Im Schatten einer Frau. Liane Sanden

Im Schatten einer Frau - Liane Sanden


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Glanz auf den Brötchenkorb gerichtet. Michael sah, wie er den Mund öffnete, wie die Zähne sich zusammenbissen, wie die Hand eine unwillkürliche Bewegung nach dem Brötchenkorb machte, um dann erschreckt wieder zurückzugleiten.

      So viel Feinheit und Beherrschung lag darin, dass Michael wusste, er brauchte nicht mehr viel zu fragen. Dieser Junge war arm, war unglücklich, aber die Atmosphäre des Elends war nur äusserlich. Die seelische Atmosphäre war eine andere.

      „Gedulde dich einen Augenblick“, beruhigte er, „es ist besser, erst die Bouillon für einen hungrigen Magen als Brot.“

      „Bringen Sie doch schon endlich“, rief er ungeduldig zu dem Kellner herüber, der gaffend an der Theke lehnte.

      Schon kam auch die Bouillon aus der Küche. Der Kellner flog mit ihr heran.

      „Eine zweite Tasse“, befahl Michael, „sehen Sie denn nicht, dass das viel zu heiss ist?“

      Die Nasenflügel des Knaben weiteten sich. Er atmete den Duft der Bouillon sehnsüchtig ein.

      Michael nahm einen Löffel und löffelte vorsichtig ein Teilchen der Flüssigkeit in eine leere Tasse.

      „Langsam“, mahnte er, „sonst verbrennst du dich.“

      Mit einer nie gekannten Freude sah er, wie der Junge das kräftige heisse Getränk schlürfte, wie schon nach den ersten paar Schluck das grünlich-bleiche Antlitz sich belebte, ein seliger Ausdruck der Befriedigung in die verzweifelten Augen kam. Michael hatte sich auch etwas bestellt, schob die Tasse nun seinem Schützling hin, „jetzt kannst du schon trinken“, ermunterte er und begann selbst zu essen, um den Jungen nicht in Verlegenheit zu bringen.

      Der Knabe trank bis zum letzten Rest. „Ich danke“, sagte er dann. Ein Lächeln erhellte das ganze Gesicht, machte es kindlich und aufgeschlossen.

      „Na, und was nun? Worauf haben wir nun Appetit“, fragte Michael freundlich.

      „Ich glaube, ich bin schon satt“, meinte der Junge.

      „Das meine ich nicht“, lächelte Michael, „wir haben ja Zeit. Wie wär’s mit einem schönen Filet-Beefsteak?“

      „Fleisch“, fragte der Junge. Es war etwas in seinem Ton, was Michael erschütterte.

      „Also bringen Sie“, sagte er dem Kellner und bestellte.

      „So, mein Junge, und nun bist du wohl so weit und kannst mir ein bisschen erzählen, ja? Hast du Vertrauen zu mir?“

      Wieder sah ihn der Junge an. Aufgeschlossenheit, Glaube und Dankbarkeit stand in seinen Zügen.

      Als der Kellner die bestellten Speisen brachte, erzählte er. Stockend, leise, von Scham erfüllt. Oft musste Michael eingreifen und mit einem aufmunternden Wort die verschüchterte Seele des Jungen wieder aufschliessen. Aber endlich wusste er Bescheid. Zu dreien waren sie: der Junge, Frieder Heuschner, die verwitwete Mutter und eine Schwester. Sie hatten eine kleine Buchbinderei vom Vater übernommen. Die Schwester Lena hatte das Buchbinderhandwerk richtig gelernt. Zusammen mit der Mutter hatte sie den kleinen Laden fortgeführt. Die Kundschaft des Vaters war ihnen treu geblieben, bis die allgemeine Wirtschaftsnot einsetzte. Da waren der Kunden immer weniger geworden. Man hatte nicht rationell einkaufen können. Die Lieferanten hatten gestundet, dann Zahlung verlangt, schliesslich gepfändet. Zum Schluss wurde der Laden versteigert. Es war ein Schicksal, alltäglich fast in der jetzigen Zeit der Not. In den Zeitungen, dachte Michael, las man über so etwas hinweg. Aber was sich hinter diesen Alltagsnachrichten verbarg an persönlichem Jammer, elender Verzweiflung, das fühlte er jetzt in diesem Augenblick. Der Junge hatte die Schule besucht und dann keine Lehrstelle gefunden.

      Nun war die Mutter krank, das Mädchen auf die geringe Wohlfahrtsunterstützung angewiesen, er selbst ohne Arbeit.

      Die paar Pfennige Unterstützung reichten nicht hin und her. Der Hauswirt drohte, sie zu exmittieren. Der Junge war herumgelaufen Tag für Tag, um irgendeine Gelegenheitsarbeit zu suchen. Seit gestern hatte er nichts mehr gegessen. So hatte Michael ihn gefunden. Das war der kurze Bericht Frieder Heuschners. Und er war gerade damit fertig, als der Kellner die Fleischspeise brachte.

      „Nun machen wir erst einmal wieder mit der Unterhaltung Schluss. Es war Michael ganz lieb, dass der Junge in die Gegenwart zurückgeführt wurde und er selbst seine eigene Erschütterung in sich verarbeiten konnte.

      „Also nun zugelangt, mein Herr.“

      „Ich trau mich gar nicht“, sagte Frieder und legte Gabel und Messer wieder hin.

      „Ja und warum nicht?“

      Frieders Lippen zuckten.

      „Die Mutter“, sagte er hilflos, „und Lena, vorhin Herr, Herr —“

      „Heinsigk. Ach so, ich habe mich dir noch nicht vorgestellt“, sagte Michael schnell, „also was ist mit der Mutter und mit Lena?“

      „Vorhin, wie die Suppe kam, Herr Heinsigk, da habe ich nichts denken können. Da hatte ich nur schrecklich Hunger. Aber jetzt, wo der vorbei ist, kann ich denken. Die Mutter und Lena haben nichts. Nicht einmal ein paar Kartoffeln waren im Hause. Und wir hätten sie ja auch nicht kochen können. Das Gas ist ja abgesperrt. Und ich soll hier so was Schönes —“

      Er sprach nicht weiter. Seine Augen füllten sich mit Tränen.

      „Du bist ein anständiger Kerl“, Michael fuhr schnell mit der Hand über den dunklen Schopf des Jungen, „aber du kannst getrost essen. Ich verspreche dir, wenn sich alles so verhält, wie du mir erzählt hast —“

      „Jawohl, es verhält sich so, Herr Heinsigk.“

      Blutrot war Frieder geworden. Der Herr, der da, wie vom lieben Gott geschickt, zu ihm gekommen war, schien ihm nicht zu glauben.

      Freilich, wie viele mochten den anderen etwas vorschwindeln.

      „Ich habe nicht geschwindelt, wirklich nicht.“

      „Das weiss ich ja“, beruhigte Michael, „also ich verspreche dir, deine Mutter und deine Schwester werden auch zu essen bekommen. Jetzt musst du erst einmal zu Kräften kommen. Wenn du arbeiten willst, musst du auch kräftig sein.“

      „Es gibt ja keine Arbeit“, wollte Frieder sagen. Aber er tat es nicht. Er hatte auf einmal den Glauben, es müsste alles gut werden. Und überdies, das Stück Fleisch, das da braun und glänzend in der goldgelben Buttersauce vor ihm lag, war eine zu grosse Verlockung. Bald hatte er alles vergessen, die Not, die Angst. Er sass da und ass.

      „Fühlst du dich nun frisch genug, um nach Hause gehen zu können?“ fragte Michael.

      Der Junge nickte mit glänzenden Augen. Aber es war nun nicht mehr der Glanz des Hungers wie vorher.

      „Nun schön“ — Michael entnahm seiner Geldtasche einen Zehnmarkschein —, „jetzt fährst du nach Hause. Gib mir deine Adresse. Ihr werdet von mir hören.“

      Er stand auf, gab dem Jungen die Hand.

      Der beugte sich plötzlich. Michael fühlte ein paar heisse Lippen, die sich in seine Hand pressten.

      Michael ging allein durch die frühlingshellen Strassen. Das Erlebnis mit Frieder Heuschner hatte ihn von seinem eigenen Schicksal und seinen eigenen trüben Gedanken abgelenkt. Wieviel Elend gab es doch auf der Welt! Und wie wenig beachtete man es, weil man in seinem eigenen Leben befangen war! Freilich, keinem Menschen mochte es möglich sein, überall zu lindern, so viel auch jetzt von seiten einer endlich zielbewussten Regierung auch in dieser Hinsicht getan wurde. Aber wenn die Not einem einmal in den Weg lief, so erschütternd wie in dem Schicksal des jungen Frieder, dann konnte man helfen. Ganz erfüllt von seinem Erlebnis, kam Michael zu Hause an. Natürlich, der Sicherheit wegen musste man noch nachforschen. Er wusste genau, wie oft gerade sein mitfühlendes Herz getäuscht worden war. An den Mann der Stella Hollmers wie an Stella selbst kamen täglich Hunderte von Bittbriefen, Gesuchen, Verlangen. Noch nicht ein Viertel von all den Schilderungen der Not hielt bei genauen Prüfungen stand. Also konnte man nicht vorsichtig genug sein. Obwohl eine innere Stimme ihm sagte,


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