Amos. Rainer Kessler

Amos - Rainer Kessler


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müsste sie zu Lähmung und Apathie führen. Was sollte dann der ganze rhetorische Aufwand? Er zeigt, dass es dem Propheten und denen, die seine Worte tradieren, um mehr geht. In einer glücklichen Formulierung spricht Christof Hardmeier von „ultimativer Verwarnung“.28 Die Begründung für das Kommen des Endes soll dieses nicht „bejahbar“ machen. Vielmehr wird das Ende als Konsequenz vor Augen gestellt, die dann unabwendbar ist, wenn sich das Verhalten nicht ändert.

      Damit wird Amos nicht zum Umkehrprediger im eher vordergründigen Sinn der deuteronomistischen Theologie (2 Kön 17,13; Neh 9,26.30; Dan 9,6). So wenig 8,2 mit der Ansage des Endes als hermeneutischer Schlüssel zum Amosbuch taugt, so wenig tun das die Mahnungen aus Am 5,4–6.14–15. Beides gehört zusammen. Der Gott, den das Amosbuch verkündigt, findet sich mit dem Unrecht der Welt nicht ab. Er droht den Tätern das Ende an, er droht Israel das Ende an. Zugleich ruft er zum Leben („Sucht mich, so werdet ihr leben!“, 5,4). Wird die ultimative Verwarnung nicht befolgt, dann ist das Ende unabwendbar. Die Selbstoffenbarung Gottes in den Visionen zielt auf die Fürbitte des Propheten und Gottes Reue über das Unheil;29 erst als der Prophet aus dem Königreich Israel ausgewiesen wird (7,10–17), ist der Untergang unabwendbar. Aber das ist nicht das, was Gott will. Deshalb ist seine Geschichte noch nicht am Ende. Die Ausscheidung der für das Unrecht Verantwortlichen (9,8–10) ermöglicht eine neue Zukunft.

      Ein Weiteres kommt hinzu. Noch vor jeder diachronen Untersuchung des Amosbuches lässt sich feststellen, dass dieses die Botschaft des Propheten im Rückblick präsentiert. Schon die Überschrift mit ihrer Einordnung in die Geschichte Israels signalisiert dies. Bereits die antiken Leserinnen und Leser wissen also, dass das Nordreich untergegangen ist, wie Amos es angekündigt hat.30 Sie verstehen aufgrund der Anklagen des Propheten, dass dieses Ende zu Recht kam. Insofern rechtfertigt das Buch Gott, der beim Untergang des Staates Israel nicht versagt, sondern vielmehr alles getan hat, um sein Volk zu retten.31

      Dass die Versuche, die Botschaft des Amos zu erfassen, so unterschiedlich ausfallen, hängt auch damit zusammen, dass sich die jeweiligen Autoren auf verschiedene literarische Ebenen beziehen. Das zuletzt skizzierte Bild geht vom gesamten Amostext aus. Autoren wie Wolff oder Zenger, so unterschiedlich ihre Beschreibung ausfällt, beziehen sich dagegen auf den historischen Amos, wie sie ihn aus den Texten rekonstruieren. Damit stehen wir vor der Aufgabe, das Buch unter diachronem Gesichtspunkt in den Blick zu nehmen.

      Diachrone Betrachtung

      Von der Überschrift angefangen weisen verschiedene Textsignale darauf hin, dass das Amosbuch eine längere Entstehungsgeschichte hat. Im Buchganzen sind Großeinheiten zu erkennen, die in sich eine mehr oder weniger deutliche Geschlossenheit aufweisen: die Völkersprüche in 1,3 – 2,16, die Spruchsammlung in Kap. 3–6 und der durch fünf Visionen zusammengehaltene Schlussteil 7,1 – 9,4(6). Innerhalb der Sammlung der Kap. 3–6 lassen sich thematisch oder strukturell zusammengebundene Teilsammlungen unerscheiden (3,9 – 4,5 mit der Konzentration auf Nordreichsorte, 5,1–17 als Ringkomposition). Größere Dichtungen (3,3–8 und 4,6–13) heben sich von kürzeren Sprüchen ab. Diese literarische Vielfalt lässt sich als Hinweis auf eine kürzere oder längere Entstehungsgeschichte verstehen. Wenige historische Anspielungen weisen in unterschiedliche Epochen. Hinzu kommen theologische Eigenheiten einiger Texte – etwa eine deuteronomisch-deuteronomistisch geprägte Sprach- und Gedankenwelt –, die auf verschiedene Entstehungszeiten verweisen. Auf all das ist in der Einzelauslegung einzugehen.

      1. Textarchäologie und ihre Grenzen

      In der Amos-Exegese, sofern sie überhaupt diachron zu arbeiten bereit ist, lassen sich zwei Extrempositionen markieren.

      Nach Reinhard Gregor Kratz gehen zwar nur wenige Worte auf den historischen Amos zurück: „die Bildworte in 3,12abα; 5,2.3.19 und die Partizipien (Weherufe) in 3,12bβ; 4,1aα2b; 5,7; 5,18a.20 (oder 5,18aβb.20b), vielleicht noch einiges aus 6,1a.3–6a.13.“32 Sie seien nur fragmentarisch erhalten, und ihr Sinn sei oft nur schwer zu erschließen. Dennoch sieht Kratz die Möglichkeit (und Notwendigkeit), „zum historischen Amos vorzudringen“, indem man in einem gleichsam archäologischen Verfahren „die einzelnen Schichten behutsam“ abträgt; in mathematischer Metaphorik ließe sich auch von „einem literarkritischen Subtraktionsverfahren“ sprechen.33 Voraussetzung dieses Verfahrens ist die Entwicklung von Kriterien, die die Unterscheidung der verschiedenen Textschichten ermöglichen.

      Die Gegenposition formuliert Georg Steins mit einem Bild aus der Höhlenforschung. Auch er geht davon aus, dass es ältere, möglicherweise auf Amos selbst zurückgehende Texte sowie jüngere Fortschreibungen gibt, die auf diesen Texten beruhen. Er vergleicht dieses Gebilde mit einer Höhle, an deren Eingang wir stehen. Steins zweifelt nicht an der Tiefe dieser Höhle, wohl aber an der „Leuchtkraft unserer Stablampen“.34 Dem textarchäologischen Vorgehen wirft er „die hoch problematische Annahme“ vor, „der Text sei jeweils nur ergänzt, nicht aber ‚neu geschrieben‘ worden“.35 Werden die älteren Bestände bei ihrer Tradierung aber „neu geschrieben“, d. h. auch verändert, dann erlaubt dies – es folgt ein Bild aus der Biologie oder Pathologie – „folglich nicht die literarkritische Präparierung des Wortlauts einer älteren Textstufe“36 – ich ergänze: wie Kratz sie vornimmt.

      Beide Positionen, so extrem sie sich gegenüberstehen, geben der diachronen Analyse wichtige Gesichtspunkte vor. Das ist zum einen die Frage nach den Kriterien, die älteres von jüngerem Gut unterscheiden lassen, zum andern die Einsicht, dass im Traditionsprozess Veränderungen anzunehmen sind, die jeden Rückgang hinter den jetzigen Text in den Bereich des Ungefähren, des nicht mehr im Wortlaut Herauszupräparierenden führen.

      Jede Formulierung von Kriterien für die Unterscheidung von älteren und jüngeren Beständen steht in der Gefahr, zirkulär zu argumentieren: Aufgrund eines bestimmten Bildes vom Propheten werden alle Texte ausgeschieden, die dem nicht entsprechen, was dann im Zirkelschluss das Ausgangsbild bestätigt. Zu Recht hat man deshalb auf außerisraelitische Kontexte als Anker verwiesen, an dem sich die zeitliche Einordnung festmachen ließe.37 Doch auch dieses Verfahren hilft nur bedingt weiter. Denn erstens unterliegt auch das Bild der außerisraelitischen Prophetie der historischen Interpretation, und zweitens sind individuelle Wege bei israelitischen Propheten, die die allgemeinen Entwicklungen der Zeit überschreiten, ja nicht von vornherein auszuschließen.

      Unter Berücksichtigung aller Vorsichtsmaßnahmen ergibt sich das Bild eines Propheten Amos, der gesellschaftliche Missstände im sozialen und kultischen Bereich kritisiert. Dabei entsteht das Bild einer Oberschicht, die in Wohlstand und Luxus lebt. Ihre Wohnungen werden als „Paläste“ bzeichnet (3,10–11; 6,8). Sie sind nicht aus Lehm, sondern mit behauenen Steinen gebaut (5,11). Bei dem einmal genannten Winterhaus samt Sommerhaus (3,15) ist wahrscheinlich die königliche Residenz gemeint. Die Ausstattung dieser Gebäude ist luxuriös; hervorgehoben wird die Ausschmückung mit Elfenbein (3,15; 6,4). In ihnen werden üppige Festmähler gefeiert (3,12; 4,1; 6,4–6). Solcher Luxus zeichnet nach der Kritik des Propheten auch die religiösen Feste aus (5,21–23).

      Die Kritik am Luxus der Herrschenden gründet in der Erkenntnis, dass das Wohlergehen der Reichen mit der Verelendung der Armen erkauft ist. In komprimierter Sprache wird dieser Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, indem die reichen Bewohner Samarias als die kritisiert werden, „die Gewalt und Bedrückung aufhäufen in ihren Palästen“ (3,10), also das, was mit „Gewalt und Bedrückung“ von den kleinen Leuten erpresst wurde. Die ökonomischen Vorgänge, die dahinterstehen, werden nur angedeutet. Man wird aus allgemeinen Überlegungen an das in der gesamten Antike die Bauern bedrückende Kreditwesen denken müssen. Die Rede von den „gepfändeten Kleidern“ (2,8) führt direkt in diesen Bereich, und wenn man beim Verkauf des Gerechten „um Geld“ (2,6) an geschuldetes Geld denken darf, liegt eine weitere Anspielung vor. Flankiert werden die ökonomischen Machtmittel von der gesellschaftlichen Macht der Reichen, die es ihnen erlaubt, „im Tor“, also da, wo die gemeinschaftlichen Angelegenheiten geregelt werden, ihre Interessen bei der Festlegung von Abgaben (5,11; vgl. 2,8) und in der Rechtsprechung (5,7.10.12) durchzusetzen. Das Wortfeld von Schrecken (3,9) und Unterdrückung (3,9; 4,1), Gewalt und Bedrückung (3,10; 6,3; vgl. 5,12)


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