Revolutionen auf dem Rasen. Jonathan Wilson

Revolutionen auf dem Rasen - Jonathan Wilson


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alledem war Pozzo englandbegeistert genug, um sich für den Fairplay-Gedanken zu begeistern und die verderblichen Folgen der Siegprämien, die bald zur Normalität in der Liga wurden, zu verurteilen. „Es geht nur noch um das Siegen um jeden Preis“, sagte er. „Hier zeigt sich die bittere Missgunst gegenüber dem Gegner. Der alles beherrschende Gedanke ist das Ergebnis und seine Auswirkungen auf die Tabelle.“

      Pozzo tendierte zu einem klassischen 2-3-5. Allerdings fehlte ihm für ein gutes Funktionieren des Systems noch ein Mittelläufer mit ausreichender Schnelligkeit und Kreativität. Pozzo griff auf Luis Monti zurück, der bei der WM 1930 noch für Argentinien aufgelaufen war. 1931 wechselte Monti zu Juventus Turin und wurde zu einem der Oriundi, jener dank ihrer italienischen Wurzeln für ihre Wahlheimat spielberechtigten südamerikanischen Akteure. Monti hatte bei der Vertragsunterzeichnung bereits ein Alter von 30 Jahren und zudem Übergewicht. Auch nach einem Monat individuellen Trainings war er nicht sonderlich schnell. Seine Fitness dagegen erwies sich als gut, und wegen seiner Fähigkeit, Räume abzudecken, erhielt er den Spitznamen „Doblo ancho“, „der doppelt Breite“.

      Pozzo, der möglicherweise von einem bei Juventus bereits etablierten System beeinflusst wurde, stellte Monti als Centro mediano auf, die italienischen Entsprechung des Mittelläufers. Bei gegnerischem Ballbesitz ließ Monti sich zurückfallen und deckte den gegnerischen Mittelstürmer, bei eigenem Ballbesitz aber rückte er auf und wurde zum Dreh- und Angelpunkt im Angriffsspiel. Damit war er zwar kein dritter Verteidiger – die Bedeutung des W-M-Systems (des Sistema, wie Pozzo es in Abgrenzung zur traditionellen Metodo nannte) erkannte man in Italien laut Glanville erst 1939 durch einen Artikel Bernardinis nach einem 2:2 Italiens gegen England –, spielte aber weiter zurückgezogen als ein traditioneller Mittelläufer. Dementsprechend ließen sich auch die beiden Halbstürmer zur Unterstützung der Außenläufer nach hinten fallen. Der Form nach entsprach dies einem 2-3-2-3, also einem W-W. Der Journalist Mario Zappa beschrieb dieses System in der Gazzetta dello Sport als „ein Spielmodell, das eine Synthese der besten Elemente aller am meisten bewunderten Systeme ist“.

      Die Formation ist das eine, die Spielweise das andere. Trotz seiner Skrupel war Pozzo durch und durch Pragmatiker. Es gibt keinen Zweifel daran, dass er über eine technisch versierte Mannschaft verfügte, die dies 1931 schon vor Montis Berufung mit einem 3:0-Sieg über Schottland unter Beweis gestellt hatte. Der Corriere della Sera wusste über die unglückseligen britischen Touristen zu berichten: „Diese Männer sind schnell, athletisch gut trainiert und erscheinen sicher in der Schussund Kopfballtechnik, doch beim klassischen Spiel mit flachen Bällen sehen sie wie Anfänger aus.“ Solch eine Kritik wäre für jede Mannschaft hart gewesen. Für Spieler, die in der feinen Tradition des schottischen Kurzpassspiels aufgewachsen waren, war sie vernichtend.

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       Vittorio Pozzo führte Italien 1934 und 1938 zum Weltmeistertitel.

      Zur damaligen Zeit verglich man den großen Mittelstürmer Guiseppe Meazza, der 1930 sein Debüt in der Nationalmannschaft gegeben hatte, regelmäßig mit einem Stierkämpfer. Einem populären Schlager jener Jahre zufolge „traf er im Rhythmus eines Foxtrotts“. Dieses Gespür für Freude und Elan sollte jedoch bald verschwinden. Zwar blieb Meazza ein eleganter Stürmer, und auch an der Qualität von Spielern wie Silvio Piola, Raimundo Orsi oder Gino Colaussi konnte kein Zweifel bestehen. Allerdings wurden körperliche Robustheit und Kampfstärke immer wichtiger. In einem Kommentar in Lo Stadia hieß es dazu 1932: „Im zehnten Jahr des faschistischen Zeitalters wird die Jugend für die Schlacht gestählt und für den Kampf und stärker für das Spiel als solches; man kann Mut, Entschlossenheit und einen Stolz nach Art der Gladiatoren, die zu den erlesenen Eigenschaften unserer Rasse gehören, nicht außen vor lassen.“

      Pozzo gehörte auch zu den frühen Befürwortern der Manndeckung. Es ging nun im zunehmenden Maße nicht mehr nur darum, das eigene Spiel aufzuziehen, es sollte auch das Spiel des Gegners verhindert werden. In einem 1931 in Bilbao ausgetragenen Freundschaftsspiel gegen Spanien beispielsweise ließ er Renato Cesarini als Manndecker gegen Ignacio Aguirrezabala spielen. Pozzo vertrat die Ansicht, dass „das ganze System zusammenbricht, wenn ich es schaffe, den Kopf abzuschlagen, mit dem die elf Gegenspieler denken“.

      Bekümmerte dies damals noch nur Puristen, wurde die Moral der Italiener unter Pozzo erstmals ernsthaft bei der Weltmeisterschaft 1934 hinterfragt. Nachdem Italien ein Jahr zuvor gegen die weiterhin in ihrer Isolationshaltung verharrenden Engländer 1:1 gespielt hatte, zählte man als Heimmannschaft zu den Favoriten. Das galt ganz besonders unter dem Eindruck, dass sich das österreichische „Wunderteam“ bereits auf dem absteigenden Ast befand. Ausnahmsweise einmal schien Meisls Pessimismus gerechtfertigt zu sein, als er sich über das Fehlen seines Torhüters Hiden und den Erschöpfungszustand seiner Spieler, die mit ihren Vereinsmannschaften auf Auslandstourneen unterwegs gewesen waren, beklagte. Er behauptete allerdings auch, dass es für den Titel gereicht hätte, wenn er Arsenals Mittelstürmer Cliff Bastin hätte ausleihen können. Indirekt erkannte Meisl mit dieser Äußerung die englische Kritik an der fehlenden Durchschlagskraft seines Teams an.

      Italien und Österreich mit Pozzo und Meisl trafen im Halbfinale aufeinander. Zu diesem Zeitpunkt war das Turnier bereits in Verruf geraten. Österreich war daran alles andere als unschuldig, beteiligte es sich beim Viertelfinalsieg über Ungarn doch an einer Rauferei. Allerdings hatte in erster Linie das 1:1-Unentschieden zwischen Italien und Spanien in einem weiteren Viertelfinalspiel für einen Skandal gesorgt. Ungeachtet seiner Klasse spielte Monti auch gern mal recht schmutzig. So bearbeitete er Spaniens Torhüter Ricardo Zamora derart, dass dieser beim Wiederholungsspiel am folgenden Tag nicht mehr auflaufen konnte. Die Quellen sind sich zwar uneinig darüber, ob drei oder vier Spanier verletzungsbedingt vom Platz mussten. Auf jeden Fall aber fühlten sich die Iberer verschaukelt, als Italien durch einen Flugkopfball Giuseppe Meazzas mit 1:0 gewann.

      Der erwartete Wettstreit der Stile im Halbfinale wurde dann zu einem Reinfall. Monti nahm Sindelar komplett aus dem Spiel, Österreich schoss während der ersten 40 Minuten nicht einmal aufs Tor, und Italien gewann das Spiel mit dem Tor des Tages. Meazza ging dabei den für Hiden eingesprungenen Ersatztorwart Peter Platzer heftig an, und Enrique Guaita, ein weiterer Oriundo, drückte den herrenlosen Ball über die Linie.

      So war es nun an der Tschechoslowakei, die im anderen Halbfinale Deutschland ausgeschaltet hatte, die Ehre der Donaustaaten zu verteidigen. Zeitweise ließen die Tschechoslowaken Italien tatsächlich alt aussehen und gingen in der 76. Minute durch Antonín Puč in Führung. František Svoboda traf noch den Pfosten, und Jiří Sobotka ließ eine weitere hochkarätige Chance aus, bevor Orsi neun Minuten vor Schluss der Ausgleich gelang. In der siebten Minute der Nachspielzeit flankte der humpelnde Meazza von rechts, und Angelo Schiavio, der später erklärte, vom „Mut der Verzweiflung“ getrieben worden zu sein, hämmerte den Ball an Josef Čtyřoký vorbei zum Siegtreffer ins Tor.

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       Italien – Österreich 1:0, WM-Halbfinale, San Siro, Mailand, 3. Juni 1934.

      

      Mussolinis Italien hatte seinen so sehnsüchtig erhofften Sieg errungen, auch wenn die Methoden, mit denen man gewann, anderswo einen faden Beigeschmack hinterließen. „In der Mehrzahl der Länder hielt man die Weltmeisterschaft für ein sportliches Fiasko“, sagte der belgische Schiedsrichter John Langenus, „weil es neben dem Siegeswillen keinen sportlichen Gedanken gab und weil darüber hinaus ein ganz bestimmter Geist auf dem gesamten Wettbewerb lastete.“

      Im November des gleichen Jahres trug ein Aufeinandertreffen zwischen Italien und England – die sogenannte „Schlacht von Highbury“ – dazu bei, diesen Eindruck weiter zu verfestigen. Nachdem sich Monti nach einem Zweikampf mit Ted Drake in der zweiten Minute den Fuß gebrochen hatte, fiel Italiens Reaktion überaus drastisch aus. „Was die Italiener angeht, hätte man während der ersten Viertelstunde gar keinen Ball auf dem Platz gebraucht“, sagte Stanley Matthews. „Die verhielten sich wie Besessene und traten auf alles und jeden ein, der sich bewegte.“ England konnte aus Italiens


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