Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson
fand das Spiel wieder auf größerem Raum statt, da die Angreifer nun mehr Bewegungsfreiheit hatten. Das Kurzpassspiel wurde durch längere Bälle abgelöst. Manche Mannschaften kamen damit besser zurecht als andere, und zu Beginn der Saison 1925/26 stachen einem die unberechenbaren Ergebnisse besonders ins Auge. Insbesondere Arsenal tat sich durch mangelnde Konstanz hervor. Nachdem sie am 26. September Leeds United mit 4:1 abgefertigt hatten, wurden sie am 3. Oktober von Newcastle United mit 7:0 abgeschossen.
Charlie Buchan, Arsenals rechter Innenstürmer und wahrscheinlich der größte Star der Mannschaft, war voll des Zorns und verkündete Trainer Chapman, dass er zurück in den Nordosten gehen wolle. Dort hatte er beim AFC Sunderland zuvor diverse Erfolge gefeiert. Dieses Arsenal aber, so sagte Buchan, sei eine Mannschaft ohne Konzept, eine Mannschaft ohne Aussichten auf irgendeinen Titel. Chapman muss daraufhin um sein Lebenswerk gebangt haben, und Buchans Worte dürften ihm einen besonders heftigen Stich versetzt haben – war Chapman doch durch und durch ein Planer.
Herbert Chapman stammte aus der kleinen, zwischen Sheffield und Worksop liegenden Bergbaustadt Kiveton Park. Hätte es den Fußball nicht gegeben, wäre er wohl dem Beispiel seines Vaters gefolgt und Bergarbeiter geworden. Zunächst spielte Chapman für die Stalybridge Rovers, dann für den damaligen AFC Rochdale, für Grimsby Town, Swindon Town, Sheppey United, Worksop Town, Northampton Town, Notts County und schließlich für Tottenham Hotspur. Als Spieler war er ein Wandervogel: gut genug zwar, um nicht in den Berg einfahren zu müssen, aber auch kaum mehr. Wenn er überhaupt in seiner Laufbahn als Spieler auffiel, dann durch seine blassgelben Schuhe aus Kalbsleder. Chapman trug sie in der Überzeugung, dass seine Mannschaftskameraden ihn auf diese Weise leichter erkennen würden – ein frühes Indiz für den Erfindungsgeist, der ihm als Trainer so gute Dienste leisten sollte.
Indessen begann Chapmans Trainerkarriere ohne großes Aufsehen. Nach einem Freundschaftsspiel für Tottenhams Reservemannschaft im Frühjahr 1907 lag er gerade in der Badewanne, als sein Mitspieler Walter Bull ein Angebot als Spielertrainer erwähnte, das er von Northampton Town bekommen hatte. Allerdings wollte er lieber seine aktive Karriere als Spieler fortsetzen. Chapman bekundete sein Interesse, Bull empfahl ihn weiter, und Northampton verpflichtete ihn – nachdem man sich dort zuvor vergeblich um den ehemals bei Stoke City und Manchester City aktiven Mittelläufer Sam Ashworth bemüht hatte.
Chapman wollte als Anhänger des schottischen Kurzpassspiels mit seiner Mannschaft jene „Raffinesse und Listigkeit“ zeigen, die er mit dieser Art von Fußball verband. Nach einer Reihe von vielversprechenden Erfolgen zu Beginn der Saison ließ Northampton jedoch nach. Eine Heimniederlage gegen Norwich City im November bedeutete schließlich den Absturz auf den fünftletzten Platz in der Southern League. Chapman erlebte seine erste Krise, und seine Antwort darauf war zugleich seine erste großartige Idee. Er erkannte, dass „eine Mannschaft auch zu lange angreifen kann“, und ermunterte deshalb seine Truppe, sich zurückfallen zu lassen. Sein Ziel bestand nicht so sehr darin, die gegnerischen Stürmer aufzuhalten. Vielmehr wollte er die Verteidiger des Gegners herauslocken und damit Räume für Angriffe schaffen. Mit Erfolg: Weihnachten 1908 befand sich Northampton Town an der Spitze der Southern League und fuhr schließlich mit der Rekordmarke von 90 Toren den Titel ein.
1912 wechselte Chapman zu Leeds City und führte den Verein in den beiden Spielzeiten vor dem Ersten Weltkrieg vom vorletzten Platz der zweiten Liga auf den vierten Rang. In dieser Zeit kam ihm auch die Idee zu einer seiner denkwürdigsten Neuerungen. Nachdem er die leidenschaftlichen Diskussionen einiger Spieler bei einer Runde Karten beobachtet hatte, führte er Mannschaftsgespräche ein. Der Krieg stoppte jedoch die weitere Entwicklung. Die Vorwürfe illegaler Zahlungen seitens des Vereins an Spieler erwiesen sich allerdings als mindestens genauso schädlich für Chapman und den Klub. Nachdem sich Leeds City geweigert hatte, seine Bücher offenzulegen, schloss man den Verein aus der Liga aus und sperrte Chapman im Oktober 1919 auf Lebenszeit für den Fußball.
Chapman trat daraufhin im Städtchen Selby eine Tätigkeit bei der Fabrik von Olympia Oil and Cake an. Zwei Jahre später erhielt er jedoch von Huddersfield Town ein Angebot für den Posten des Assistenten von Trainer Ambrose Langley, der vor dem Krieg an der Seite seines inzwischen verstorbenen Bruders Harry gespielt hatte. Chapman war begeistert und legte Berufung bei der FA ein. Er verwies darauf, dass er zum Zeitpunkt der angeblichen illegalen Zahlungen gar nicht für den Klub, sondern für die Barnbow-Waffenfabrik in der Nähe von Leeds gearbeitet hatte. Die FA zeigte sich gnädig, und Chapman trat sein Amt an.
Als Langley einen Monat darauf entschied, lieber Wirt eines Pubs zu werden, wurde Chapman selbst zum Trainer befördert. Er unterrichtete die Führungsetage sogleich darüber, dass man zwar eine talentierte junge Truppe beisammen habe, diese aber einen „General zur Führung“ brauche. Clem Stephenson von Aston Villa war seiner Meinung nach genau der richtige Mann dafür. Der 33-Jährige ließ sich im Spiel gern in die eigene Hälfte zurückfallen, um dann vorzustoßen und so die Abseitsfalle zu sprengen. Diese Spielweise kam Chapman sehr entgegen, maß er dem Kontern doch großen Wert bei.
Leistung und Zuschauerzahlen stiegen rasch an, während Chapman, der sich immer für das große Ganze interessierte, den Rasen und die Pressekabinen erneuern ließ. 1922 gewann Huddersfield den FA-Pokal, obwohl das Vereinsmaskottchen – ein ausgestopfter Affe – bei den Feierlichkeiten nach dem Halbfinalsieg über Notts County in Flammen aufgegangen war. Im Stadion an der Stamford Bridge zu London verwandelte Billy Smith im Finale in der letzten Minute einen Strafstoß zum Sieg über Preston North End.
Seitens der Funktionäre war man jedoch alles andere als beeindruckt. Das Spiel war schlecht und von Nickligkeiten geprägt gewesen, was die FA dazu bewog, ihr „tiefes Bedauern“ anlässlich des beobachteten Verhaltens auszudrücken, und sie zugleich die Hoffnung auf „kein vergleichbares Betragen in irgendeinem zukünftigen Finalspiel“ aussprechen ließ. Huddersfield erkundigte sich, was damit gemeint sei. Die FA entgegnete, dass der Verein Anstößigkeiten beanstanden solle, wenn sie auffielen. Die unklare Formulierung führte dazu, dass viele Leute dies als einen Tadel für Chapman verstanden. Schließlich hatte er seinen Mittelläufer Tom Wilson tiefer als gewöhnlich spielen lassen und dieser nach Meinung des Huddersfield Examiner als „großer Spielverderber“ agiert.
Aus heutiger Sicht lässt sich natürlich nicht mehr feststellen, ob die FA etwas derart Konkretes im Sinn hatte. Deutlich wird hier aber wieder die Vorstellung von einer „richtigen Spielweise“, von der Chapman nach Meinung des Verbandes abgewichen war. Die taktische Aufstellung Wilsons legt nahe, dass dieser die Anweisung zum Stören des gegnerischen Mittelstürmers Billy Roberts, wenn nicht sogar zur Manndeckung bekommen hatte – ein Indiz dafür, dass der Innenverteidiger bzw. mittlere Vorstopper bereits in der Entstehung begriffen war und möglicherweise auch ohne die Änderung der Abseitsregel gekommen wäre.
Rückblickend betrachtet scheint der Mittelläufer mit Vorstopperfunktion in der Schottischen Furche bereits implizit angelegt gewesen zu sein, auch wenn es einige Zeit dauerte, bis sich dieser Gedanke durchsetzte. Trafen zwei 2-3-5-Formationen aufeinander, standen sich ja quasi fünf Angreifer und fünf Verteidiger gegenüber. Dabei war der Mittelläufer ausnahmslos für den Mittelstürmer zuständig, wohingegen einige Mannschaften ihre nominellen Verteidiger statt der Halbstürmer bevorzugt die gegnerischen Flügelstürmer abdecken ließen. In dem Fall übernahmen dann die Außenläufer die Halbstürmer. Andere Mannschaften gingen umgekehrt vor. Sheffield Uniteds rechter Läufer W.H. Brelsford hielt fest, dass es „eine Tendenz zum Auseinanderdriften der Verteidigung“ gebe, wenn der nominelle Verteidiger sich um den Flügelstürmer kümmerte. Gleichzeitig bestätigte er aber, dass die Außenläufer schneller in der Lage seien, die gegnerischen Halbstürmer zu blocken. Mit anderen Worten: Wie so oft hatten beide Systeme ihre Vor- und Nachteile, und welchem man den Vorzug geben sollte, hing ganz von den Umständen ab.
In beiden Systemen hatte der Mittelläufer schon frühzeitig zumindest ein paar Defensivaufgaben, und an der Notwendigkeit einer ausgewogen besetzten Läuferreihe bestand so gut wie kein Zweifel mehr. „Mitunter bin ich mir gar nicht sicher, ob es sich tatsächlich lohnt, drei Läufer in einer Mannschaft zu haben, die bis zur Perfektion ihre Stürmer einsetzen können“, schrieb Brelsford im Januar 1914. „Sie alle schwelgen so sehr in diesem Part des Spieles, dass der defensive Teil darunter zu leiden neigt. Am besten wäre meiner Meinung nach eine gute Mischung aus Kraft und Technik,