Amos. Rainer Kessler

Amos - Rainer Kessler


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beginnen, gefolgt von einer Datierung nach den Herrschaftszeiten judäischer (und israelitischer) Könige. Die Amos-Überschrift nennt auch den Propheten sowie Namen von Königen, zeigt aber noch eine ältere Form, weil Subjekt nicht „Das Wort Jhwhs“, sondern „Die Worte des Amos“ sind und eine weitere Datierung nach einem Erdbeben erfolgt. Trotz dieser Eigenheit lässt sich von den Überschriften darauf schließen, dass es als Vorstufe zur Sammlung der Zwölf einmal ein Vierprophetenbuch aus Hosea, Amos, Micha und Zefanja gab.

      Die These eines Vierprophetenbuches ist so alt wie die Hinwendung zum Zwölfprophetenbuch als Ganzem seit den 1990er-Jahren. Bei James Nogalski und Aaron Schart steht der in ihren Augen deuteronomistische Charakter dieser Sammlung im Vordergrund.60 Eine ausführliche Beschreibung der Sammlung hat Rainer Albertz vorgelegt.61 Weitere Differenzierungen und Präzisierungen erfolgten durch Jakob Wöhrle, Jason Radine und Nicholas Werse, insbesondere in Bezug auf den deuteronomistischen Charakter der Sammlung.62 Allerdings blieb auch heftiger Einspruch nicht aus. Ob man mit Christoph Levin bereits einen exegetischen Nachruf verfassen muss, mag dahingestellt bleiben.63 Als Warnung vor allzu gewissen Thesenbildungen ist dieser Einspruch aber durchaus notwendig.

      MotiveNeben den Überschriften finden sich einige Motive, die die vier Bücher schriftenübergreifend verknüpfen. Oben wurde das Exodus-Motiv als eines genannt, das die Amos-Texte zusammenbindet (Am 2,10; 3,1; 9,7). Dieses ist möglicherweise aus Hos 12,10.14; 13,4 übernommen und findet sich in mit den Amosstellen vergleichbarer Formulierung auch in Mi 6,4.64 Das Thema der Umkehr, das im Kehrversgedicht Am 4,6–12 im Mittelpunkt steht, ist so etwas wie ein „Leitthema“ des Zwölfprophetenbuchs.65 Besonders eng sind die Beziehungen ins Hoseabuch, das von Hos 1–3 über Kap. 11 bis zum Umkehrruf in 14,2–9 vom Thema geprägt ist. Der Theophanietext Am 4,13 hat eine wörtliche Paraelle in Mi 1,3. Der sogenannte Nichtigkeitsfluch, der ein wünschenswertes Tun für vergeblich erklärt, verknüpft Hos 4,10; Am 5,11; Mi 6,14–15 und Zef 1,13 miteinander;66 allerdings ist einschränkend zu vermerken, dass sich nur Am 5,11 und Zef 1,13 sprachlich nahestehen, während die Stellen in Hosea und Micha ganz anders formuliert sind. In der Sozialkritik hat jedes Buch der Vier sein eigenes Profil. Angleichungen bewegen sich bereits auf allgemeinerer Ebene – so sprechen sowohl Am 5,14f. als auch Mi 3,1f. von Gut und Böse als ethischen Kategorien und setzen diese mit dem Recht in Beziehung. Zu erwähnen ist auch die Kritik an der Fälschung von Maßen und Gewichten, die Am 8,5 mit Mi 6,10f. verbindet.67

      So bemerkenswert motivliche und sprachliche Übereinstimmungen zwischen prophetischen Büchern sind, ihr argumentatives Gewicht wird dadurch eingeschränkt, dass sie meist nicht exklusiv sind, sondern sich auch in Prophetenbüchern außerhalb der Vier oder der Zwölf sowie in anderen biblischen Texten finden.68

      Verknüpfungen mit Joel und ObadjaVerlässt man das hypothetische Vierprophetenbuch, fallen redaktionelle Verknüpfungen mit den Nachbarbüchern auf. So findet sich der Satz: „Jhwh – von Zion brüllt er und von Jerusalem erhebt er seine Stimme“ (Am 1,2) wörtlich gleich bereits in Joel 4,16, und das Thema der Umkehr verbindet Am 4,6–12 mit Joel 2,12–13. Der Amosschluss (9,13) enthält einen Satz, der bis auf die Zeitform des Verbs mit Joel 4,18 identisch ist („es triefen die Berge von Most“).69 Das an Amos anschließende Obadja-Büchlein entfaltet breit das Edom-Thema, das im Amosschluss anklingt (Am 9,12).70 Einschränkend ist anzumerken, dass dies nur für die masoretische Abfolge der Bücher gilt, während in der Septuaginta-Tradition Amos von Hosea und Micha gerahmt ist. Im Übrigen muss jeweils im Einzelfall geklärt werden, ob Amos der gebende oder nehmende Teil bei der redaktionellen Arbeit ist.71

      Das Ausmaß bewusster redaktioneller Arbeit zur Formung eines Zwölfprophetenbuches bleibt strittig. Die Zwölf zeigen eine sinnvolle Abfolge, und einzelne redaktionelle Verbindungen sind nicht zu leugnen. Doch selbst wenn man eine zu weitgehende redaktionelle Arbeit nicht erkennen kann, bleibt die Möglichkeit, dass die Zwölf als Einheit gelesen wurden, wie John Barton festhält: „To be sure, it is possible that the Twelve were read as a unity, in such a way that people saw coherence and order in them, even if they were not redacted in relation to each other …“72

      4. Rezeptionen von Amos

      In der folgenden Textauslegung wird jeweils am Ende jedes Abschnitts auf die Aufnahme von Amos in der weiteren Traditionsgeschichte verwiesen. Deshalb genügt es hier, einige Grundlinien aufzuzeigen.73

      InnerbiblischDie Rezeption von Amos beginnt früh, bereits bei der Bildung von Vorstufen des Zwölfprophetenbuches. Das ist oben im Zusammenhang mit der These eines Vierprophetenbuches schon erwähnt worden. Doch auch die Schriften der sogenannten großen Propheten zeigen, dass ihre Autoren zumindest Teile der Amosüberlieferung bereits kannten. So weist die Jesajaüberlieferung etliche Bezüge zu Amos auf, die auf die Kenntnis der Amosüberlieferung verweisen (das Motiv des Bebens, vgl. Jes 5,25 mit Am 1,1; 2,13; 8,8 [hier dieselbe Vokabel wie in Jes 5,25] und 9,1; das Suchen Jhwhs, das Am 5,4–6 fordert und von dem Jes 9,12 feststellt, dass es nicht erfolgte; die Kultkritik in Am 5,24–27 und Jes 1,10–17 und die Form eines Kehrversgedichts in Am 4,6–12 und Jes 9,7 – 10,4).74 Für das Jeremiabuch ist auf die dort enthaltenen Visionsberichte zu verweisen (1,11–12; 1,13–19 und 24,1–10), die sich deutlich an die im Amosbuch anlehnen. Bei Ezechiel bezieht sich neben den Visionsschilderungen (Ez 1–3; 8–11; 37,1–14; 40–48) die Botschaft vom gekommenen Ende deutlich auf Amos zurück; Ez 7 kann geradezu als Entfaltung von Am 8,2 gelesen werden (Ez 7,2.6 „das Ende ist gekommen“). Die prophetische Überlieferung wiederum speist grundsätzliche Texte der Tora, so etwa die Sintfluterzählung, die ebenfalls vom gekommenen Ende spricht (Gen 6,13), oder den Komplex von Ex 32–34, der sich wie Am 7–9 mit der Möglichkeit von Fürbitte und göttlicher Reue befasst. In all diesen Rezeptionen wird Amos in erster Linie als Unheilsprophet verstanden, der das bevorstehende Ende ankündigt.

      Qumran und Neues TestamentUm die Zeitenwende findet sich dann an unterschiedlichen Stellen eine Aufnahme von Amos, die den Akzent viel stärker auf die heilvollen Aspekte der Zukunftsankündigung legt. Die Damaskusschrift der Qumrangemeinschaft nimmt die Verbannungsandrohung von Am 5,26–27 so auf, dass aus dem Strafgericht ein „Heilsexil“ wird.75 In der Apostelgeschichte entnimmt Lukas der ihm vorliegenden griechischen Übersetzung von Am 9,11–12, dass in der von Amos angekündigten Zukunft, die jetzt Gegenwart geworden ist, neben dem Rest Israels auch die Heiden ins Gottesvolk hineingenommen werden sollen (Apg 15,13–21).

      MittelalterDie Kunst des christlichen Mittelalters kennt eine Fülle von bildlichen und plastischen Darstellungen alttestamentlicher Propheten. Meist halten sie eine Schriftrolle oder ein Buch. Verstanden werden sie als Zeugen Jesu Christi. So stehen oft Apostel ihnen gegenüber oder über ihnen, bei größeren Kompositionen sind Propheten und Apostel meist auf zentrale Figuren wie Christus oder Maria bezogen. Selten tragen die Propheten individuelle Züge, sodass man sie voneinander unterscheiden könnte; geschieht das durch den Zusatz ihres Namens, ändert das nichts am Typischen ihrer Darstellung. Amos wird ganz gelegentlich als Hirte gekennzeichnet (vgl. Am 1,1; 7,14–15). Wird aus der Amosschrift zitiert, dann erscheint der Prophet als Mahner zur Umkehr, die ja für die christlichen Gemeinden weiter nötig ist – so auf der Darstellung im Ulmer Münster – oder als der, der die Festigkeit der göttlichen Herrschaft betont – vergleiche die Abbildung aus Cluny bei der Auslegung von Am 9,5–6.

Abb_001.tif

      Abb. 1: Jörg Syrlin (der Ältere) (um 1425–1491), Amos am Gestühl im Ulmer Münster Unserer Lieben Frau (1469–1471). Beischrift aus Am 5,4.6 (Quaerite Dominum et vivetis – Sucht den Herrn, so werdet ihr leben); der Korb als Hinweis auf die Vision vom Erntekorb (Am 8,1–3).

      Schon dieser knappe Durchgang belegt, wie sehr die Wahrnehmung des antiken Propheten von den Fragen der jeweiligen Gegenwart geprägt ist. Das verweist auf den hermeneutischen Zirkel, in dem sich jede Auslegung bewegt. Es zeigt aber auch, wie der vorgegebene Text in der Aufnahme ständig neu angereichert wird, wodurch Facetten zum Vorschein kommen, die früheren Leserinnen und Lesern verborgen oder zumindest unwichtig waren.


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