstellen. Indem diese Figurinen rituell zerschmettert wurden, sollte in einer Analogiehandlung den realen Herrschern dasselbe Schicksal zugefügt werden.10 Dem liegt ein ungetrübtes Denken in den Kategorien Wir und die Anderen zugrunde.

      Eine erste Irritation dieser Lesart tritt mit der VI. Strophe ein. Die Gewalttat Moabs besteht in der Schändung des toten Edomiterkönigs. Hier liegt ein Verstoß gegen internationales Gewohnheitsrecht vor, ohne dass von Juda oder Israel auch nur die Rede wäre. Liegt die Stoßrichtung der ersten Strophen dann wirklich darin – wie man zunächst vermuten muss –, dass Juda und Israel betroffen sind? Oder geht es auch in ihnen nicht eher grundsätzlich um Kriegsverbrechen?11 Das würde bedeuten, dass gleiche Kriegsverbrechen, wenn sie von Juda oder Israel begangen werden, auch verurteilt werden müssten. Inwieweit eine solche Lesart möglich ist, wird die Einzelauslegung zeigen müssen.

      Endgültig unmöglich wird die triumphalistische Lesart der Fremdvölkerstrophen mit dem Übergang zu Juda und Israel. Wer bis zur V. oder gar VI. Strophe dachte, es ginge gegen die Vergehen der Nachbarvölker, merkt jetzt, dass das Ziel ein anderes ist. Ziel des ganzen Gedichts sind Juda und vor allem Israel mit der unvergleichlich langen Strophe (elf statt der maximal drei Verse bei den übrigen Strophen).

      Mit der Erreichung des Zieles ändern sich auch die Vorwürfe. Geht es bei den Völkern um Kriegsverbrechen, so bei Juda um die Verwerfung der Tora und bei Israel um soziale Gewalt gegen die Geringen und Schwachen innerhalb der eigenen Gesellschaft. Eine bemerkenswerte Veränderung tritt auch in der Zeitstufe des Geschehens ein, das den jeweiligen Größen vorgehalten wird. Bei den Völkern und auch noch bei Juda sind es Ereignisse der Vergangenheit, wie die qatal- bzw. wajjiqtol-Formen zeigen (qatal: 1,9.11; 2,4; wajjiqtol: 1,11; 2,4). In der Israelstrophe stehen dagegen die Vorwürfe sozialer Verbrechen im jiqtol (2,7–8); sie finden in der Gegenwart statt und dauern fort.

      Wenn das eigentliche Ziel des Gedichts Juda und Israel sind, muss man fragen, welche Bedeutung dann die Völkerstrophen haben. Ihre Funktion kann nicht sein, mit der Androhung von Unheil für die Völker die Ankündigung von Heil für Juda und Israel vorzubereiten (wie man es – ob zu Recht oder Unrecht, bleibe dahingestellt! – bei anderen Prophetenbüchern vermutet). Denn die Juda- und Israelstrophe kennen kein Heil für das Volk Gottes.

      Die Einbettung der Vorwürfe gegen Juda und Israel in ein Völkergedicht dient zwei Zwecken. Zum Ersten wird damit die universale Weite des Wirkens Jhwhs zum Ausdruck gebracht. Dies ist wichtig für die Gesamtanlage des Amosbuches. Denn mit 3,1f. folgt direkt nach dem Völkergedicht zunächst eine Engführung auf Israel und dessen Erwählung. Erst der Beginn des Amos-Schlusses in 9,7 nimmt das Motiv der Erwählung Israels wieder auf, stellt es nun aber in den Rahmen eines universalen Handelns Jhwhs. Auf diese Weise wird ein Rahmen um Am 3,1 – 9,6 gelegt. Seine Aussage ist: Amos ist zwar zu Israel gesandt, aber dieser Fokus bedeutet nicht, dass Jhwh nicht über Israel hinaus wirkte.

      Der zweite Grund für die Zusammenstellung von Völkerstrophen und Juda- und Israelstrophe liegt darin, dass sie den Aussagen gegen Juda und Israel eine zusätzliche Schärfe gibt. Verschmähen der Tora und soziale Ungerechtigkeit liegen auf einer Ebene mit den Kriegsverbrechen der Völker. Das Aufschlitzen von Schwangeren im Krieg (1,13) und der Verkauf Armer in die Sklaverei (2,6) sind zwar nicht dasselbe. Aber sie haben dasselbe Gewicht und rufen gleichermaßen Gottes vernichtendes Eingreifen hervor.

      Einen dritten Grund für die Zusammenstellung der Völkerstrophen mit den Strophen gegen Juda und Israel sieht Jeremy Hutton im gemeinsamen ökonomischen Hintergrund. Er sei gekennzeichnet einerseits durch Ausweitung des Fernhandels im Interesse der Eliten, die andrerseits die lokale Subsistenzwirtschaft zerstörten. Die Sprüche gegen die Völker, in denen es immer um Grenzkonflikte bzw. Konflikte zwischen Staaten geht, versteht Hutton als Ausdruck des Kampfes um die Beherrschung der großen Handelsrouten. Dem entsprächen in der Israelstrophe die Vorwürfe wegen der Unterdrückung der ökonomisch Schwachen: „It was precisely the upper class’s participation in and hegemony over the avenues of international, long-distance trade that permitted their exploitation of the smaller-scale regional subsistence economies embedded in the geographically and topographically confined subregions of the Levant.“12 Allerdings kommt es in den Völkerstrophen allenfalls indirekt zum Ausdruck, dass es dabei um den Kampf um die internationalen Handelsstraßen gehen könnte.

      I: 1,3–5 – Damaskus

      1,3Die Strophe beginnt wie alle weiteren mit dem 1. Formelement, der Formel כה אמר יהוה (koh ʾāmar yhwh) – „So spricht Jhwh“. Im Buchkontext spricht Amos diese Worte. Denn nachdem der Buchautor in 1,1 alles Folgende als „die Worte des Amos“ bezeichnet hatte, hatte er in 1,2 diesem das Wort gegeben: „Und er sagte“. Diese Amosrede geht nun weiter, indem Amos sich seinerseits unter die Autorität Jhwhs stellt. Amos’ Worte haben das Gewicht von Gottesworten. Dass das gesamte Völkergedicht Jhwh-Rede ist, wird dadurch unterstrichen, dass in jeder Strophe das letzte Formelement auf das erste zurückgreift: אמר יהוה (ʾāmar yhwh) – „spricht Jhwh“. Die Gesamtkomposition wird zudem in 2,16 mit נאם־יהוה (neʾūm-jhwh) – „Spruch Jhwhs“ abgeschlossen und von dem folgenden Höraufruf im Mund des Amos abgegrenzt (3,1).

      Auch das 2. Formelement ist allen Strophen des Gedichts gemeinsam. Es heißt: על־שׁלשה פשׁעי ״ ועל־ארבעה לא אשׁיבנו (ʿal-šelōšāh pišʿēj x weʿal-ʿarbāʿāh lōʾ ʾašîbænnû) – „Wegen der drei Verbrechen von X und wegen der vier nehme ich es nicht zurück“. Es bedient sich der weisheitlichen Form des gestaffelten Zahlenspruchs, der mit der Steigerung von x zu x+1 operiert. Ein klassisches Beispiel ist Spr 30,18–19 (vgl. auch 30,15b.16; 30,21–23; 30,29–31):

      Drei Dinge sind mir zu wunderbar / und vier, die ich nicht verstehe:

      Der Weg des Geiers am Himmel, / der Weg einer Schlange auf dem Felsen,

      der Weg eines Schiffes mitten auf dem Meer /

      und der Weg des Mannes bei der jungen Frau.

      Allerdings führen die Strophen des Amos-Gedichts jeweils nur das vierte Element aus. Erst die Israel-Strophe als Höhepunkt nennt dann tatsächlich vier Verbrechen.

      Für „Verbrechen“ wird die Vokabel פשׁע (pæšaʿ) verwendet. Diese hat ein breites Spektrum. Sie bezeichnet Vergehen zwischen einzelnen Menschen (1 Sam 24,12; 25,28; Ps 5,11 u. ö.), gelegentlich auch innerhalb einer Familie (Gen 31,36; 50,17). Sie kann einen engen juristischen Sinn haben (Ex 22,8). Das Verb פשׁע (pāšaʿ) kommt auch in der „language of politics“13 vor und bezeichnet da die Rebellion gegen einen Oberherren (1 Kön 12,19; 2 Kön 1,1; 3,5 u. ö.). פשׁע (pæšaʿ) kann aber auch in einer weiten Bedeutung für jegliches Vergehen gegen Gott gebraucht werden (Ex 23,21; 34,7; Lev 16,16 u. ö.). Der Gegenbegriff wäre ein Verhalten, das mit „Gerechtigkeit“ zu umschreiben ist (so deutlich in Ez 18,22; 33,12), und Gerechtigkeit wiederum ist nicht so sehr in der Befolgung bestimmter Normen zu suchen, sondern besteht in einem Verhalten, das der Gemeinschaft der Menschen untereinander und gegenüber Gott förderlich ist. Für die nach dem Durchgang durch das Gedicht zu stellende Frage, welche Maßstäbe Amos bei der Verurteilung der Völker und Israels anlegt, wird darauf zurückzukommen sein.

      Der rätselhafteste Teil des 2. Formelements ist Jhwhs Ankündigung: „ich nehme es nicht zurück“. Jede Interpretation hängt an der Deutung des Suffixes in der 3. Person Maskulin Singular. Nun findet sich in Ps 78,38 und Ijob 9,13 auf Gott bezogen die Wendung השׁיב אפו (hēšîb ʾappô) = „seinen Zorn zurücknehmen“.14 In Am 1–2 ist das Objekt „sein Zorn“ durch das Suffix ersetzt, was man im Deutschen mit dem Neutrum „es“ wiedergeben kann. Sachlich gemeint ist die „Unwiderruflichkeit der später ausgeführten Strafansage“.15 Wir haben hier eine „literarische Strategie“ des Textes vor uns, um Aufmerksamkeit zu erreichen. „Die Spannung steigt, indem die kommende Bestrafung zunächst mehrdeutig unbestimmt bleibt, um erst nach der dazwischenstehenden


Скачать книгу