Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson

Revolutionen auf dem Rasen - Jonathan Wilson


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und durch die Boheme geprägte Atmosphäre auszeichnete. Dort lasen die Leute Zeitung, holten ihre Post und gereinigte Wäsche ab und spielten Karten und Schach. Kandidaten aus der Politik nutzten das Kaffeehaus als Bühne für Versammlungen und Debatten, während Intellektuelle und ihre Gefolgsleute die Ereignisse des Tages diskutierten: Kunst, Literatur, Theater – und im Laufe der 1920er Jahre in wachsendem Maße auch Fußball.

      Zu jedem Klub gehörte ein bestimmtes Kaffeehaus, in dem sich Spieler, Anhänger, Funktionäre und die schreibende Zunft mischten. Die Fans von Austria Wien beispielsweise trafen sich im Café Parsifal und die von Rapid Wien im Café Holub. Der Nabel der Fußballszene in der Zwischenkriegszeit war jedoch das Ring-Café. Zunächst kam dort vor allem die englandverrückte Kricket-Gemeinde zusammen. Bis 1930 war es dann zum Zentrum der Fußball-Gemeinde geworden. Einem in den Nachkriegsjahren erschienenen Artikel in der Welt am Montag zufolge war es eine Art revolutionäres Parlament von Fußballfanatikern, in dem kein Verein die Oberhand gewinnen konnte, weil ganz einfach jeder Wiener Fußballklub vertreten war.

      Die Wirkung des Fußballs auf die Kultur im weiteren Sinne lässt sich durch die Karriere von Rapid Wiens Mittelstürmer Josef Uridil verdeutlichen. Er stammte aus einem der Wiener Vororte – in jener Zeit unruhige Arbeiterviertel – und wurde für seine körperbetonte Spielweise gefeiert, entsprach sie doch den proletarischen Wurzeln des Vereins. Uridil war der erste Fußballheld der Kaffeehäuser. 1922 widmete ihm der bekannte Kabarettist Hermann Leopoldi das Lied „Heute spielt der Uridil“. Es hatte einen solchen Erfolg, dass Uridil selbst unter denjenigen berühmt wurde, die sich nicht für Fußball interessierten. Er begann, für eine Reihe von Produkten – von Seife bis hin zu Fruchtsaft – Werbung zu machen, und trat ab Februar 1924 als Ansager in einer Konzerthalle auf. Zur selben Zeit zeigten die Kinos den Film Pflicht und Ehre, in dem Uridil sich selbst spielte.

      In dieser Atmosphäre zündete auch Hugo Meisls „Wunderteam“. Die österreichische Nationalmannschaft zeigte bereits in den späten 1920er Jahren eine Aufwärtstendenz. So verpasste sie beim ersten Coupe Internationale européenne, einem von mehreren europäischen Nationalmannschaften ausgespielten Pokal, nur knapp den Sieg. An diesem über 30 Monate zwischen 1927 und 1930 ausgetragenen und im Ligamodus gespielten Turnier nahmen neben Österreich die Tschechoslowakei, Ungarn, Italien und die Schweiz teil, nicht jedoch die Teams von der britischen Insel. Österreich verlor drei der ersten vier Spiele, fertigte dann Ungarn mit 5:1 und den späteren Sieger Italien mit 3:0 ab und wurde mit einem Punkt Rückstand Zweiter. Im Ring-Café war man unzufrieden und plädierte für eine Berufung Matthias Sindelars. Bei Sindelar handelte es sich um einen talentierten, fast schon intellektuellen Stürmer, der für die stark mit dem jüdischen Bürgertum in Verbindung gebrachte Austria Wien antrat.

      Sindelar gehörte zu einem neuen Schlag von Mittelstürmern. Er war ein Spieler von solch schmächtiger Statur, dass er den Spitznamen „Der Papierene“ erhielt. Der Hauch von Genie, der ihn umgab, veranlasste einige Schriftsteller zu einem Vergleich seiner Kreativität mit ihrer eigenen: Er hatte ein gutes Gefühl für Timing und Dramaturgie sowie ein Gespür für das Spontane und verfügte über eine ausgefeilte Technik. In der 1978 erschienenen Ausgabe seiner Anekdotensammlung Die Erben der Tante Jolesch schrieb der Schriftsteller Friedrich Torberg, einer der führenden Köpfe der Kaffeehaus-Autoren, über Sindelar: „[E]r verfügte über einen so unglaublichen Variations- und Einfallsreichtum, dass man tatsächlich niemals wissen konnte, welche Spielanlage von ihm zu erwarten war. Er hatte kein System, geschweige denn eine Schablone. Er hatte – man wird diesen Ausdruck gestatten müssen – Genie.“

      Hugo Meisl dagegen hatte seine Zweifel. Er ließ Sindelar zwar 1926 im Alter von 23 Jahren in der Nationalmannschaft debütieren. Doch obwohl Meisl zu den Vorreitern einer neuen Auffassung von Fußball gehörte, war er tief in seinem Herzen konservativ geblieben. Was auch immer er in taktischer Hinsicht tat, erinnerte an die Glasgow Rangers von 1905, deren Stil er auf nostalgische Art und Weise wiederzubeleben versuchte. Meisl bestand auf einem von Kombinationen geprägten Passspiel, ignorierte den Trend zum dritten Verteidiger und war der Überzeugung, dass ein Mittelstürmer vor Kraft strotzen sollte – ähnlich wie Uridil.

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       Matthias Sindelar, der „Papierene“.

      Auch wenn Uridil und Sindelar beide Söhne mährischer Einwanderer waren, beide in Vororten Wiens aufwuchsen und beide zu Stars wurden – auch Sindelar spielte in einem Kinofilm mit und besserte sein Gehalt als Fußballer durch Werbung für Armbanduhren und Milchprodukte auf –, hatten sie ansonsten doch nur wenig gemeinsam. Im Gegensatz zum zerbrechlichen Kreativgeist Sindelar galt Uridil als „Tank“, der sich dank seiner Körperkraft im Spiel durchsetzte.

      1931 gab Meisl dem öffentlichen Druck schließlich nach, berief Sindelar und machte ihn zum Stammspieler der Nationalmannschaft. Die Wirkung war außerordentlich. Am 16. Mai 1931 besiegte Österreich die schottische Auswahl mit 5:0. Zwar traten die Schotten ohne Spieler der Rangers oder Celtics an, hatten sieben Debütanten in ihren Reihen und verloren aufgrund einer Verletzung frühzeitig Daniel Liddle. Zudem war Colin McNab nach einem Schlag an den Kopf gegen Ende der ersten Halbzeit nur noch physisch anwesend. Dennoch ließ der Daily Record keinen Zweifel daran, was er vor Ort hatte miterleben dürfen. „Deklassiert!“, hieß es in dicken Lettern. Nur die Heldentaten von Torhüter John Jackson hatten eine noch schlimmere Demütigung verhindert.

      Zwei Tage zuvor war auch England in Paris von Frankreichs Elf mit 2:5 nach Hause geschickt worden. Somit markiert diese Woche aus heu tiger Sicht einen Meilenstein. Nun war offensichtlich geworden, dass die übrige Welt Großbritannien fußballerisch eingeholt hatte – auch wenn das britische Zeitungen und Fußballfunktionäre natürlich immer noch anders sahen. Die Arbeiter-Zeitung fing die Stimmung perfekt ein. „War es elegisch, den Abstieg eines Ideals, das die Schotten bis gestern für uns gewesen sind, sehen zu müssen, so war es umso erquickender, Zeuge eines Triumphs zu sein, der einer wirklich künstlerischen Leistung entsprach“, schrieb sie. „Elf Fußballer, elf Professionals – gewiss, es gibt noch wichtigere Dinge in der Welt, aber es ist schließlich doch ein Dokument wienerischen Schönheitssinnes, wienerischer Fantasie und wienerischer Begeisterung.“

      Doch das „Wunderteam“ fing gerade erst an. Es spielte ein traditionelles 2-3-5, hatte in Josef Smistik einen eleganten Mittelläufer und mit Sindelar einen unorthodox auftretenden Mittelstürmer, der ein solch flüssiges Kombinationsspiel ermöglichte, dass das System als „Scheiberln“ bzw. im Englischen als „Danubian Whirl“, also Donauwirbel, bekannt wurde. Mit dem Scheiberln gewann Österreich neun der folgenden elf Spiele bei zwei Unentschieden. Man erzielte dabei 44 Tore und gewann 1932 die zweite Auflage des Europapokals der Nationalmannschaften. In den Kaffeehäusern herrschte Jubelstimmung: Ihre Lebensart hatte sich durchgesetzt, und das hauptsächlich wegen Sindelar, einem Spieler, der in der ihnen eigenen, romantisierenden Sichtweise das fleischgewordene Kaffeehaus war. „Er spielte Fußball, wie ein Meister Schach spielt: Mit weiter gedanklicher Konzeption, Züge und Gegenzüge vorausberechnend, unter den Varianten stets die aussichtsreichste wählend“, schrieb der Theaterkritiker Alfred Polgar in seinem Nachruf in der Pariser Tageszeitung, einem wegen seiner Verknüpfung so vieler grundsätzlicher Aspekte sehr bemerkenswerten Artikel.

      Der angesprochene Nachruf enthielt zunächst die Analogie zum Schach, die auch Galeano zur Beschreibung der Uruguayer in den 1920er Jahren verwendet hatte und die Anatolij Selenzow im Zusammenhang mit Walerij Lobanowskyjs Dynamo Kiew später ebenfalls gebrauchen sollte. Außerdem wurde der Einfluss Jimmy Hogans und seiner Besessenheit mit der sofortigen Ballkontrolle spürbar, als Polgar nämlich fortfuhr: „[Er war] ein Fallensteller und Überrumpler ohnegleichen, unerschöpflich im Erfinden von Scheinangriffen, denen, nach der dem Gegner listig abgeluchsten Parade, erst der rechte und dann unwiderstehliche Angriff folgte.“

      Vielleicht am bemerkenswertesten ist jedoch, dass Polgar die Gedanken des Evolutionsbiologen Stephen Jay Gould über die „Allgemeingültigkeit der Exzellenz“ vorwegnahm. „Ich bestreite die Unterschiede gar nicht, die es bei Stil und Inhalt zwischen sportlicher und gewöhnlicher wissenschaftlicher Leistung gibt“, so vermerkte Gould, „doch liegen wir gewiss falsch, wenn wir den Sport als einen Hort


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