Amos. Rainer Kessler
dazu wird als „diachron“ die Bemühung um Einsicht in das Werden eines Textes über die Zeiten bezeichnet. Dazu gehört das Studium unterschiedlicher Textzeugen, sofern sie über Vorstufen des Textes Auskunft geben, vor allem aber das Achten auf Hinweise im Text auf seine schrittweise Ausformung wie auch die Frage, ob und wie er im Gespräch steht mit älteren biblischen wie außerbiblischen Texten, Motiven, Traditionen, Themen usw. Die diachrone Fragestellung gilt somit dem, was man die geschichtliche „Tiefendimension“ eines Textes nennen könnte: Wie war sein Weg durch die Zeiten bis hin zu seiner jetzigen Form, inwiefern ist er Teil einer breiteren Traditions-, Motiv- oder Kompositionsgeschichte? Synchrone Analyse konzentriert sich auf eine bestimmte Station (oder Stationen) dieses Weges, besonders auf die letzte(n), kanonisch gewordene(n) Textgestalt(en). Nach unserer Überzeugung sind beide Fragehinsichten unentbehrlich für eine Textinterpretation „auf der Höhe der Zeit“.
Natürlich verlangt jedes biblische Buch nach gesonderter Betrachtung und hat jede Autorin, jeder Autor und jedes Autorenteam eigene Vorstellungen davon, wie die beiden Herangehensweisen im konkreten Fall zu verbinden sind. Darüber wird in den Einführungen zu den einzelnen Bänden Auskunft gegeben. Überdies wird von Buch zu Buch, von Text zu Text zu entscheiden sein, wie weitere, im Konzept von IEKAT vorgesehene hermeneutische Perspektiven zur Anwendung kommen: namentlich die genderkritische, die sozialgeschichtliche, die befreiungstheologische und die wirkungsgeschichtliche.
Das Ergebnis, so hoffen und erwarten wir, wird eine Kommentarreihe sein, in der sich verschiedene exegetische Diskurse und Methoden zu einer innovativen und intensiven Interpretation der Schriften des Alten Testaments verbinden.
Die Herausgeberinnen und Herausgeber
Im Herbst 2012
Vorwort des Verfassers
Im Jahr 1969 kam im Biblischen Kommentar die Auslegung von Joel und Amos aus der Feder von Hans Walter Wolff heraus. Seit dem Sommersemester 1967 durfte ich bei ihm in Heidelberg die Stelle einer studentischen Hilfskraft einnehmen. Im Wintersemester 1967/68 besuchte ich Wolffs Seminar „Tradition und Inspiration bei Amos“. Ab 1969 wurde Wolff der Betreuer meiner Dissertation. Seine Amosauslegung habe ich gleichsam als exegetische Muttermilch zu mir genommen.
Ein Vierteljahrhundert später, im Jahr 1993, trat ich die Professur für Altes Testament in Marburg an. Mein Kollege dort war Jörg Jeremias. Kaum in Marburg angekommen, erschien 1995 dessen Amoskommentar in der Reihe Altes Testament Deutsch.
Ein weiteres Vierteljahrhundert später kommt nun meine eigene Auslegung des Amosbuches im Internationalen Exegetischen Kommentar zum Alten Testament heraus. Angesichts der skizzierten Vorgeschichte in meiner Biografie wird verständlich, dass die beiden Herausgeber Walter Dietrich und Helmut Utzschneider einen hohen argumentativen Aufwand brauchten, um mich von der Übernahme dieser Aufgabe zu überzeugen. Im Nachhinein bin ich ihnen sehr dankbar dafür.
Der Metaphern sind viele: Man tritt in große Fußstapfen, steht auf den Schultern von Riesen oder auch in deren Schatten. Dennoch scheint mir eine erneute Auslegung von Amos in einer neuen Reihe durchaus gerechtfertigt. Denn die Forschung ist im vergangenen halben Jahrhundert nicht stehen geblieben. Dies zeigt sich insbesondere in der Auffassung der Amosvisionen, die für Wolff und Jeremias Urbestand der Amosüberlieferung und Schlüsseltexte für das Gesamtverständnis des Amosbuches sind, während ich sie mit etlichen neueren Studien als spätere Reflexionstexte verstehe. Auch wird der Zugang vom Gesamtbuch her, den Wolff vorbereitet und dem Jeremias zum Durchbruch verholfen hat, noch konsequenter befolgt, begünstigt durch die Anlage des IEKAT, die den synchronen Zugang an die erste Stelle setzt.
Eine neue Kommentierung steht aber nicht unter dem Zwang der Originalität. Wer die Kommentare und sonstigen Arbeiten von Wolff und Jeremias kennt, wird schnell herausfinden, was ich selbst ihnen zu verdanken habe – und natürlich den vielen anderen, die sich mit diesem aufrüttelnden Prophetenbuch befasst haben.
Zu danken habe ich den beiden genannten Herausgebern Walter Dietrich und Helmut Utzschneider für ihre Ermutigung und Begleitung, der Redaktion für die sorgfältige Prüfung des Manuskripts und Herrn Specker vom Kohlhammer Verlag für die hilfsbereite, kompetente und geduldige Betreuung der Manuskriptentstehung. Als Ruheständler hat man keine Hilfskräfte mehr, die man zum Korrekturlesen einsetzen kann. Umso dankbarer bin ich meiner Frau Christiane, dass sie mir den Beginn ihres eigenen Ruhestands zur sorgfältigen Durchsicht der Druckvorlage geschenkt hat.
Marburg und Frankfurt am Main, Dezember 2020
Einleitung
Die neun Kapitel umfassende Amosschrift ist im hebräischen Kanon die dritte des Zwölfprophetenbuches; in der griechischen Übersetzung nimmt sie die zweite Stelle ein. Damit stehen an der Spitze der Zwölfersammlung mit Hosea und Amos zwei Propheten, die ausweislich der Überschriften zur Zeit des israelitischen Königs Jerobeam, des Sohnes Joaschs – in der Geschichtswissenschaft als Jerobeam II. bezeichnet – wirkten, der 786–746 v. Chr. regierte. Beide Propheten sind die einzigen, die sich fast ausschließlich an den Nordstaat Israel richten, der mit der assyrischen Eroberung Samarias 722 v. Chr. an sein Ende kam. Das Zwölfprophetenbuch, das im Prinzip chronologisch angeordnet ist, markiert mit Hosea und Amos zugleich das Ende einer Geschichtsepoche. Danach kann Prophetie nur noch in Juda weitergehen.
Die judäische Perspektive zeigt sich bereits in den Überschriften zu Hosea und Amos, indem deren Wirken mit den Herrschaftsperioden judäischer Könige synchronisiert wird. Bei Amos ist dies Usija (786–736), bei Hosea folgen auf Usija noch Jotam, Ahas und Hiskija. Da Hiskija bis 697 v. Chr. regierte, ergibt sich, dass Hosea jünger als Amos ist, was durch den zeitgeschichtlichen Hintergrund der beiden Schriften bestätigt wird. Zugleich umfasst gemäß der Überschrift die Wirkungszeit Hoseas sowohl die des Amos als auch die des Micha (vgl. die Erwähnung von Jotam, Ahas und Hiskija in Mi 1,1).1
Darüber, warum der jüngere Hosea entgegen der prinzipiell chronologischen Abfolge vor dem älteren Amos steht, lässt sich nur mutmaßen. Wahrscheinlich wurde der Grundbestand der Hoseaschrift früher als der Grundbestand von Amos formuliert.2 Möglicherweise standen beide Bücher sogar bereits auf einer Zweiprophetenrolle, in der die prophetische Kritik am Nordreich Israel zusammengestellt war.3 Hinzu mögen inhaltliche Gründe kommen, wonach die Botschaft Hoseas als die umfassendere gedeutet wurde.4 Letztlich aber muss es bei der Feststellung von Franz Xaver Sedlmeier bleiben: „Die Frage, wieso das Buch Hosea das Zwölfprophetenbuch eröffnet, ist eine Quaestio disputata und bleibt eine solche ...“5
Synchrone Betrachtung
1. Der Gesamtcharakter des Amosbuches
Die Überschrift über das Amosbuch präsentiert den Propheten, seine Herkunft sowie Ort und Zeit seines Auftretens. Weder die Überschrift noch der weitere Text nennen einen Verfasser. Die Überschrift behauptet nicht, dass Amos selbst den Text geschrieben habe. Was sie behauptet, ist nur, dass das Folgende „die Worte des Amos“ wiedergibt. Wir haben es also mit einer anonymen Schrift zu tun, die sich als Sammlung von Amosworten ausgibt.6
Tatsächlich ist das nach Amos benannte Buch eine Sammlung prophetischer Aussprüche – bis auf wenige Ausnahmen. Diese Ausnahmen allerdings sind von großem Gewicht. Gleich der erste Vers nach der Überschrift beginnt nämlich mit einem Narrativ: „Er sagte: ...“ (1,2). Damit übergibt der anonyme Autor des Amosbuches das Wort an den Propheten. Dieser behält es bis 7,9; darauf, dass er oft hinter die Autorität seines Gottes zurücktritt, indem er seine Worte mit der Formel „So spricht Jhwh“ einleitet, ist gleich noch zurückzukommen.
Erst in 7,10 meldet sich der Erzähler wieder zu Wort, indem er in 7,10–17 eine Erzählung wiedergibt, innerhalb derer die Worte von Amos’ Widersacher Amazja und seine eigenen jeweils eigenständig eingeleitet werden (für Amos in 7,14). Danach aber redet der Prophet bis zum Ende des Buches weiter.
Einen Text, in dem im Wesentlichen eine oder mehrere Figuren reden, nennt man herkömmlich ein Drama. So kann man das Amosbuch in der Tat als „a kind of drama“ bezeichnen.7 Da die Figurenrede von Amos (und Amazja) narrativ eingeleitet wird