Amos. Rainer Kessler
wird.
Die wörtliche Übereinstimmung von Joel 4,16 und Am 1,2 beeinflusst im hebräischen Text die Lektüre sowohl des Joel- als auch des Amosbuches. Im Kontext von Joel 4 ist Jhwhs Brüllen gegen die Völker, ja gegen den Kosmos gerichtet. Anders als in Am 1,2 lautet die Fortsetzung: „da erbeben Himmel und Erde“. Sein Wohnen auf dem Zion macht Jhwh zugleich zur „Zuflucht für sein Volk“ (Joel 4,16b). Das könnte, „isoliert gelesen“, den Lesern ein „falsche[s] Sicherheitsgefühl … vermitteln“, aus dem sie durch den Verweis auf die „Anklagen des Amos“ „herausgerissen werden“.24 Für die Leserinnen und Leser des Amosbuches besagt der Rückbezug auf Hosea und Joel umgekehrt, dass sie bei allen Anklagen und bei allen Drohungen gegen das Nordreich, die bekanntermaßen in Erfüllung gegangen sind, dann eine Zukunft haben, wenn sie den Jhwh vom Zion zu ihrer Zuflucht machen. Die judäische Perspektive, in der Amos aufgrund von Überschrift und Motto – in kritischer, nicht in triumphalistischer Absicht – gelesen werden soll, wird durch die Verknüpfung mit Hosea und insbesondere Joel kräftig unterstrichen.
Das Zitat von Am 1,2a in Joel 4,16aα verknüpft in der hebräischen Überlieferung die hintereinander stehenden Bücher Joel und Amos und hat damit eine wichtige Funktion für die Entstehung eines einheitlichen Zwölfprophetenbuches.25 Dies gilt aber nur für den masoretischen Text. In der griechischen Überlieferung steht nämlich Joel hinter Amos und ist zudem durch Micha, der zwischen beiden angeordnet ist, von Amos getrennt. In M, wo zwischen Joel 4,16 und Am 1,2 gerade einmal sechs Verse stehen, sind beide Sätze absolut identisch. G dagegen hat in Am 1,2 die Verben in Vergangenheitsformen und in Joel 4,16 im Futur und gebraucht für „brüllen“ an beiden Stellen zwei unterschiedliche Vokabeln, zudem in Am 3,4.8 noch ein drittes griechisches Wort für „brüllen“. Zusammenhänge, die im hebräischen Text von Joel und Amos mit Händen zu greifen sind, werden in der griechischen Übersetzung praktisch unsichtbar.
Aufnahme in Jer 25,30Verknüpfen die Bezüge zu Hos 11,11 und Joel 4,16 die ersten drei Bücher des Dodekaprophetons untereinander, so wird Am 1,2 darüber hinaus im corpus propheticum in Jer 25,30 rezipiert. In der Mitte des masoretischen Jeremiabuches wird der Übergang vom Gericht an Juda zum Völker- und Weltgericht unter Rückgriff auf Amos vollzogen. Wie Amos in Am 7,15 („Geh, prophezei meinem Volk Israel!“) wird Jeremia von Gott selbst aufgefordert: „Du, du sollst über sie (sc. alle Bewohner der Erde) prohezeien … und zu ihnen sagen: Jhwh – von der Höhe brüllt er, und von seiner heiligen Wohnung erhebt er seine Stimme. Mächtig brüllt er über seinem Weideplatz ...“ (Jer 25,30, kursiv die wörtlichen Übereinstimmungen mit Am 1,2). Zugleich mit dem fast wörtlichen Zitat wird dies auf doppelte Weise ausgeweitet: Gottes Wohnsitz wird von Jerusalem in die Höhe verlegt, also wohl in den Himmel, und die Folge von Jhwhs Brüllen reicht nicht mehr nur bis zum Karmel, sondern „bis zu allen Bewohnern der Erde“. Mit Letzterem wird auf die Tatsache zurückgegriffen, dass Am 1,2 nicht nur Motto für das ganze Buch ist, sondern zugleich die Völkersprüche in 1,3 – 2,16 einleitet.26
Das Völkergedicht (Am 1,3 – 2,16)
1,3 So spricht Jhwh: Wegen der drei Verbrechen von Damaskus und wegen der vier nehme ich es nicht zurück: weil sie Gilead mit eisernen Dreschschlitten gedroschen haben. 1,4 So schicke ich Feuera gegen das Haus Hasaels, damit es die Paläste Ben-Hadads frisst. 1,5 Ich zerbreche den Torriegel von Damaskus. Ich vernichte den Herrschera aus Biqat-Awen und den Zepterträger aus Bet-Eden. Und in die Verbannung zieht das Volk von Aram nach Kir – spricht Jhwh.
1,6 So spricht Jhwh: Wegen der drei Verbrechen von Gaza und wegen der vier nehme ich es nicht zurück: weil sie Bevölkerungen geschlossen verschleppt haben, um sie an Edom auszuliefern. 1,7 So schicke ich Feuer gegen die Stadtmauer von Gaza, damit es seine Paläste frisst. 1,8 Ich vernichte den Herrschera aus Aschdod / und den Zepterträger aus Aschkelon. Ich strecke meine Hand aus gegen Ekron. Und zugrunde geht der Rest der Philister – spricht der Herr Jhwh.
1,9 So spricht Jhwh: Wegen der drei Verbrechen von Tyrus und wegen der vier nehme ich es nicht zurück: weil sie Bevölkerungen geschlossen an Edom ausgeliefert haben, ohne an den Bruderbund zu denken. 1,10 So schicke ich Feuer gegen die Stadtmauer von Tyrus, damit es seine Paläste frisst.
1,11 So spricht Jhwh: Wegen der drei Verbrechen von Edom und wegen der vier nehme ich es nicht zurück: weil es seinen Bruder mit dem Schwert verfolgt und seinen Bündnispartner zugrunde gerichtet hat.a Sein Zorn zerrissb fortwährend, / und seine Wut wacht immerfort. 1,12 So schicke ich Feuer gegen Teman, / damit es die Paläste von Bozra frisst.
1,13 So spricht Jhwh: Wegen der drei Verbrechen der Ammoniter und wegen der vier nehme ich es nicht zurück: weil sie die Schwangeren von Gilead aufgeschlitzt haben, um ihr Gebiet zu erweitern. 1,14 So lege ich Feuer an die Stadtmauer von Rabba, / damit es seine Paläste frisst, im Lärm am Tag des Krieges, / im Brausen am Tag des Sturms. 1,15 Da geht ihr König in die Verbannung, er zusammen mit seinen Würdenträgern – spricht Jhwh.
2,1 So spricht Jhwh: Wegen der drei Verbrechen von Moab und wegen der vier nehme ich es nicht zurück: weil es die Gebeine des Königs von Edom zu Kalk verbrannt hat. 2,2 So schicke ich Feuer gegen Moab, / damit es die Paläste von Kerijot frisst. Da stirbt beim Kampfgetöse Moab, / beim Lärm, beim Schall des Signalhorns. 2,3 Ich vernichte den Regenten aus seiner Mitte, und all seine Würdenträger töte ich mit ihm – spricht Jhwh.
2,4 So spricht Jhwh: Wegen der drei Verbrechen von Juda und wegen der vier nehme ich es nicht zurück: weil sie die Weisung Jhwhs verschmäht / und seine Gebote nicht gehalten haben. Ihre Lügen ließen sie irregehen, / hinter denen ihre Vorfahren hergelaufen waren. 2,5 So schicke ich Feuer gegen Juda, / damit es die Paläste von Jerusalem frisst.
2,6 So spricht Jhwh: Wegen der drei Verbrechen von Israel und wegen der vier nehme ich es nicht zurück: weil sie den Gerechten um Geld verkauft habena und den Armen wegen eines Paares Sandalen. 2,7 Sie treten auf dem Staub der Erde nach dem Kopf der Geringen,a den Weg der Elenden weisen sie ab. Ein Mann und sein Vaterb – sie gehen zum selben Mädchen, um meinen heiligen Namen zu entweihen. 2,8 Auf gepfändeten Kleidern strecken sie sich aus / vor jedem Altar, und Wein aus Abgaben trinken sie / im Haus ihres Gottes. 2,9 Ich war es:b Ich habe die Amoriter vor ihnen her ausgelöscht, deren Größe wie die Größe von Zedern war, / und die mächtig wie die Eichen waren; so habe ich ihre Frucht oben und ihre Wurzeln unten ausgelöscht. 2,10 Ich war es:b Ich habe euch aus dem Land Ägypten heraufgeführt und ließ euch in der Wüste vierzig Jahre umhergehen, um das Land der Amoriter in Besitz zu nehmen. 2,11 Ich habe aus euren Kindern Propheten auftreten lassen und aus euren jungen Leuten Gottgeweihte. Ist es nicht wirklich so, ihr Israelskinder? – Spruch Jhwhs. 2,12 Aber ihr gabt den Gottgeweihten Wein zu trinken, und den Propheten befahlt ihr: „Ihr dürft nicht prophezeien!“ 2,13 Seht, ich selbst lasse es wankena unter euch, wie der Wagen wankta, der voll ist mit Garben. 2,14 Da schwindet dem Schnellen die Zuflucht, und dem Starken versagt seine Kraft. Der Held rettet sein Leben nicht, 2,15 der Bogenschütze hält nicht stand. Der Leichtfüßige rettet sich nicht.a Auch wer ein Pferd reitet, rettet sein Leben nicht. 2,16 Der ein starkes Herz hat unter den Helden, flieht nackt an jenem Tag – Spruch Jhwhs.
Anmerkungen zu Text und Übersetzung
„Der Text der Fremdvölkersprüche innerhalb des Völkergedichtes ist recht gut erhalten.“1 Diese Feststellung gilt noch nach fast einem halben Jahrhundert, und sie trifft auch auf die Juda- und die Israelstrophe zu. Deshalb kann es bei wenigen Bemerkungen zum Text sein Bewenden haben.
4a Das Verb steht in der weqatal-Form, die futurische Bedeutung hat. Luther gibt das mit „ich will Feuer schicken“ wieder. Ganz korrekt müsste es heißen: „Ich werde Feuer schicken.“ Im Deutschen wird jedoch häufig das Präsens für das Futur gesetzt;