Amos. Rainer Kessler
allesamt für soziale Typen stehen: Armer (2,6; 4,1; 5,12; vgl. 8,4.6) und Elender (2,7; vgl. 8,4), Geringer (2,7; 4,1; 5,11; vgl. 8,6) und Gerechter (2,6; 5,12). Die klassischen personae miserae altorientalischer Texte, Witwen und Waisen, kommen nicht vor. Auch die in biblischen Texten oft mit ihnen zusammen genannten Fremden als Personen mit einem prekären Status werden nicht erwähnt. Zu Recht hat Klaus Koch daraus geschlossen, dass die Texte nicht von völlig verarmten und verelendeten Menschen, sondern von einer „Schicht von Kleinbauern“ reden, die „keine besitzlose Klasse“ darstellt, weil von ihnen ja noch etwas zu holen ist.38 Gleichwohl sind sie in ihrer selbstständigen Existenz bedroht.
Bei der Rekonstruktion des Bildes der Gesellschaft Israels im 8. Jh. besteht immer die Gefahr des Zirkelschlusses, da wir kaum anderes Material als die biblischen Texte selbst haben.39 Zudem ist in der Sozialgeschichte Israels zu beobachten, dass sich durch die Epochen hinweg Kontinuitäten zeigen, die es Späteren ermöglichen, sich in älteren Texten wiederzufinden und diese fortzuschreiben. Allerdings heißt es, das Kind mit dem Bad ausschütten, wenn man nun, wie Christoph Levin vorschlägt, die gesamte Sozialkritik des Amos als ein Produkt nachexilischer Fortschreibung verstehen will.40 Das zeigt ein vergleichender Blick auf den Bericht über die Schuldenkrise in Neh 5,1–13, mit dem für Levin zum ersten Mal deutlich werde, dass „soziale Stabilität … verlorengegangen sei“.41 Gewiss sind die Grundstrukturen von Verschuldungsvorgängen konstant. Aber etwa die Königssteuer (V. 4) spielt bei Amos überhaupt keine Rolle. Auch die Gruppe der seganîm als Angehörige der Oberschicht (V. 7) sind für die Perserzeit auch epigraphisch belegt, kommen aber in der Königszeit nicht vor, so auch nicht bei Amos.42 Keineswegs sind alle Katzen so grau, wie Levin meint. Auch umgekehrt muss man fragen, woher Autoren des 5.–3. Jh.s Kenntnisse davon haben sollen, dass im Samaria des 8. Jh.s. Elfenbein als Luxusgut eine herausragende Rolle spielte (3,15; 6,4).
Dass der Prophet denen, die für die Spaltung der Gesellschaft verantwortlich sind, Konsequenzen androht, liegt auf der Hand. Schwieriger zu entscheiden ist die Frage, ob er solche Konsequenzen auch bereits für das Ganze des Volkes formuliert hat. Textimmanent ist damit eine weitere Reflexionsstufe erreicht. Warum solche weiterführende Reflexion einem Propheten der Mitte des 8. Jh.s. abgesprochen werden müsste, ist nicht einzusehen. Immerhin zeigt der etwa zeitgleiche Text vom Tell Deir ʿAlla, dass derartige Unheilsprophetien in unmittelbarer Nähe Israels in literarischen Texten formuliert werden konnten.43
Allerdings ist an dieser Stelle die zu Anfang des Abschnitts zitierte Warnung von Georg Steins zu beachten. Angesichts von Versuchen, die originale Stimme des Propheten textlich herauszupräparieren, versagen unsere Instrumente. Hinter die Einsicht von Jörg Jeremias, dass jede „Rekonstruktion der mündlichen Rede des Amos … nur noch in seltenen Fällen möglich“ und zudem „mit einem nicht geringen Grad an Unsicherheit“ belastet ist, führt kein Weg zurück.44
Damit stehen wir vor der Frage, wie man sich die Entstehung des Amosbuches vorstellen soll.
2. Blöcke und Fortschreibungen
Auszugehen ist von den voranstehenden Überlegungen, wonach sich zum einen größere Blöcke im Endtext unterscheiden lassen und zum andern eine historische Tiefendimension anzunehmen ist. Unter diesen Voraussetzungen liegt es nahe, sich die Entstehung des Amosbuches in Blöcken vorzustellen, die sukzessive fortgeschrieben wurden. Dabei verzichte ich bewusst auf eine versweise Zuteilung zu den einzelnen Stufen, weil ich davon ausgehe, dass bei der Fortschreibung auch die älteren Textbestände neu gefasst werden können und so eine Rekonstruktion früherer Stufen aus dem späteren Text nur mit einer gewissen kontrollierten Unschärfe vorgenommen werden kann. Die einzelnen Stufen der Entstehung des Amosbuches sind jeweils vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklungen zu sehen und orientieren sich an Einschnitten in der Geschichte Israels. Dabei ist durchaus mit der Möglichkeit zu rechnen, dass auf einer bestimmten Stufe mehrere Redaktionsgänge anzusetzen sind.45
Erste StufeIn einer ersten Stufe ist mit dem Auftreten eines Propheten Amos zu rechnen, der um die Mitte des 8. Jh.s. v. Chr. Entwicklungen im Nordreich kritisiert und mit Unheilsankündigungen verbindet. Den Grundbestand der auf Amos zurückgehenden Worte wird man, das ist weitgehender Konsens, in Kap. 3–6* suchen müssen. Da die Überschrift in 1,1 in ihrer ursprünglichen Form das Auftreten des Amos nach einem den Lesern und Leserinnen bekannten Erdbeben – und nicht nach dem Untergang Samarias – datiert, ist sie wohl noch vor der Zerstörung von Samaria entstanden. In dieser Form („Die Worte des Amos … von Tekoa, die er über Israel schaute … zwei Jahre vor dem Erdbeben“) ist sie die Überschrift über eine erste Sammlung von Amos-Worten, die noch vor 722 v. Chr. entstanden sein dürfte. Die Erwähnung des samarischen Elfenbeins (Am 3,15; 6,4) und die Tatsache, dass Assur in den Unheilsankündigungen nirgends erwähnt wird, weisen in diese letzte Blütezeit des Staates Israel.46 Auf dieser Textebene ist zwar schon von drohenden Deportationen die Rede, die zur üblichen Kriegspraxis der Epoche gehörten; ein ausgeprägtes Konzept von Exil liegt dagegen noch nicht vor.47
Göran Eidevall hat die Frage aufgeworfen, ob der Prophet (oder die Gruppe von Propheten), die hinter der frühesten Schicht des Amosbuches steht, überhaupt in Israel gewirkt hat oder nicht auch von Juda aus gesprochen haben kann.48 In der Tat können prophetische Sprüche aus der Ferne gesprochen werden (Jes 28,1–4). Was den historischen Amos angeht, bewegen wir uns hier auf dem Feld der Spekulation. Der Amos des Buches jedenfalls wirkt im Norden.
Freilich ist in Am 3–6 mit Überarbeitungen zu rechnen. Zu den größeren Einfügungen zählen die Eröffnung in 3,1–2, die zwei längeren Dichtungen in 3,3–8 und 4,6–12, die die kleine Sammlung in 3,9 – 4,5 rahmen, sowie die hymnischen Stücke in 4,13 und 5,8–9. Die älteren Bestände sind allerdings nicht einfach Wortprotokolle der Äußerungen des historischen Amos, sondern bereits literarisch gestaltete Kompositionen; darauf ist bei der Auslegung zurückzukommen. Ob diese auf den Propheten selbst oder diejenigen seiner Anhängerschaft zurückgehen, die schreibkundig waren und das Erbe des Propheten weitergeben wollten, ist nur schwer zu entscheiden. Rechnet man mit gewissen zeitlichen Abständen, dann ist eher an schreibkundige Tradenten als an Amos selbst zu denken.
Es ist eine unglückliche Wortwahl, wenn für diese Tradenten das Wort „schriftgelehrt“ gebraucht wird.49 Als Schriftgelehrte bezeichnet Luther in seiner Übersetzung die γραμματεῖς (grammateís) des Neuen Testaments (Mt 2,4; 5,20; 7,29 u.ö.). Diese hatten eine heilige Schrift, in der sie gelehrt waren. Das trifft auf die Amos-Überlieferer nicht zu. Sie waren Schreiber oder Schreibkundige. Das englische scribe, das die Unterscheidung zwischen „schreibkundig“ im technisch-intellektuellen und „schriftgelehrt“ im theologischen Sinn nicht macht, hat es da leichter.
Zweite StufeUmgeben ist die erste Sammlung der Worte des Amos von zwei Blöcken. Sie haben ihre Form erst nach dem Untergang des Nordreichs erhalten (Stufe zwei).50 Vorangestellt ist eine Sammlung von Völkersprüchen, die Jhwh als den Gott zeigt, der über Israel hinausgehend in das Geschick der Völker eingreift, dessen Fokus aber auf Israel liegt (1,3 – 2,16). Abgeschlossen wird diese Fassung des Buches mit einem Visionsbericht, der die Härte des Gerichts gegen den Norden verständlich zu machen sucht und zugleich eine mögliche judäische Zukunft andeutet (7,1 – 9,6).
Wie verhalten sich diese Blöcke zu der Sammlung von Worten in Kap. 3–6*, und wie verhalten sie sich zueinander? Auszugehen ist von der Beobachtung, dass beide Blöcke auf die in der Mitte stehende Wortsammlung ausgerichtet sind. Das Völkergedicht setzt mit dem in jeder Strophe wiederholten göttlichen „ich mache es nicht rückgängig“ sachlich die Unheilsansagen des späteren Textes und darüber hinaus die des Visionszyklus voraus.51 Zugleich ist es insofern auf die Wortsammlung in Kap. 3–6* ausgerichtet, als die Drohung gegen die Paläste, die in der Israelstrophe im Gegensatz zu allen anderen Strophen fehlt, ausgeführt wird.52 Der Visionenzyklus seinerseits setzt eine Schuld Israels voraus, wie sie in den voranstehenden Kapiteln expliziert, im Zyklus selbst aber gar nicht entfaltet wird.
Aus diesen Beobachtungen folgt, dass die den Mittelteil rahmenden Blöcke wohl kaum als separate Quellen neben der Wortsammlung in Kap. 3–6* bestanden