Amos. Rainer Kessler
Jahre vor dem Erdbeben“ gibt zwar einen präzisen Jetztpunkt an. Da aber innerhalb des Textes der Zeitpunkt dieses Erdbebens nie fixiert wird, bleibt dieser Jetztpunkt merkwürdig in der Schwebe.
Von der Jetztzeit der Regierung Jerobeams II. und Usijas blickt der Text einerseits in die Vergangenheit zurück. Dazu wird man allerdings nicht die Aussagen über Jhwh als Schöpfer in den hymnischen Stücken (4,13; 5,8–9; 9,5–6) zählen können. Die sind fast ausschließlich partizipial formuliert und denken nicht an eine creatio prima, sondern sprechen von der göttlichen creatio continua. So geht der Blick am weitesten zurück, wenn er von der Herausführung Israels aus Ägypten spricht (2,10; 3,1; 9,7); ihr werden in 9,7 Herausführungen der Philister aus Kaftor und der Aramäer aus Kir an die Seite gestellt, von denen wir sonst nichts wissen. Auch die im kanonisch gewordenen Geschichtsbild auf die Herausführung folgende vierzigjährige Wüstenzeit sowie die Landnahme finden Erwähnung (2,10; 5,25). Wohl nach der Landnahme muss man sich die Übergriffe gegen Gottgeweihte und Propheten vorstellen, die 2,12 erwähnt. Danach kommen wir in die Königszeit, die mit der zweimaligen Erwähnung von David evoziert wird (6,5; 9,11); in 9,11 wird die Epoche Davids als „Tage der Urzeit“ bezeichnet. Am nächsten in die Gegenwart reichen die Vorwürfe, die den Nachbarvölkern im Völkergedicht gemacht werden, ohne dass der Text sich auf eine genauere zeitliche Fixierung festlegen würde. Dasselbe gilt für die Schläge, die Jhwh nach dem Kehrversgedicht von 4,6–11 in der Vergangenheit über Israel gebracht hat. Auch die geschichtlichen Ereignisse, auf die 6,2.13 anspielen, liegen offenbar in der jüngeren Vergangenheit, ohne genauer datiert zu werden.
Vom (fiktionalen) Jetztpunkt geht der Blick sodann in die Zukunft. In den meisten der prophetischen Drohungen bleibt sie zeitlich unbestimmt. Das ändert sich auch dann nicht, wenn von einem Tag (3,14; 8,9.13) oder kommenden Tagen (4,2; 8,11) die Rede ist. Auch der „Tag Jhwhs“ liegt zwar in der Zukunft, wird aber zeitlich nicht fixiert (5,18–20). Aus inhaltlichen Gründen ist allerdings davon auszugehen, dass die Tage des Heils in den Schlussversen (9,11.13) noch später liegen als die vorher angekündigten Unheilstage.
Die Konzentration auf die Geschichte Israels zwischen dem Exodus aus Ägypten und der künftigen Aufrichtung der Hütte Davids spiegelt sich in der räumlichen Verortung des Buches wider. Nach der Überschrift ist der Adressat der Worte des Amos, der selbst aus dem judäischen Tekoa stammt, Israel; weil gleich anschließend der König von Juda und der König von Israel unterschieden werden, muss mit Israel hier das Nordreich gemeint sein. Vom Nordreich sprechen auch die allermeisten Amosworte von 1,3 – 9,6. Ganz eindeutig ist das, wenn mit Samaria (3,9.12; 4,1; 6,1; 8,14), Bet-El (3,14; 4,4; 5,5f.; 7,10–17), Gilgal (4,4; 5,5) und Dan (8,14) Orte aus dem Norden genannt werden.
Zwei Ausnahmen stechen heraus. Die eine ist die gelegentliche Erwähnung von Juda, so in der Judastrophe des Völkergedichts (2,4–5) und in der Adressatenangabe in 6,1 (Zion). Angesichts des dominanten Fokus auf den Norden soll offenbar in Erinnerung gehalten werden, was schon der Mottovers in 1,2 sagt, dass nämlich das Wort Jhwhs von Zion und Jerusalem ausgeht und also Juda zumindest mit betroffen ist. Nach der Ausweisung des Propheten nach Juda (7,10–17) bleibt der Süden immer im Blick, auch wenn er erst mit der „Hütte Davids“ in den Schlussversen (9,11) ausdrücklich genannt wird.19
Die zweite Ausnahme von der Konzentration auf das Nordreich Israel sind die Stellen, an denen „Israel“ eine weitere Bedeutung hat. An Exodus, Wüstenwanderung und Landnahme waren nach dem biblischen Geschichtsbild nicht nur die Nordstämme beteiligt. So sehr das Amosbuch bis zur Ankündigung des Endes für „mein Volk Israel“ (8,2) vor dem Hintergrund des schon in der Überschrift gesetzten Dualismus von Israel und Juda zu lesen ist, ist doch immer im Blick zu behalten, dass „Israel“ auch eine weitere Bedeutung hat als die des Staatsnamens für den Norden. Der Schluss stellt es sich so vor, dass zwar die staatlichen Strukturen des Nordreichs vernichtet werden, dass aber das „Haus Jakob“, also die Bevölkerung des Nordens, überlebt (9,8) und unter dem Schutz der Hütte Davids eine Zukunft hat (9,11).
Das Amosbuch ist räumlich auf Israel im engeren und weiteren Sinn fokussiert. Aber es ist dies vor dem Hintergrund eines Bildes von Gott, der universal wirkt. Im Völkergedicht zieht er sechs Nachbarvölker Israels und Judas zur Rechenschaft. Und in den Schlussversen erinnert er daran, dass er eine eigene Geschichte mit den Kuschiten, Philistern und Aramäern hat (9,7) und die Überlebenden der kommenden Katastrophe aus den Völkern ebenfalls unter den Schutz der Hütte Davids stellen will, indem er seinen Namen über ihnen ausruft (9,12).
5. Thema und Theologie des Buches
Dass das Amosbuch von scharfer Kritik an allen möglichen Missständen geprägt ist, zeigt bereits eine oberflächliche Lektüre. Schon das Völkergedicht am Anfang wirft den Nachbarstaaten Kriegsverbrechen vor. Mit der Israelstrophe setzt die Sozialkritik ein, die im Buch dominiert.20 Unterdrückung und Ausbeutung der Armen sowie der Luxus der Reichen stehen im Fokus der Anklagen. Häufig wird auch religiöses Fehlverhalten in die Kritik einbezogen. Solche Kritik ist parteiisch. Sie enthält keine objektive Beschreibung sozialer und religiöser Zustände, sondern versteht sich als engagiert zugunsten derjenigen, die sie als Opfer der Entwicklung ausmacht.21
Aus der Kritik leiten sich die drohenden Zukunftsansagen her. Sie zielen zunächst auf das Geschick der Täter (z. B. 4,1–3). Aber von Anfang an ist klar, dass das Gericht nicht mit chirurgischer Präzision zwischen Tätern und Opfern unterscheidet, sondern in Gestalt von Erdbeben und militärischer Niederlage, von Verbannung und Fremdherrschaft alle betreffen wird. Zielpunkt dieser Linie ist die Ankündigung der vierten Vision: „Gekommen ist das Ende zu meinem Volk Israel“ (8,2).
Verkünder des Endes oder Umkehrprediger?Was ist der Zweck solcher Kritik und Gerichtsankündigung? Welche Theologie zeigt sich darin?
Eine vor allem in der deutschsprachigen Forschung lange Zeit vorherrschende Auffassung sieht in der Ankündigung des Endes in 8,2 den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis von Amos. Das ist dieser Auslegung zufolge zunächst so zu verstehen, dass „[a]lles, was sonst über Israels Zukunft von Amos gesagt wird, … diesen härtesten Satz aus[legt]“.22 Das „Nein des Amos“ – so der viel aufgegriffene Titel von Rudolf Smend – ist demnach nicht nur „das Nein zum sozialen Verhalten des Volkes, zu seinem Geschichtsverständnis und zum Kultus“, sondern „schließlich als Konsequenz daraus das Nein zur Existenz Israels überhaupt“.23 Werner H. Schmidt geht sogar noch weiter. Das (angebliche) Nein zur Existenz Israels sei keine „Konsequenz“ aus dem sonstigen Nein, sondern umgekehrt sei die „Ahnung vom Israel unabwendbar drohenden Unheil“ die einzige dem Propheten offenbarte Erkenntnis, während der „Schuldaufweis – unumgänglich – Aufgabe des Propheten selbst“ sei. Ziel des Ganzen sei es, „durch die Aufdeckung der Schuld die Unheilsansage … ‚bejahbar‘“ zu machen.24
Marvin Sweeney erinnert diese Auslegung an die Karikatur eines langhaarigen, Sandalen tragenden Mannes, der an einer Straßenecke mit einem Pappschild steht, auf dem „The end has come“ geschrieben ist.25 Was sollen die Vorübergehenden mit dieser Information anfangen? Sollen sie, wenn ihnen der Mann ihre Schuld aufzeigt, in die Lage versetzt werden, das „unabwendbar drohende Unheil“ zu bejahen? Die Frage stellen heißt, die Problematik der unterstellten Antwort aufzuzeigen.
Die Kritik an den Positionen, die in Amos den Verkündiger des unabwendbar drohenden Endes für Israel sehen, geht in zwei Richtungen. Zunächst hat Erich Zenger aufgezeigt, dass das Gericht, das Amos ankündigt, kein Gericht über alle und jeden ist, sondern das Gericht „über die, die ruhigen Gewissens die zunehmende Verelendung der Kleinbauern und die strukturelle Verhinderung der Menschlichkeit hinnehmen, ja betreiben“, dass solche Gerichtsbotschaft aber zugleich „Hoffnung stiften“ kann – „für die Ausgebeuteten und Zukurzgekommenen zuallererst“.26 Haroldo Reimer hat den Versuch unternommen, dies exegetisch breit zu untermauern; er kommt zu dem Schluss: „Die Unheilsankündigungen des Amos sind sozial- und schichtenspezifisch ausgerichtet, sie betreffen nicht das Volksganze.“27
Wird hier der Versuch unternommen, die „eigentliche Botschaft des (historischen) Amos zu erheben“ – vergleiche den Titel des Zengerschen Beitrags – und sozial