Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson
das war in gewisser Weise auch das Problem: Es war ganz einfach leichter, einen guten defensiven als einen guten offensiven Mittelläufer zu finden. Der kreative Teil der Chapman’schen Gleichung war noch schwerer zu lösen. Halbstürmer mit dem Format eines Alex James waren rar gesät, während es schwerfällige Vorstopper wie Herbie Roberts wie Sand am Meer gab. „Andere Vereine versuchten, Chapman nachzuahmen“, meinte Jimmy Hogan. „Die hatten aber nicht die Männer dafür, und das Ergebnis war meiner Meinung nach der Untergang des britischen Fußballs: Der Schwerpunkt wurde auf die Defensive gelegt, das Spiel mit den lang gedroschenen Bällen entstand und löste das konstruktive Spiel ab. Durch diese Spielweise verloren unsere Spieler das Gefühl für den Ball.“
Diese Entwicklung mochte schon vor der Änderung der Abseitsregel ihren Anfang genommen haben, wurde aber durch Chapmans Reaktion auf die Regeländerung noch forciert. Die Folge des Spiels mit drei Verteidigern war, so Glanville, „bereits bestehende Schwächen zu verstärken und zu verschärfen“, weil sie die Denkfaulheit seitens der Trainer und Spieler förderte. Es ist nun einmal weitaus weniger anstrengend, lange Bälle irgendwie nach vorne zu bolzen, als kreativ zu spielen.
Chapman jedoch blieb ungerührt. „Unser System, das so oft von anderen Vereinen kopiert wird, ist in letzter Zeit zum Gegenstand von Kritik und Diskussionen geworden“, erklärte er Hugo Meisl. „Es gibt nur einen Ball, und nur ein Mann kann ihn zu einem bestimmten Zeitpunkt spielen, während die anderen 21 Spieler zu Zuschauern werden. Man kümmert sich daher nur um die Geschwindigkeit, das Gespür, die Fähigkeiten und die Vorgehensweise des Spielers in Ballbesitz. Im Übrigen sollen die Leute über unser System doch denken, was sie wollen. Es hat sich definitiv als jenes erwiesen, das den individuellen Qualitäten unserer Spieler am besten gerecht wird und uns von Sieg zu Sieg getragen hat. … Warum sollte man ein funktionierendes System ändern?“
Chapman hat den Übergang von einer Spielergeneration zur nächsten nicht mehr miterlebt. Am 1. Januar 1934 fing er sich während eines Spiels gegen den FC Bury eine Erkältung ein. Dennoch beschloss er, am folgenden Tag Arsenals nächsten Gegner Sheffield Wednesday zu beobachten. Chapman kehrte mit hohem Fieber nach London zurück, ignorierte den Rat der Vereinsärzte und sah sich das Spiel der Reservemannschaft gegen Guildford City an. Als er nach Hause kam, legte er sich ins Bett, doch war zu diesem Zeitpunkt bereits eine Lungenentzündung ausgebrochen. Am frühen Morgen des 6. Januar starb er, zwei Wochen vor seinem 56. Geburtstag.
Dennoch gewann Arsenal noch die Meisterschaft und fuhr im darauffolgenden Jahr den dritten Titel in Folge ein. Einige Monate nach seinem Tod wurde eine Sammlung der Schriften Chapmans veröffentlicht. Darin bedauert auch er erstaunlicherweise das Ende eines weniger stark vom Wettbewerb geprägten Zeitalters: „Es kommt für eine Mannschaft nicht mehr darauf an, gut zu spielen. Man muss Tore erzielen, egal wie, und die Punkte holen. Die Qualität einer Mannschaft wird am Tabellenplatz gemessen. […] Vor 30 Jahren durften Männer noch ihr künstlerisches Handwerk zur Schau stellen. Heute müssen sie ihren Beitrag zu einem System leisten.“ Mit dem nun vorherrschenden Wettbewerbsgedanken ging eine Aufwertung der Taktik einher – und damit der Notwendigkeit, den Einzelnen in den Dienst der Mannschaft zu stellen.
KAPITEL 4
Wie der Faschismus das Kaffeehaus vernichtete
Herbert Chapman war ein Einzelfall. Er hatte mit einer einzigen Änderung auf ein spezifisches Problem reagiert, und der englische Fußball folgte ihm, weil er die Wirksamkeit seines Systems mit drei Verteidigern erkannte. Keineswegs aber war damit ein Zeitalter englischer Taktiker eingeläutet. „Leider blieb der alte Gipsabdruck erhalten“, schrieb Willy Meisl. „Es gab keinen Fußballmagier oder -professor, der ihn in Stücke geschlagen und in eine andere Form gegossen hätte.“ Wenn überhaupt, tat man lieber so, als ob es die taktische Veränderung nie gegeben hätte und die altehrwürdige Schottische Furche intakt geblieben sei.
Als die FA die Rückennummern 1939 zur Pflicht machte, ignorierte sie sämtliche neueren Entwicklungen und legte fest, dass der rechte Verteidiger die 2 tragen musste, der linke Verteidiger die 3, der rechte Läufer die 4, der Mittelläufer die 5, der linke Läufer die 6, der Rechtsaußen die 7, der rechte Halbstürmer die 8, der Mittelstürmer die 9, der linke Halbstürmer die 10 und der Linksaußen die 11 – ganz so, als ob das 2-3-5 immer noch der Standard sei und alle anderen Formationen nichts weiter als Variationen dieses Grundprinzips. Mannschaften, die im W-M-System spielten, wurden damit nach moderner Schreibweise 2, 5, 3 – 4, 6 – 8, 10 – 7, 9, 11 aufgestellt. In Großbritannien werden deshalb die Begriffe „centre-half “, also die Position des Mittelläufers, und „centre-back“, die Position des Innenverteidigers, synonym verwendet.
Die Zeitungen ignorierten die Realität ebenfalls und druckten die Mannschaftsaufstellungen noch bis in die 1960er Jahre so ab, als wenn jede Elf 2-3-5 spielte. Zwar wurde beim Spiel des FC Chelsea gegen die Budapester Mannschaft Vörös Lobogó im Jahr 1954 der Versuch unternommen, die ungarische Aufstellung in der Stadionzeitung korrekt wiederzugeben – man war infolge von Englands 3:6-Niederlage gegen Ungarn in Wembley ein Jahr zuvor auf die taktischen Feinheiten aufmerksam geworden. Doch beharrte man weiterhin darauf, dass das eigene W-M-System eigentlich einem 2-3-5 entsprach. Nur aufgrund dieser konservativen englischen Sichtweise war es Peter Doherty, Trainer der Doncaster Rovers, in den 1950er Jahren möglich, mit der List eines gelegentlichen Trikottausches seiner Spieler Verwirrung bei den Gegnern zu stiften. Schließlich waren die ja daran gewöhnt, ihre direkten Gegenspieler an der Rückennummer zu erkennen.
Nummerierungsschema des 2-3-5
Nummerierungsschema des W-M-Systems in England
Bevor die Bedeutung der Taktik allgemein anerkannt wurde, musste das Spiel erst von einer Gesellschaftsschicht aufgegriffen werden, die es instinktiv theoretisierte und analysierte. Einer Schicht, die sich bei der abstrakten Spielvorbereitung ebenso wohlfühlte wie bei der Umsetzung auf dem Platz. Einer Schicht, der nicht jenes Misstrauen gegenüber dem Intellektualismus innewohnte, das in Großbritannien vorherrschte. Genau dies war im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit der Fall. Was die Uruguayer und Argentinier praktisch vorführten, wurde von einem – größtenteils jüdischen – Teil des österreichischen und ungarischen Bürgertums in erklärende Worte gefasst. Die moderne Spielauffassung und die Diskussion darüber stammen aus den Kaffeehäusern Wiens.
In den 1920er Jahren boomte der Fußball in Österreich. 1924 wurde eine Profiliga mit zwei Klassen gegründet. Im November des gleichen Jahres fragte das Neue Wiener Journal: „Und welche Stadt sieht Sonntag für Sonntag selbst bei wenig einladendem Wetter zumindest 40.000 bis 50.000 Zuschauer auf allen Sportplätzen versammelt? Wo noch interessiert sich die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung für den Ausgang der Wettspiele, so dass man in den Abendstunden auf der Straße, in der Elektrischen, in den Gast- und Kaffeehäusern, im Kino und fast jeden zweiten Menschen von den Ergebnissen der Meisterschaftsspiele und von den Aussichten der Klubs in den nächsten Kämpfen sprechen hört?“ Die Antwort war simpel: Abgesehen von Großbritannien nirgendwo sonst in Europa.
Doch während in Großbritannien die Spiele im Pub diskutiert wurden, tat man dies in Österreich im Kaffeehaus. In Großbritannien hatte der Fußball seinen Ursprung an den Privatschulen, war in den 1930er Jahren aber längst zu einem Sport der Arbeiterklasse geworden. In Mitteleuropa verlief die Entwicklung weniger geradlinig. Hier war Fußball von der englandverrückten Mittelklasse eingeführt worden, die Arbeiterklasse hatte ihn rasch übernommen, bevor die Intellektuellen das Spiel schließlich an sich rissen, obgleich sich die Mehrheit der Spieler weiterhin aus der Arbeiterschaft rekrutierte.
In Mitteleuropa war der Fußball fast ausschließlich ein urbanes Phänomen, das sich auf Wien, Budapest und Prag konzentrierte. In diesen Städten war auch die Kaffeehauskultur am stärksten verwurzelt. Das Kaffeehaus