Lockvogel. Theresa Prammer
Barkeeper, der die nächste Flasche Champagner öffnete und konzentriert mit beiden Händen in die aufgereihten Gläser einschenkte. Wahrscheinlich hatte er auch schon einen Anschiss bekommen, weil er ein Tröpfchen vergossen hatte.
Natürlich gab es Dom Pérignon. Das Personal heute Abend bekam hingegen nur einen Stundenlohn von acht Euro fünfzig bezahlt, wie er mitbekommen hatte. Schwarz auf die Hand. Nein, nicht davon ablenken lassen, er sollte sich auf sein Ziel konzentrieren.
Schluck deinen Ärger runter, Mann.
Es waren gar nicht die hochsommerlichen Temperaturen, die in diesem Juni herrschten, die ihn im Innenraum hielten. Der Grund dafür befand sich keine drei Meter von ihm entfernt. Der Grund, warum er sich überhaupt als falscher Kellner verkleidet auf die Veranstaltung geschlichen hatte. Unter dem Tresen, in einem schwarzen Rucksack, hinter einer Kiste mit französischem Rotwein versteckt.
Was, wenn den jemand finden würde, während er der Wiener High Society Champagner unter die korrigierten Nasen hielt? Dann wäre sein ganzer Plan vorbei, noch bevor er überhaupt begonnen hätte. Die ersten paar Stunden musste er einfach so tun, als wäre er vom Personal. Das Abendessen abwarten, dann käme sicher eine Band oder ein DJ, um Musik zu machen.
Diese Partys waren bekannt für die ausgelassene Stimmung, je später es wurde. Genau dann, wenn alle bei bester Laune wären, würde er tun, weswegen er gekommen war.
Aber bis es so weit war, konnte er nicht die ganze Zeit wie angewurzelt hier stehen bleiben. Er musste da raus. Für sich. Für Carla. Der Gedanke an sie gab ihm neue Kraft.
Ihr würde es hier gefallen. Dieses Haus war atemberaubend. Die Inneneinrichtung aus Chrom, aus schwarzem und weißem Marmor, eine beigefarbene Ledercouch als Liegewiese vor einem Flatscreen. Der war größer als ihr Doppelbett. Carla hätte es verdient, so zu wohnen. Und noch viel mehr.
„Wir können nicht so weitermachen“, hatte sie gestern zu ihm gesagt. Danach der Riesenkrach, weil er wusste, dass sie im Recht war. Er hatte türknallend die Wohnung verlassen, war durch die Straßen gelaufen, hin und her geworfen zwischen Wut, Verzweiflung, Hilflosigkeit. Bis er beim U-Bahn-Abgang an den Aufstellern mit der Gratiszeitung vorbeigekommen war und auf der Titelseite die Ankündigung für dieses Sommerfest gesehen hatte. Das war es. Das Zeichen, um das er so lange gefleht hatte. Eigentlich unglaublich, dass er es hierhergeschafft hatte. Schon allein das war eine Story. Die halbe Nacht hatte er wachgelegen und sich vorgestellt, wie er die Geschichte in unzähligen TV-Interviews zum Besten geben würde. Aber dazu musste er seinen Posten verlassen, sonst feuerte ihn die Glitzerlady garantiert.
Er warf dem Barkeeper einen beschwörenden Blick zu, schickte ein leises Stoßgebet zum Himmel und ging auf die überdachte Terrasse. Die Hitze schlug ihm entgegen wie ein schwerer Vorhang, aber im nächsten Moment wehte auch schon ein angenehm feuchter Nebel auf ihn herab.
Die Düsen, die an der Hausmauer des Zubaus befestigt waren, versprühten einen kühlen Hauch auf die Gäste. Das Sonnenlicht brach sich darin. Wahrscheinlich war dieses Haus zu einem großen Teil für den Klimawandel verantwortlich.
Meine Güte, draußen war es noch viel schöner als drinnen. Die Terrasse mündete in einen zur Hälfte über dem Abhang schwebenden Pool, der einen herrlichen Ausblick auf die Stadt bot. Wie in einem Werbeprospekt für Wien.
Er musste sich nur ein paar Schritte durch die Gästeschar bewegen, die Champagnergläser wurden ihm quasi vom Tablett gerissen. So viel Prominenz überraschte ihn. Zwar war er nicht so bewandert wie Carla, doch sogar er erkannte berühmte Gesichter aus Politik, Film und Musik.
Jedes Mal, wenn er sein Tablett bei der Bar mit vollen Gläsern bestückte, versicherte er sich, dass sein Rucksack noch in dem Versteck war.
So gingen ein, vielleicht zwei Stunden dahin. Den Gastgeber hatte er die ganze Zeit noch nicht gesehen, aber möglicherweise gehörte es zum Spleen eines so erfolgreichen Mannes, selbst zu spät zur eigenen Party zu kommen.
Auf dem Weg in die Küche, um die leeren Gläser loszuwerden, lief er fast in einen Mann hinein. Im letzten Moment stoppte er, doch ein Glas segelte vom Tablett. Der Mann drehte sich um. Das war er – sein Ziel.
In Wirklichkeit war Alexander Steiner noch größer und imposanter als im Fernsehen und auf Fotos.
Er sollte jetzt etwas sagen, etwas Amüsantes, Geistreiches. Aber sein Mund wurde schlagartig trocken und in seinem Kopf herrschte nur panische Leere. Ein merkwürdiges Quietschen kam aus seinem Hals, als hätte er eine Maus verschluckt.
Und dann war Alexander Steiner auch schon Richtung Terrasse verschwunden. Im nächsten Moment wehte ein Klangteppich aus „Aaahs“ und „Ohhhs“ von draußen herein, gefolgt von Applaus. Na, das war ja ein beschissener erster Eindruck, den er da abgeliefert hatte. Sein Gesicht brannte, so rot war er geworden. Wahrscheinlich war das hier alles nur eine maßlos bescheuerte Idee. Er war ja nicht mal zu einem normalen „Hallo“ in der Lage, wie sollte er dann später tun, weswegen er gekommen war?
Ein Schniefen riss ihn aus seinen Gedanken.
Etwas abseits stand ein Mädchen in Jeans und schwarzem T-Shirt, er hatte sie gar nicht bemerkt. Eine Träne kullerte ihr über die Wange, sie biss sich auf den kleinen Finger.
„Oh nein, tut mir leid, hat dich ein Splitter getroffen?“
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Sie war vielleicht dreizehn oder vierzehn und gerade in dem Wachstumsstadium, in dem die Proportionen noch lustig durcheinanderwuchsen. Lange Arme, kurze Beine, Kinderhände und die Kopfgröße bereits drei Jahre voraus. Bei ihm war das ganz genauso gewesen, jahrelang war er deswegen gehänselt worden. Was wahrscheinlich der Grund war, warum er überhaupt zu schreiben begonnen hatte. Wie er damals schien auch sie nicht zu den „coolen Kindern“ zu gehören, obwohl sie sich – ihrer Kleidung nach zu urteilen – offenbar darum bemühte. Doch ihre zusammengesunkene Körperhaltung und die traurigen Augen verrieten zu viel. Eine weitere Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel.
Am liebsten hätte er jetzt mit ihr geheult, so elend fühlte er sich.
„Kann ich dir irgendwie helfen?“, fragte er. Keine Reaktion. Warum auch, er war ja nur ein „Niemand“.
Er seufzte. Was machte er sich da eigentlich vor? Das war doch idiotisch, er würde es nie schaffen. Er stellte das Tablett ab und mit ihm auch gleich seine Pläne und Hoffnungen. Jetzt würde er seinen Rucksack holen, nach Hause gehen zu Carla und ihr sagen, dass er sich morgen einen Job suchen würde. Und wenn er wieder im Supermarkt Regale schlichten oder Pakete ausliefern musste, dann war das eben so.
Das Mädchen stand da wie angewurzelt, die mausbraunen Haare fielen ihr ins Gesicht. Sie starrte vor sich hin, alles an ihr hing, wie bei einer Marionette, der man die Fäden gekappt hatte.
„Was ist denn los?“, fragte er.
Sie hob den Blick, als wäre sie verwundert, dass er noch immer da war. Wortlos zog sie ein zusammengerolltes Heft aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, klappte es auf. Ein Aufsatz wahrscheinlich. Die Anzahl der roten Striche und Kommentare war bemerkenswert, die Seiten sahen aus wie ein abstraktes Gemälde. THEMENVERFEHLUNG – NICHT GENÜGEND, stand darunter.
„Deutsch?“
Sie nickte und kratzte sich an der Nase.
„Schularbeit.“
„Darf ich es lesen?“
„Egal.“
Es war kein schlechter Aufsatz. Vielleicht in zwei Passagen ein bisschen verwirrend und manchmal holprig im Ausdruck, aber vielversprechend. Und definitiv kein „Nicht genügend“. Er gab ihr das Heft zurück.
„Willst du die Meinung eines arbeitslosen Drehbuchautors?“
Sie zuckte mit den Schultern, murmelte wieder kaum hörbar: „Egal.“
„Wer dich da benotet hat, ist ein Trottel.“
Sie lachte auf, es klang viel zu resigniert für ein so junges Mädchen.
„Wirklich. Und ich sage das jetzt nicht, um dich