Lockvogel. Theresa Prammer

Lockvogel - Theresa Prammer


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auf der ihr liegt. Jede Zelle eures Körpers löst sich auf. Haltet nichts zurück. Wenn Gefühle hochkommen, lasst sie raus. Seid laut. Gebt euch hin.“

      Als hätten alle nur auf ein Kommando gewartet, ging das Stöhnen los. Jammern, Klagen, Seufzen. Es hörte sich nach einer Mischung aus Gruppensex und Begräbnis an.

      Toni stieß ein halbherziges „Ohhh“ aus, während sie zur Uhr über der Tür blinzelte. Der Termin bei dem Privatdetektiv war erst in zwei Stunden, trotzdem hatte sie dieses drängende Gefühl, sie könnte ihn verpassen. Und das durfte sie auf keinen Fall.

      „Die Uhrzeit ist egal, Antonia. Loslassen“, bellte die Schmitz. Sie war die Leiterin der Schauspielschule und eine gute Lehrerin, aber wehe, jemand hielt sich nicht an ihre Anweisungen. Und Toni stand durch ihre vielen Fehlstunden der letzten vier Wochen sowieso schon auf der schwarzen Liste.

      Lena auf der Matte rechts neben ihr stieß ein leises Grunzen aus – ihr Geheimcode. Lena sagte immer, wenn die Schmitz wütend wurde, hatte sie was von einem wildgewordenen Eber.

      Toni unterdrückte ein Lachen und schloss rasch die Augen. Sie nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, sich in Erinnerung zu rufen, was sie dem Detektiv alles sagen wollte. Und da passierte es.

      Obwohl Felix bereits einen Monat fort war, konnte sie ihn vor sich lächeln sehen. Als hätte er ein Trugbild in ihrem Gedächtnis hinterlassen.

      Wie dieses Jesus-Sehtestbild aus dem Internet, von dem Lena so begeistert war. Das man nur lange genug ansehen muss, damit es wieder auftaucht, wenn man auf einen hellen Untergrund sieht. Felix strahlte sie über das ganze Gesicht an. Dieses erste Lächeln, das sie buchstäblich und entsetzlich kitschig ins Herz getroffen hatte, obwohl sie von sich selber wirklich niemals als Romantikerin sprechen würde. Mit den kleinen Fältchen, die sich wie Astgabeln um seine Augen kräuselten, den rosigen Lippen im dunklen Dreitagebart. Wie Himbeeren und Schokolade.

      Vor neun Monaten, als er im Café gesessen hatte, über den Laptop gebeugt, hatte sie es zum ersten Mal gesehen. Er war vertieft in seine Arbeit und zusammengezuckt, als sie ihn gefragt hatte, was er trinken wollte.

      „Hast du mich erschreckt“, hatte er gesagt, sie angesehen und im nächsten Moment gestrahlt. Als wäre sie jemand, auf den er schon sehr lange wartete.

      „Sorry. Soll ich wieder gehen und noch mal kommen?“

      Sein leuchtendes Gesicht mit den zu einer stummen Frage hochgezogenen Augenbrauen wirkte auf sie wie ein Schaufenster zu Weihnachten für ein Kind. „Dann wärst du vorbereitet.“ Sie trat einen Schritt Richtung Theke.

      „Nein, danke.“ Sein noch breiteres Lächeln, während er eine Hand auf sein Herz legte. „Jetzt ist der Schaden schon angerichtet.“ Gespieltes Keuchen. „Darf ich den Namen meiner Beinahe-Killerin erfahren?“

      „Toni.“

      Wieder sein fragender Blick.

      „Von Antonia.“

      Normalerweise sagte sie das nicht dazu. Ihr Herz flatterte, während er sie länger ansah, als die Gäste es normalerweise taten. Und sie fing an zu grinsen, sie konnte gar nichts dagegen tun.

      „Danke. Ich bin Felix. Von Felix.“

      „Und was möchte Felix von Felix auf diesen Schreck trinken?“

      „Was empfiehlt Toni von Antonia mir denn?“

      Noch am selben Abend hatten sie sich verabredet. Danach war alles sehr schnell gegangen, als hätte es schon einen vorgefertigten Felix-und-Toni-Plan gegeben, den sie nur noch erfüllen mussten.

      Das letzte Mal, als sie ihn gesehen hatte, war er am Morgen vor vier Wochen in der Tür gestanden, in seinen grünen Boxershorts und dem ausgeleierten weißen T-Shirt. Die dunklen Haare ganz zerzaust. Sie war zu spät zum Dramatikunterricht, konnte wie üblich weder Handy noch Schlüssel finden. Er hatte ihr beides in die Hand gedrückt und nachgerufen, dass sie nicht zu viel lernen sollte. Sie hatte sich umgedreht und gegrinst. Weil seine Verführungskünste an diesem Morgen der Grund waren, warum sie es jetzt so eilig hatte.

      Natürlich hatte sie keine Ahnung gehabt, dass es das letzte Mal sein sollte. Das letzte Mal Sex, das letzte Mal Felix, das letzte Mal, dass sie ausreichend Geld hatte und sich keine finanziellen Sorgen machen musste.

      Ihr Gedankenkarussell fing an, sich zu drehen.

      Hatte sie etwas übersehen? Nein, es war unmöglich, dass alles von Anfang an sein Plan gewesen war. Und seine ganze Zuneigung nur vorgespielt. Es musste etwas anderes sein. War er in ernsthaften Schwierigkeiten? War er irgendwo und brauchte ihre Hilfe?

      Vielleicht war das der Grund, warum sie sich seit einiger Zeit verfolgt fühlte. Und kein „Hirngespinst“, wie Lena das immer nannte, weil sie nie jemanden entdecken konnte, wenn Toni sie darauf aufmerksam machte.

      Ein Schluchzen neben sich riss Toni aus den Gedanken, auf die sie sowieso keine Antwort hatte. Es war Lena. Und es klang nicht nach einem Stöhnen, sondern als würde sie weinen.

      Toni drehte sich zur Seite, Lenas rote Locken lagen quer über ihrem Gesicht, ihr Oberkörper bebte. So vorsichtig, dass es die Schmitz nicht sehen konnte, tippte Toni ihre Freundin an. Lena drehte den Kopf zu ihr, die Tränen hatten ihre Wimperntusche verschmiert. Sie formte Worte mit ihren Lippen, doch Toni konnte nicht erkennen, was sie sagen wollte.

      „Was ist –“, begann Toni leise, da donnerte die Schmitz bereits: „RUHE! KEINE INTERAKTION. SONST FLIEGST DU RAUS, ANTONIA. UND DU WEISST, WAS DAS FÜR DICH BEDEUTET!“

      Lena presste die Lippen zusammen, schüttelte leicht den Kopf und schloss die Augen wieder.

      War irgendwas passiert? Etwas, das Toni nicht mitbekommen hatte, weil sie so mit sich, Felix, ihrer Großmutter und den Geldsorgen beschäftigt gewesen war?

      „DU AUCH, LENA!“

      Das war beunruhigend. Lena war immer gut drauf, nichts schien sie wirklich zu erschüttern. Und sie weinte noch immer, Toni konnte es ganz deutlich hören.

      Sie wartete, bis sich die Schritte der Schmitz entfernten, und schob ihren Arm in Lenas Richtung, bis sie ihre Hand spürte. Tonis Finger glitten zwischen die ihrer Freundin und hielten sie fest.

      „SO, DAS WAR’S, ANTONIA. DU VERLÄSST DEN UNTERRICHT!“, schrie die Schmitz. „RAUS!“

      Eine dreiviertel Stunde später stieg Toni aus der U4 und lief Richtung Auhofstraße. Sie war ein wenig zu früh dran, was fast schon eine Ironie war, denn Toni litt an „Zuspätkommeritis“, wie sie selbst diagnostiziert hatte. Eine Kindergartengruppe in Zweierreihe kam ihr aufgeregt entgegen. Sie schnappte die Worte „Zoo“ und „riesiges Löwenkacka“ auf und musste grinsen, als die Kinder die Ausmaße des Haufens in großen Gesten darstellten, während ihre Betreuer die Augen verdrehten. In der Schauspielschule hätte es für so eine Szene Applaus gegeben.

      Toni zwinkerte den Kindern zu, die an ihr vorbeigingen. Die Sonne brannte, sie hatte sich eindeutig zu warm angezogen und schlüpfte aus der Jeansjacke.

      Es war nur ein winzig kleiner Moment, in dem sie sich umgedreht hatte. Aus den Augenwinkeln sah sie jemanden in einem schwarzen Sweatshirt. Eine große Gestalt mit einer Sonnenbrille und einer in die Stirn gezogenen schwarzen Kappe, unter der blonde Haare hervorlugten. Der Mann hatte irgendwas in der Hand – vielleicht ein Handy oder einen Fotoapparat –, das in Tonis Richtung zeigte. Eines der Kinder vor ihr quietschte, deutete in Richtung Kanaldeckel, in dem gerade der Schwanz einer Ratte verschwand. Toni war kurz abgelenkt. Sofort sah sie wieder zurück. Der Mann war verschwunden.

      Ihr wurde heiß. War er ihr gefolgt? Hatte sie beobachtet? Wieso sollte ein fremder Mann Fotos von ihr machen?

      „Schau mal, es ist kein Wunder, nach dem, was dir passiert ist“, hatte Lena erst letztens gesagt, als sich ein Verdacht wieder als unbegründet herausgestellt hatte. „Vielleicht sucht dein Unterbewusstsein einen Ausweg, um die Wahrheit nicht akzeptieren zu müssen. Hast du überhaupt irgendwann mal durchgeschlafen, seit –?“

      Weiter hatte Lena nicht


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