Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson
sportlicher Leistung liegt in der Unmöglichkeit, bestimmte zentrale Fähigkeiten mit gezielter Überlegung zu steuern. Die notwendige Handlung gewährt ganz einfach nicht genügend Zeit für aufeinanderfolgende bewusste Entscheidungen.“ Und Polgar schrieb über Sindelar: „Er hatte sozusagen Geist in den Beinen, es fielen ihnen, im Laufen, eine Menge Überraschendes, Plötzliches ein, und Sindelars Schuss aufs Tor traf wie eine glänzende Pointe, von der aus der meisterliche Aufbau der Geschichte, deren Krönung sie bildete, erst recht zu verstehen und zu würdigen war.“
Im Dezember 1932 kam es zur bis dahin größten Bewährungsprobe des „Wunderteams“: England. England stellte bei Weitem nicht die beste Mannschaft der Welt, stand als Mutterland des Fußballs aber weltweit weiterhin in hohem Ansehen. Zudem war England zu Hause gegen nicht-britische Gegner noch ungeschlagen. Zwar hatte Spanien 1929 Englands Verwundbarkeit durch einen Sieg in Madrid offengelegt. Zwei Jahre später wurde es in Highbury, London, jedoch mit 7:1 vom Platz gefegt. Beflügelt durch den Sieg gegen Schottland waren viele Österreicher indessen äußerst hoffnungsfroh. Der stets zum Pessimismus neigende Meisl allerdings machte sich Sorgen und wandte sich an seinen alten Freund und Mentor Jimmy Hogan.
Von England enttäuscht, war Hogan 1921 in die Schweiz gezogen und hatte dort drei Jahre lang die Young Boys Bern und später den FC Lausanne-Sport trainiert. Danach ging er zurück nach Budapest und war beim nun als FC Hungária firmierenden MTK tätig. Schließlich folgte er einem Ruf als Berater des DFB nach Deutschland, wo er gleichzeitig den Dresdner SC trainierte. Zu seinen dortigen Schülern gehörte Helmut Schön, der beim Erfolg der westdeutschen Auswahl bei der WM 1954 Sepp Herbergers Assistent war und das Land bei der WM 1974 auch selbst zum Sieg führen sollte. Wo immer er sich gerade aufhielt, propagierte Hogan einen technisch versierten Fußball und trug so dazu bei, dass der englische Fußball vom europäischen Festland bald überholt wurde.
Zunächst begegnete man ihm in Deutschland mit Misstrauen. Als sich diverse Trainer über seine mangelnden Deutschkenntnisse beschwerten, bat ihn der DFB, sich durch einen auf Deutsch gehaltenen Vortrag zu bewähren. Bereits der Anfang war holprig: Hogan stellte sich versehentlich als „einen Professor der Sprachen, nicht einen Meister des Fußballs“ vor. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Als er die Bedeutung des aktiven Mitdenkens beim Fußball betonen wollte, erklärte er seinem amüsierten Publikum, dass Fußball nicht nur ein Spiel des Körpers, sondern auch des Ausschusses sei. Hogan wurde mit Hohn und Spott bedacht, woraufhin er eine zehnminütige Pause für sich verlangte und das Rednerpult verließ.
Als er zurückkehrte, trug Hogan seine Spielkleidung von den Bolton Wanderers. Er zog seine Socken und Schuhe aus, verkündete, dass drei Viertel der deutschen Spieler nicht ordentlich gegen einen Ball treten könnten, und donnerte mit seinem rechten Fuß einen Ball barfuß in eine gut 15 Meter entfernte Holzvertäfelung. Als der Ball zu ihm zurücksprang, unterstrich er die große Bedeutung der Beidfüßigkeit und drosch einen weiteren Schuss gegen die Paneele, dieses Mal mit dem linken Fuß. Das Holz zerbrach daraufhin in zwei Teile. Nachdem Hogan auf diese Weise seine Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte, unternahm er eine Vortragsreise und sprach in nur einem einzigen Monat zu insgesamt 5.000 Fußballern im Dresdner Raum. Als Hogan 1974 starb, verfasste der damalige DFB-Generalsekretär Hans Paßlack einen Brief an Hogans Sohn Frank, in dem er schrieb, Hogan sei der Begründer des „modernen Fußballs“ in Deutschland gewesen.
Da ihm die politische Situation Sorgen bereitete, verließ Hogan Deutschland in Richtung Racing Club de Paris. Dabei nähte er seine Ersparnisse in den Saum seiner Knickerbockers ein, um die Beschränkungen bei der Devisenausfuhr zu umgehen. In Frankreich hatte er allerdings Probleme, in einem mit Stars gespickten Team die Disziplin aufrechtzuerhalten, und kehrte schließlich nach Lausanne zurück. Dort fand er dann keine gemeinsame Linie mit dem Vereinsvorsitzenden, der der Ansicht war, dass man für vergebene Chancen Strafgelder an die Spieler verhängen müsse. Als Hogan schließlich den Ruf Meisls vernahm, lechzte er geradezu nach einer Herausforderung.
Man muss dazu sagen, dass Österreich ihn oder zumindest jemanden von außen benötigte, um eine Bestätigung der eigenen Fähigkeiten zu finden. Zwei Wochen vor dem Spiel in London konnte die Mannschaft gegen eine bunt zusammengewürfelte Wiener Elf nur mit Mühe sowie einem kränkelnden und weit unter seinen Möglichkeiten bleibenden Matthias Sindelar mit 2:1 gewinnen. Ein Problem waren ganz offensichtlich die Nerven, überdies war man wegen der Fitness von Adolf Vogl und Friedrich Gschweidl besorgt. Nichtsdestotrotz war ganz Österreich gespannt. Auf dem Heldenplatz versammelte sich eine große Menschenmenge, um der über drei Lautsprecher übertragenen Radioreportage zu lauschen. Der Finanzausschuss des Parlaments unterbrach sogar extra seine laufende Sitzung, um der Übertragung beiwohnen zu können.
Das „Wunderteam“ legte einen suboptimalen Start hin, und England führte nach 26 Minuten bereits mit zwei Toren. Beide Treffer hatte Blackpools Stürmer Jimmy Hampson erzielt. In der 51. Minute verkürzte Österreich, nachdem Karl Zischek durch eine Kombination zwischen Sindelar und Anton Schall entscheidend in Szene gesetzt worden war. In der folgenden Druckphase traf Walter Nausch noch den Pfosten, doch England fing sich bald wieder. Schließlich fälschte der sich wegduckende Schall einen Freistoß von Eric Houghton ab, und der Ball flog an Rudi Hiden vorbei ins österreichische Tor. Mit vollendeter Ballkontrolle und einem kühlen Abschluss schoss Sindelar zwar noch das 2:3, doch beinahe im Gegenzug stellte England durch einen Distanzschuss von Sam Crooks den alten Abstand wieder her. Dennoch herrschte Ratlosigkeit bei den Engländern, wenn sich die Österreicher nach Ballverlust ganz routiniert in die Verteidigung zurückfallen ließen. Die Österreicher hingegen spielten weiterhin überlegen und zogen ihr Passspiel auf, dem allerdings der Druck nach vorne fehlte. Zwar traf Zischek fünf Minuten vor dem Abpfiff noch einmal nach einer Ecke, doch kam dieser Treffer zu spät, und Österreich verlor mit 3:4. Die technisch hochwertige Leistung der Österreicher aber blieb in prägender Erinnerung. „Eine Offenbarung“, meinte die Daily Mail, während die Times den Österreichern den „moralischen Sieg“ zusprach und von ihrem „geschickten Passspiel“ schwärmte.
Hugo Meisl, der Vater des „Wunderteams“.
Zwei Jahre später trat eine als Wiener Auswahl verkaufte Elf, die im Grunde genommen die österreichische Nationalmannschaft darstellte, in Highbury gegen Arsenal an. Damals nämlich sah die FIFA es nicht gerne, wenn Vereins- und Nationalmannschaften gegeneinander spielten. Die Österreicher verloren mit 2:4, woraufhin Roland Allen im Evening Standard kommentierte: „Sobald Österreich gelernt hat, wie es seine Cleverness in zählbare Erfolge ummünzt, und sobald es … das Gewinnen von Fußballmatches so hervorragend organisiert, wie es das bereits mit der Zähmung des Balls getan hat, dann wird es [alle] aufmerken und davon Notiz nehmen lassen.“ Dem englischen Fußball hatte die Stunde geschlagen, doch niemand in England realisierte den Ernst der Lage.
Stattdessen hielt man die beiden Spiele für eine Bestätigung des Klischees, dass den Mannschaften vom europäischen Festland in den letzten 30 Spielminuten die Durchschlagskraft fehle. Nun war das im Hinblick auf die Österreicher zwar nicht ganz falsch. Allgemeinere Lehren über die Zirkulation des Balles wurden aber trotzdem nicht gezogen. Meisls Angewohnheit, in idealistischen Wendungen zu reden, verbesserte die Situation auch nicht gerade. Das englische Angriffsspiel, urteilte Meisl, sei für den Mitteleuropäer nicht schön anzuschauen. Dieses Spiel bestünde darin, den Abschluss vor dem Tor dem Mittelstürmer und den Flügelstürmern zu überlassen, während man den Halbstürmern die Aufgabe des Bindeglieds zwischen Abwehr und Angriff zuweise und sie mehr als Außenverteidiger denn als Eingreifer einsetze. Der Mittelstürmer, der auf dem europäischen Festland wegen seiner technischen Beschlagenheit und taktischen Intelligenz der Führungsspieler sei, beschränke seine Aktivitäten in England darauf, die Fehler der gegnerischen Abwehr auszunutzen.
Meisl war jedoch voll des Lobes ob des britischen Spieltempos und meinte, dass es seine eigenen Spieler „verwirrt und desorientiert“ habe: Dass das schnelle Passspiel der Engländer mit seinen hohen Bällen nicht so präzise sei, glichen sie durch hohes Tempo und eine körperbetonte Spielweise aus, meinte Meisl. Damit bestätigte er die gängigen Klischees: auf der einen Seite das körperlich starke,