Amos. Rainer Kessler
der zweite auf „die Worte“ zurückbezogen ist. Nun ist es im Hebräischen möglich, die Herkunft eines Menschen direkt mit der Präposition מן (min) an den Eigennamen anzuhängen.15 Das legt nahe, dass in der Überschrift ursprünglich nur von den „Worten des Amos aus Tekoa, die er über Israel schaute“, die Rede war.
Weil es „[v]erwunderlich“ sei, dass „Amos ‚die Worte von Amos‘ schaut“, hat man hinter dieser Überschrift eine ursprünglich noch kürzere Form „Die Worte von Amos aus Tekoa“ vermutet.16 Das kann ebenso wenig bewiesen wie mit Sicherheit ausgeschlossen werden.
Bei den beiden Zeitangaben steht die Datierung nach der Synchronie der Könige von Juda und Israel an erster Stelle. Bei der literarischen Analyse war schon darauf hinzuweisen, dass sich ähnliche Überschriften in einer ganzen Reihe von Buchüberschriften finden. Dies verweist auf bewusste redaktionelle Tätigkeit und setzt bereits die Sammlung von Prophetenschriften voraus.
Anders verhält es sich mit der zweiten Zeitangabe: „zwei Jahre vor dem Erdbeben“. Sie hat, wie oben ausgeführt, zwar auch einen Bezug ins Amosbuch hinein. Doch wirklich verständlich wird sie nur, wenn ihr eine außertextliche Referenz auf ein den Leserinnen und Lesern bekanntes Erdbeben zugrunde liegt. Dies setzt eine Verschriftung in einer Zeit voraus, die „das Erdbeben“ noch in Erinnerung hatte und es in sinnvolle Beziehung zum Auftreten des Amos setzen konnte. Nach den Erkenntnissen über den Zeithorizont des kollektiven Gedächtnisses ist dabei selbst bei einer epochalen Katastrophe von nicht mehr als zwei bis drei Generationen auszugehen.17 Dem widerspricht keineswegs der Verweis in Sach 14,5 auf das „Erdbeben in den Tagen Usijas, des Königs von Juda“, denn dieser beruht nicht auf historischer Erinnerung, sondern auf Amos-Exegese.18
Von den beiden Zeitangaben in Am 1,1 ist also „zwei Jahre vor dem Erdbeben“ mit großer Sicherheit die ältere. Damit ergibt sich als ursprüngliche Überschrift über das Amosbuch: „Die Worte des Amos … von Tekoa, die er über Israel schaute … zwei Jahre vor dem Erdbeben.“19
Die Überschrift in ihrer (vermutlich) ursprünglichen Form gibt an, von wem die folgenden Worte stammen (vgl. Jer 1,1; Spr 30,1; 31,1), und hält zugleich die auffällige Tatsache fest, dass ein Mann aus dem judäischen Tekoa Worte „über Israel schaute“. Sie setzt sein Auftreten mit einem katastrophalen Erdbeben in Beziehung, das bei den Leserinnen und Lesern dieser Worte als bekannt vorausgesetzt wird. Die Tatsache, dass das Auftreten des Amos nicht mit dem geschichtlich gesehen so viel folgenreicheren Untergang des Nordreichs in Verbindung gebracht wird, lässt darauf schließen, dass diese Gestalt der Überschrift vor 722 v. Chr. entstanden ist.
Im Vergleich mit anderen Prophetenbuchüberschriften ist bemerkenswert, dass Am 1,1 keine Jhwh-Wort-Theologie enthält („Das Wort Jhwhs, das an NN erging“, Hos 1,1; Joel 1,1; Mi 1,1; Zef 1,1). „Diese Beobachtung deutet auf ein hohes Alter der Angabe in einer Zeit, als sich eine spezifische Form der Prophetenbuchüberschrift noch nicht herausgebildet hatte …“20 Nicht dagegen kann man aus der Form der Überschrift schließen, dass das Buch ursprünglich nur Amos- und keine Jhwh-Worte enthalten habe, weil damit ein falscher Gegensatz aufgemacht würde. „Die Worte des Amos“ sind durchaus Worte Jhwhs, weshalb er diese Worte „schaut“.
Später wird die Überschrift um die Aussage ergänzt, Amos sei „unter den Schafzüchtern“ von Tekoa gewesen. Dies dürfte die Erzählung von 7,10–17 voraussetzen und die dort bestehende Unklarheit, ob Amos Rinder- oder Kleinviehzüchter war, in Richtung auf die Kleinviehzucht auflösen. Die Hinzufügung in 1,1 wäre also jünger als die Einfügung von 7,10–17 in den Amos-Text.
Die weitere Ergänzung der Datierung nach den Königen von Juda und Israel setzt sowohl den Überblick über die Geschichte der Königszeit, wie er sich jetzt in den Königebüchern niederschlägt, als auch den Prozess der Sammlung von Prophetenbüchern voraus. Die Überschrift grenzt so Amos als eigenständiges Buch ab und verlangt zugleich dessen Lektüre im Zusammenhang der übrigen Prophetenbücher. Zeitlich kommt man damit frühestens in die Epoche nach der Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr.
MottoMit V. 2 geht die Präsentation des Propheten fort. Er ergreift selbst das Wort („Und er sagte“). Die ihm in den Mund gelegte Zion-Jerusalem-Theologie wird man nicht auf den Amos des 8. Jh. und seine frühen Überlieferer zurückführen können. Vielmehr haben wir es hier mit der judäischen Rezeption des Amos zu tun. Sie greift aus 3,4 den Parallelismus von „brüllen“ und „seine Stimme erheben“ sowie aus 3,8 den Parallelismus auf, dass „der Löwe brüllt“ und „Jhwh redet“.21 Der Verfasser von 1,2 kontrahiert das zu der kühnen Aussage, dass „Jhwh brüllt“.
Möglicherweise greift auch der zweite Halbvers auf den vorliegenden Text des Amosbuches zurück, indem er aus dem Kehrversgedicht in 4,6–13 das Stichwort „vertrocknen“ (יבשׁ, jābēš) aufnimmt. Das reale Vertrocknen aufgrund ausbleibenden Regens (4,7) würde dann im Motto theologisch überhöht.
Vor allem aber findet sich das Stichwort אבל (ʾābal) = „verdorren“ bzw. „trauern“ in 8,8 und 9,5 wieder, wo es auf die Bewohner der Erde bezogen ist. Zudem erscheint der „Gipfel des Karmel“ erneut in der 5. Vision, wo die Unmöglichkeit genannt wird, sich vor dem Zugriff Jhwhs „auf dem Gipfel des Karmels“ zu verstecken (9,3). In der so entstehenden Umklammerung von Am 1,2 – 9,6 lässt sich wohl bewusste redaktionelle Tätigkeit erkennen. Sie begreift mit dem einleitenden Motto sowie der abschließenden 5. Vision und dem Hymnenstück 9,5f. die Gerichtsbotschaft des Amos als Einheit in kosmischer Dimension, bevor dann in 9,7–15 die Heilsperspektive des Buchschlusses folgt.
Synthese
Bedeutung für das AmosbuchÜberschrift und Motto des Amosbuches präsentieren Amos als Propheten aus Juda, der im Namen des Gottes, der von Zion-Jerusalem aus spricht, gegen das Nordreich Israel prophezeit. Die Überschrift verweist auf die judäische Herkunft des Propheten und datiert sein Auftreten in die Zeit vor 750 v. Chr. Mit dem Verweis auf „das Erdbeben“ soll wohl angedeutet werden, dass seine Botschaft „über“ oder „gegen“ Israel sich bewahrheitete, das heißt, dass die angekündigte Katastrophe auch eingetreten ist. Das Motto, das als Ausspruch des Amos eingeführt wird, unterstreicht, dass der Gott Jhwh, in dessen Namen Amos durchgehend spricht, von Zion und von Jerusalem aus seine Stimme erhebt. Einen Jhwh neben ihm gibt es nicht. Indem die Folge seines „Brüllens“ das Verdorren bis in den Norden des Nordreichs ist, wird auch hier davon ausgegangen, dass Amos’ Botschaft letztlich den Untergang des Nordreichs Israel zutreffend angekündigt hat.
Durch die judäische Perspektive von Am 1,1–2 wird Amos für Juda rezipiert und zugleich eine entsprechende Leseanleitung gegeben. Das Amosbuch soll in judäischer Perspektive gelesen werden. Beschränkt man sich auf die ersten beiden Verse des Buches, könnte diese noch triumphalistisch gedeutet werden: Das Nordreich ist untergegangen, der Gott von Zion hat Recht behalten. Doch schon die direkt anschließenden Völkersprüche mit ihrer Judastrophe (2,4–5) zeigen, dass diese Lesart falsch wäre. In judäischer Perspektive ist der Untergang des Nordreichs eine Warnung, nicht den gleichen falschen Weg einzuschlagen, der notwendig in der Katastrophe enden müsste.
Aufnahme im ZwölfprophetenbuchDie Metapher von Jhwh als brüllendem Löwen findet in den ersten drei Büchern des Zwölfprophetenbuchs eine zweifache Aufnahme, die diese drei Bücher eng zusammenbindet. Die erste steht in Hos 11,10. Am Ende der Komposition von Hos 4–11 kündigt der Prophet den Herzensumsturz in Jhwh an, der dazu führt, dass er das berechtigte Gericht nicht vollstrecken wird. Infolgedessen werden, so 11,11, die Efraimiten aus Ägypten und Assur, wohin sie gebracht worden waren (V. 5), zitternd kommen. Ein Zusatz in V. 1022 greift sowohl das Stichwort „zitternd kommen“ als auch die Löwenmetaphorik aus Am 1,2 (und 3,8) auf: „Hinter Jhwh gehen sie her. Wie ein Löwe brüllt er. Ja, er, er brüllt, und zitternd kommen die Söhne und Töchter von Westen.“
Zum Zweiten wird Am 1,2a in Joel 4,16aα wörtlich zitiert. Dabei ist Joel 4 eindeutig der nehmende Teil,23 wie der Gesamtcharakter von Joel 4 mit seinen zahlreichen Anspielungen an Texte anderer Herkunft (besonders auffällig die wörtliche Aufnahme und Umkehrung von Mi 4,3b in Joel