Amos. Rainer Kessler
Alle acht Strophen haben die ersten drei Elemente gemeinsam:
„So spricht Jhwh:
Wegen der drei Verbrechen von X und wegen der vier nehme ich es nicht zurück:
weil sie …“
Außer der Israelstrophe enthalten alle Strophen auch noch das Element vier:
„So schicke ich Feuer gegen X, damit es die Paläste von Y frisst.“
Das fünfte Element, weitere Drohungen in vier Halbzeilen, sowie die abschließende Gottesrede-Formel fehlen in der III., IV. und VII. (sowie der VIII., der Israel-) Strophe. Die IV. und VII. Strophe weichen auch darin vom Schema ab, dass das 3. Element, der Aufweis der Schuld, nicht nur in einer, sondern in zwei Zeilen entfaltet wird; auch hier weicht die Israelstrophe vollständig vom Schema ab.
Schließlich finden sich noch kleinere Varianten, die aber nicht das Schema durchbrechen, sondern nur sprachliche Abwechslung hineinbringen. So steht beim 4. Element in der V. Strophe statt ושׁלחתי אשׁ (wešillaḥtî ʾēš) „So schicke ich Feuer“ die Wendung והצתי אשׁ (wehiṣṣattî ʾēš) „So lege ich Feuer“. In der II. Strophe ist der Gottesname in der Schlussformel erweitert zu „der Herr Jhwh“.
Unterscheidet man die Abweichungen in den Formelementen grob in „kurze“ oder „lange“ Form – wobei die Israelstrophe als „ganz lang“ zu qualifizieren ist –, ergibt sich das folgende Schema.7 Um die weitere Behandlung vorzubereiten, ergänze ich den Völkernamen der jeweiligen Strophe gleich um den Vorwurf, der dem Volk gemacht wird.
Nr. | Vers | Volk | Vorwurf | Form |
I | 1,3–5 | Damaskus | Verwüstung Gileads | lang |
II | 1,6–8 | Gaza | Auslieferung an Edom | lang |
III | 1,9–10 | Tyrus | Auslieferung an Edom | kurz |
IV | 1,11–12 | Edom | Verfolgung des Bruders | kurz |
V | 1,13–15 | Ammoniter | Aufschlitzen Schwangerer Gileads | lang |
VI | 2,1–3 | Moab | Gewalt gegen den König von Edom | lang |
VII | 2,4–5 | Juda | Verschmähen der Tora | kurz |
VIII | 2,6–16 | Israel | soziales Unrecht | ganz lang |
Deutlich ergeben sich vier Blöcke zu je zwei Strophen: zwei Lang-Strophen, zwei Kurzstrophen, zwei Langstrophen und im letzten Block, offensichtlich als Höhepunkt gemeint, eine Kurzstrophe gefolgt von der ganz langen Israelstrophe. Wegen der vom Schema stark abweichenden Länge der Israelstrophe ist klar, dass das Gedicht linear gelesen werden soll: Es strebt auf einen Höhepunkt zu. Dass die Judastrophe direkt vor der Israelstrophe steht, ist daraus zu erklären, dass es sich bei Juda und Israel um zwei zur Zeit des Amos zwar staatlich getrennte Größen handelt, die aber als Jhwh-Verehrer und als sein Volk miteinander verbunden sind, wie schon Überschrift und Motto in 1,1–2 festgehalten haben.
Die Abfolge der sechs in den ersten Strophen genannten Völker springt geographisch von einer Himmelsrichtung zur andern. Damaskus liegt ganz im Nordosten, Gaza im Südwesten. Von da geht es nach Norden zu Tyrus, dann nach Südosten zu Edom. Näher an Juda und Israel liegen die Ammoniter und Moab, wobei es von Edom aus gesehen erst nach Norden zu den Ammonitern und von da nach Süden zu Moab geht. Würde man die Linien mit einem Faden nachziehen, entstünde ein dichtes Netz, das Juda und Israel von allen Seiten umfasst.8
Shalom Paul macht auf ein weiteres Anordnungsprinzip aufmerksam, das der Verkettung.9 Dabei enthalten zwei Nachbarstrophen ein Element, das nur sie exklusiv teilen. Hier sind das in Strophe I und II die Phrase „Ich vernichte den Herrscher aus …“ (1,5 und 1,8), in Strophe II und III die gālût šelēmāh, die „vollständige Verschleppung“ (1,6 und 1,9), in Strophe III und IV die Erwähnung der Brüder (1,9 und 1,11). Dann allerdings tritt eine Störung ein, weil zwischen den Strophen IV und V keine wörtliche Verkettung zu beobachten ist. Doch zwischen Strophe V und VI wird die Verkettung mit dem Stichwort „Lärm“ wieder aufgenommen (1,14 und 2,3). Auch wenn das Prinzip nicht mit letzter Konsequenz durchgeführt ist, unterstreicht es die Geschlossenheit der Komposition auf der Ebene des Endtextes.
Wenden wir uns von der bloßen Abfolge der genannten Völker den Vergehen zu, die diesen vorgeworfen werden, ergibt sich ein weiteres Element von Linearität. In den ersten fünf Strophen kann man den Eindruck gewinnen, es handle sich um Verbrechen, die an Juda und Israel begangen werden. In der Damaskus- und Ammoniterstrophe liegen Gewalttaten gegen Gilead und seine Bewohner, das zu Israel gehört, vor. Auch die Gaza-, Tyrus- und Edomstrophe handeln von Vergehen gegen Juda und Israel, wie in der Auslegung zu zeigen ist, worauf die Rede von den „Brüdern“ in der Tyrus- und Edomstrophe aber auch schon eindeutig hinweist. Liest man bis zur V. Strophe, gewinnt man den Eindruck, es handle sich um Fremdvölkersprüche, bei denen Nachbarvölker aus judäisch-israelitischer Perspektive für (Kriegs-)Verbrechen kritisiert werden, die sie an Juda und Israel begehen.