Amos. Rainer Kessler

Amos - Rainer Kessler


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geht“ nicht, dass das Volk der Ammoniter vom „Lärm am Tag des Krieges“, vom „Brausen am Tag des Sturms“ nicht betroffen wäre. Die Aussagen vom „Dreschen mit eisernen Dreschschlitten“ und vom Aufschlitzen der Schwangeren zeigen zur Genüge, dass damalige Kriege so wenig wie heutige ernsthaft zwischen Kombattanten und Zivilisten unterscheiden. Die Völker, ob als Soldaten oder Zivilisten, müssen immer unter den Folgen der Kriege leiden, die die Herrschenden zu verantworten haben. Dennoch ist es für die Völkersprüche und das gesamte folgende Amosbuch wesentlich, dass die Verantwortlichen klar benannt und auch als Erste zur Verantwortung gezogen werden.

      VI: 2,1–3 – Moab

      2,1Als sechstes und letztes Nachbarvolk von Juda und Israel wird Moab genannt. Das Siedlungsgebiet Moabs liegt östlich des Toten Meeres, mit den Ammonitern im Norden und Edom im Süden als Nachbarn.

      Mit der Moab-Strophe tritt ein markanter Wechsel in den Völkersprüchen ein. Alle fünf bisherigen Strophen behandelten Verbrechen, deren Opfer in Israel oder Juda zu suchen waren. So konnte man die ersten fünf Strophen so lesen, dass sie Verbrechen gegen Juda und Israel anklagen und den schuldigen Nachbarn das Strafhandeln des Gottes Israels ankündigen.

      Diese Lesart wird nun durch die Moabstrophe irritiert. Denn Moab werden keine Verbrechen gegen Israel oder Juda, sondern gegen Edom vorgeworfen. Moab habe „die Gebeine des Königs von Edom zu Kalk verbrannt“, also den Leichnam des edomitischen Herrschers geschändet. Die ordentliche Bestattung und die Unverletzlichkeit des Grabes sind in der Antike ein hohes Gut.48 Gräber versucht man auf Inschriften dadurch zu schützen, dass Räuber und Grabschänder mit Flüchen abgeschreckt werden, so in Jerusalem (HAE Jer[7]:1–2), im phönizischen Sidon (KAI 13 und 14) und in den umliegenden Kulturen. Dass die Gräber geöffnet und die Gebeine unter freiem Himmel ausgestreut werden, gilt als schwere Drohung wegen schlimmster Vergehen (Jer 8,1–2). Wenn es hier heißt, man habe die Gebeine „zu Kalk verbrannt“, soll wohl damit „die Wirkung des Feuers als vollständig … charakterisiert“ werden, wie aus der Parallele in Jes 33,12 hervorgeht, wo es heißt, dass „Völker zu Kalk verbrannt werden“.49

      Brutalitäten wurden auch in den vorangehenden Strophen beklagt. Aber in der Moabstrophe ist ein fremder König das Opfer, gar der König eines Landes, das selbst im Völkergedicht beschuldigt und bedroht wird. Damit beginnt das, was in den ersten fünf Strophen offenblieb, sich zu schließen. Man konnte sie so lesen, dass es um die Rachewünsche gegen die ging, die Juda und Israel bedrängten. Schon da lag gelegentlich die Frage nahe, ob sich das dann nicht auch gegen eigenes Verhalten richten müsse. Nach der Moabstrophe wird eine triumphalistische Lesart fast schon unmöglich. Die Brutalität der Anderen wird nicht verurteilt, weil sie gegen Israel gerichtet ist. Sie wird vielmehr verurteilt, weil sie, modern gesprochen, den Charakter eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit hat.

      Eine solche Qualifizierung ist hier so wenig wie in anderen Strophen des Gedichts selbstverständlich. Sie setzt voraus, dass der Prophet die Rolle der Opfer einnimmt. Denn wie das „Dreschen“ von Landschaften oder das Aufschlitzen von Schwangeren kann auch die Schändung von Gräbern auf das Konto der Ruhmestaten eines Königs gebucht werden. Für den assyrischen König Assurbanipal (668 – ca. 630 v. Chr.) ist es ein legitimer Vorgang, die Gräber des Königs von Elam geöffnet zu haben: „I took their bones to the land of Assyria, imposing restlessness upon their ghosts. I deprived them of ancestral offerings (and) libations of water.”50 Solche Heldentaten damaliger Könige werden im Völkergedicht von Am 1–2 durchgängig als Verbrechen gekennzeichnet.

      2,2Die folgenden Elemente des Moabspruchs verbleiben ganz im für die Völkersprüche Üblichen. Wie immer sind durch das Feuer die Paläste bedroht, also die Wohnsitze der Mächtigen. Im Parallelismus zum Land Moab wird die Stadt Kerijot genannt, die also als die Hauptstadt des Landes angesehen wird. Die Stadt findet auf der Stele des moabitischen Königs Mescha aus dem 9. Jh. Erwähnung, wonach sich in ihr ein Heiligtum des Nationalgottes Kemosch befindet.51 Außerdem wird sie in Jer 48,24 in einer Aufzählung moabitischer Städte und in Jer 48,41 als einzige und also wohl wichtigste Stadt des Landes genannt.

      2,3Das 5. Formelement, die Erweiterung durch weitere Drohungen, zeigt zum einen wie bei der Ammoniterstrophe, dass die Katastrophe für Moab durch kriegerische Ereignisse kommt. Zum andern sind wie in den anderen Strophen, die dieses Element enthalten, ausdrücklich die Herrscher als primäres Ziel der Vernichtung genannt, hier der „Regent“ (שׁופט, šôfēṭ). Ihm zur Seite stehen, wie dem König der Ammoniter, „seine Beamten“.

      VII: 2,4–5 – Juda

      2,4Sprüche mit Vernichtungsdrohungen gegen fremde Völker können so verstanden werden, dass in ihnen indirekt dem eigenen Volk Bestand und Zukunft zugesprochen wird, weil eben die Feinde ausgeschaltet sein werden. Dieses Verständnis wird in den ersten sechs Strophen des Zyklus von Am 1–2 noch nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Gewiss irritiert es, dass in der Damaskus- und Ammoniterstrophe den Bedrohten Vergehen vorgehalten werden, die auch in Israel begangen werden, und dass es in der Moabstrophe gar nicht um ein Vergehen geht, das gegen Israel gerichtet ist. Aber mehr als eine Irritation ist das nicht. Das ändert sich schockartig mit den letzten beiden Strophen des Zyklus. Sie sind gegen das eigene Volk gerichtet, gegen Juda und gegen Israel.

      Dass den Größen Juda und Israel je eine eigene Strophe gewidmet ist, zeigt, dass die Situation der Königszeit mit dem Nebeneinander der beiden so benannten Staaten im Auge ist. In dieser Situation verortet bereits die Überschrift den Propheten Amos. Und zum Ende des Buches hin wird sie in der Bet-El-Erzählung erneut vorausgesetzt, indem der Amos dieser Erzählung aus Israel „in das Land Juda“ ausgewiesen wird (7,12). Durch die Überschrift in 1,1 und das Nebeneinander von Juda- und Israelstrophe am Zielpunkt des Völkerzyklus wird zum einen eine Leseanleitung ausgegeben: Wenn im weiteren Text von Israel die Rede ist, ist zunächst von der Vermutung auszugehen, dass damit das Nordreich gemeint ist. Zum andern wird für die Lektüre die Frage mitgegeben, ob es bei Israel und Juda um dieselben Vergehen und Zukunftsaussichten geht, oder ob beide Größen im Blick auf die kritisierten Zustände wie auch auf die Zukunftsperspektiven ein je eigenes Profil haben.

      Was die kritisierten Zustände angeht, lässt bereits die Judastrophe keinerlei Unklarheit zurück: Das, was Juda hier vorgeworfen wird, ist singulär und erscheint so gegenüber Israel nicht. Juda habe, so heißt es, „die Weisung Jhwhs verschmäht und seine Gebote nicht gehalten“. Die Wendung „sie haben die Tora Jhwhs verschmäht“ kommt nur dreimal in der Hebräischen Bibel vor. In Jes 5,24 werden die in den voranstehenden Weherufen (5,8–23) genannten Vergehen zusammengefasst: „Alle Sünden, die mit einem ‚Wehe‘ bedacht worden sind, stehen im Widerspruch zur ‚Tora‘, zum ‚Wort‘ Gottes …“.52 In Jer 6,19 kann sich der göttliche Vorwurf, sie hätten „meine Tora verschmäht“, „entweder auf die zumindest großteils bereits verschriftet vorliegenden Bücher Genesis bis Deuteronomium beziehen, oder aber allgemein auf göttliche Belehrung“.53 An unserer Stelle werden gar keine anderen Vergehen genannt. Der Ausdruck „die Tora Jhwhs“ wird absolut gebraucht. Im Parallelismus steht: „und seine Gebote haben sie nicht gehalten“. Die Phrase vom Halten der Gebote („seine Gebote halten“: שׁמר חקיו, šāmar ḥuqqāw) ist im Deuteronomium geläufig (Dtn 4,40; 6,17; 7,11 u. ö.) und wird in der deuteronomistisch geprägten Literatur aufgegriffen (1 Kön 3,14; 8,58; 9,4 u. ö.). An diesen Stellen ist immer an die schriftlich vorliegende Tora gedacht (in Dtn 17,19 stehen „Tora“ und „Gebote“ auch zusammen).

      Für Am 2,4 heißt dies zweierlei. Zum einen versteht der Text unter der Tora Jhwhs, die Juda missachtet habe, anders als in Jes 5,8–24, nicht nur einzelne Verfehlungen, sondern den zusammengefasst mündlich oder auch schon schriftlich vorliegenden Gotteswillen. Dieser Vorwurf ist so umfassend, dass die anschließende Vernichtungsdrohung verständlich wird. Zum andern aber impliziert der Vorwurf, dass Juda die Tora Jhwhs besitzt und kennt. Es hätte durchaus die Möglichkeit, sie zu halten und, statt sie zu verschmähen, sie zu erwählen. Denn „erwählen“ (בחר, bāḥar1) ist die semantische Opposition zu „verschmähen, verwerfen“ (מאס, māʾas) (2 Kön 23,27; Jes 7,15f.


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