Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson

Revolutionen auf dem Rasen - Jonathan Wilson


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Allerdings bleibt es ein Geheimnis, weshalb er trotz seiner Vorliebe für das Konterspiel nicht eher darauf gekommen war. Auch wenn er sich durch Autorität eigentlich nicht leicht einschüchtern ließ, mögen die Worte der FA nach dem Pokalfinale von 1922 durchaus noch eine Rolle gespielt haben – besonders, wenn man bedenkt, was der Verband mit der Aufhebung seiner Sperre auf Lebenszeit für ihn getan hatte.

      Andere waren bereits zu den gleichen Schlüssen gekommen. Zwar bedeutet das mangelnde Interesse und Bewusstsein für taktische Aspekte des Fußballs, dass heute nur wenige Beweise dafür existieren, trotzdem ist einigermaßen gesichert, dass es den dritten Verteidiger schon lange vor der Änderung der Abseitsregel gab. Allerdings stärkte die Regeländerung den Mut zum taktischen Experiment. Sie brachte die Vereine dazu, sich mit dem Dominoeffekt zu befassen, der beim Einsatz eines dritten Verteidigers an anderen Stellen auf dem Platz entstand.

      So schrieb George White beispielsweise am 3. Oktober 1925, dem Tag von Arsenals Offenbarungseid in Newcastle, in einer Kolumne im Southampton Football Echo, dass „die Saints [der FC Southampton] am Sonnabend [26.9.] im Dell [also im eigenen Stadion] gegen Bradford City aufgrund der Taktik besiegt wurden. Nach meiner Ansicht hatte die Heimmannschaft mehr vom Spiel als City und stellte auch den besseren Fußball zur Schau, sprich: Fußball, wie er gespielt wurde, bevor man die Abseitsregel änderte. Dafür war City in der Tat sehr intelligent am Ball, und die Taktik erledigte den Rest. Dementsprechend konnte City zwei Tore erzielen und die Saints dem nur einen Treffer entgegensetzen. In den Umkleidekabinen wird derzeit viel über etwas geredet, was weithin die W-Formation im Angriff genannt wird, mit der man den veränderten Spielbedingungen begegnen möchte. In dieser Formation rücken der Mittelstürmer und die beiden Außenstürmer ein gutes Stück auf dem Feld auf, wobei sie nur etwa einen Meter aus dem Abseits bleiben, und die beiden Halbstürmer rücken zurück und agieren als Fünf-Achtler. Mit anderen Worten: Sie operieren in einem Spielraum nahe den Außenläufern und hinter den drei aufgerückten Stürmern.“

      Es wäre bereits sehr bemerkenswert gewesen, wenn White über Bradfords Trainer David Menzies lediglich als einem einsamen taktischen Querdenker gesprochen hätte. Doch White kam zu dem Schluss, dass das W-System im Angriff weit verbreitet war: „Die Zahl der Torerfolge heutzutage spricht dafür, dass es sich um das am häufigsten angewandte Mittel handelt, denn immerhin kommt es so gut wie nie vor, dass sich die Halbstürmer als Torjäger hervortun. Auf der anderen Seite hingegen schießen die Mittelstürmer mit erstaunlicher Häufigkeit fünf, vier und drei Tore pro Spiel, und auch die Männer draußen auf den Flügeln spielen eine bedeutende Rolle als Torschützen.“

      Zu den größten Nutznießern der neuen Regel gehörte der FC Chelsea, wie Southampton damals Zweitligist. Der nicht mehr ganz junge schottische Nationalspieler Andy Wilson blühte in der Rolle des tief stehenden Halbstürmers noch einmal auf, da sich sein nachlassendes Tempo nun nicht mehr so gravierend auswirkte wie auf der höheren Spielposition in der Vorsaison. „Mit diesem Arrangement im Angriff“, so White weiter, „helfen die Halbstürmer als zusätzliche Außenläufer aus, wenn ihre Mannschaft verteidigen muss, und praktisch das gesamte Spiel über wird der Mittelläufer zu einem dritten Verteidiger.“

      White drängte Southampton, gegen den FC Port Vale noch am gleichen Nachmittag auf die W-Formation umzustellen. Die Saints fügten sich und kamen zu einem achtbaren Auswärtsunentschieden. Beim Sieg gegen den FC Darlington am Montag darauf nutzten sie das W erneut. Am folgenden Sonnabend – sprich: eine Woche nach Southamptons Unentschieden in Port Vale und Arsenals Niederlage in Newcastle – richtete der Southampton Football Echo seine Scheinwerfer nach Schottland, auf Dave Morris von den Raith Rovers. Er galt als Musterbeispiel des modernen, tief spielenden Mittelläufers. White schrieb: „Er nimmt seine Position ein wenig vor und genau zwischen den Verteidigern ein, während sich die Außenläufer um die gegnerischen Außenstürmer kümmern, wodurch es die Verteidiger und der Mittelläuferverteidiger mit den drei Halbstürmern des Gegners zu tun haben [die Begrifflichkeiten sind an dieser Stelle ein wenig verworren – White meint den Mittelstürmer, den Halbrechten und den Halblinken]. In dieser Formation operieren die beiden Halbstürmer näher am Mittelläufer als bisher, und die Schaltzentrale versorgt die beiden, die dann ihrerseits den Angriff eröffnen, sobald sie eine Möglichkeit dazu sehen.“

      Das W-System im Angriff verbreitete sich offenkundig sehr schnell – was durchaus erstaunlich ist, gab es damals doch noch keine Fernsehberichterstattung. Da so unterschiedliche Teams wie Southampton und Raith es schon Anfang Oktober einsetzten, scheint es nach sieben oder acht Spieltagen der neuen Saison ein landesweites Phänomen gewesen zu sein. Arsenal war ganz gewiss nicht der erste Klub, der den Mittelläufer zum dritten Verteidiger umfunktionierte. Dort brachte man das neue System jedoch regelmäßiger und erfolgreicher zum Einsatz als irgendwo sonst.

      Buchan vertrat zunächst die Meinung, die auch Chapman teilte, dass durch das Zurückziehen des Mittelläufers eine Unterzahlsituation im Mittelfeld entstand. Er schlug vor, dass er sich aus seiner rechten Innenstürmerposition zurückfallen lassen könnte. Damit wäre ein nicht zu starres und leicht asymmetrisches 3-3-4 entstanden – ein Zwischending aus 2-3-5 und W-M-System. Chapman schätzte die Torgefahr Buchans jedoch zu sehr, um sie aufs Spiel setzen zu wollen. Deshalb übertrug er die Rolle des zurückgezogenen Innenstürmers Andy Neil. Da Neil der dritten Mannschaft angehörte, kam dieser Schritt zwar zunächst etwas überraschend, erwies sich jedoch als durchdachte Entscheidung, denn Chapman wusste genau, welche Fertigkeiten wo gebraucht würden. Chapmans spätere rechte Hand Tom Whittaker erinnerte sich, wie sein Boss Neil einmal als „lahm wie ein Trauerzug“ beschrieb. Gleichzeitig gab Chapman jedoch zu verstehen, dass ihm das egal sei, weil „er Ballkontrolle besitzt und mit dem Fuß auf der Kugel stehen bleiben kann, während er sich etwas überlegt“.

      Nachdem man dann noch Jack Butler gebeten hatte, seine Kreativität etwas zu zügeln und als zurückgezogener Mittelläufer zu agieren, führte das System augenblicklich zum Erfolg. Zwei Tage nach dem Debakel in Newcastle schlug Arsenal mit Buchan, der durch das neue System wieder besänftigt worden war, West Ham United im Upton Park mit 4:1. Am Ende der Saison belegte Arsenal schließlich hinter Huddersfield Town den zweiten Rang, was die bis dahin beste Platzierung für einen Klub aus London bedeutete. Der Start in die darauffolgende Saison verlief jedoch schwach. Das lag zum einen an einer gewissen Selbstüberschätzung, die sich mit dem Erfolg eingeschlichen hatte. Zum anderen begannen gegnerische Mannschaften, Butlers fehlende Eignung im defensiven Bereich auszunutzen. Schon wurden Stimmen laut, die eine Rückkehr zum klassischen 2-3-5 forderten. Chapman sah das Problem jedoch eher darin, dass die Revolution nicht weit genug gegangen sei. Er brauchte als Mittelläufer einen Spieler, der die ihm zugedachte Rolle ohne Murren akzeptierte. Chapman fand ihn in Herbie Roberts, einem schlaksigen Rotschopf, den er für 200 Pfund von Oswestry Town holte.

      Whittaker zufolge war Roberts intelligent und – noch wichtiger – tat, was man ihm sagte. Er mochte ein einseitig begabter Spieler gewesen sein, brachte aber genau die richtigen Fähigkeiten für seine Position mit. Seine Aufgabe, so schrieb Whittaker, war „das Abfangen aller Bälle in der Mitte, die er dann entweder per Kopf oder mit einem kurzen Pass zu einem Mitspieler beförderte. Seine Unfähigkeit bei harten oder weiten Schüssen fiel dabei nicht ins Gewicht.“ Bernard Joy, der letzte für England spielende Amateur und spätere Journalist, stieß 1935 als Roberts’ Stellvertreter zu Arsenal. „Er war ein geradliniger Spieler“, schrieb Joy in seinem Buch Forward Arsenal!, „und Butler in technischer Hinsicht deutlich unterlegen, aber er passte von seiner Physis und seinem Temperament genau in die Rolle, die er ausfüllte. Er war zufrieden mit seiner Position in der Abwehr, nutzte seine Größe, um den Ball mit seinem Rotschopf wegzunicken, und hatte die Ruhe, auch unter starkem Druck und lauten Schlachtgesängen gelassen weiterzuspielen. Seine seelenruhige Art machte ihn zum Eckpfeiler von Arsenals Verteidigung und begründete einen neuen Stil, der auf der ganzen Welt nachgeahmt wurde.“ Und das war in gewisser Weise auch das Problem. Arsenal spielte zwar bald höchst erfolgreich. Der Stil jedoch wurde von Mannschaften imitiert, die nicht über die dafür nötigen Spieler bzw. Mittel verfügten und das System lediglich zum Zerstören des Spiels einsetzten.

      1927 verlor Arsenal noch das Finale im FA-Pokal gegen Cardiff City. 1929 musste Arsenal-Boss Norris gehen, nachdem durch eine Untersuchung des Verbandes finanzielle Unregelmäßigkeiten ans Licht gekommen waren. Schließlich aber stellten sich


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