Die Erbin. W. E. Norris

Die Erbin - W. E. Norris


Скачать книгу
würdige Doktor Drysdale verabschiedete sich von seinem alten Freunde, aber anstatt den Heimweg einzuschlagen, begab er sich auf das nächste Postamt und sandte auf eigne Verantwortung ein Telegramm an Mr. Frederick Musgrave in London ab.

      Er hätte sich die Mühe sparen können. Denn zur Zeit, als das Telegramm in Mr. Frederick Musgraves Wohnung abgegeben wurde, befand sich der junge Mann eben in Gesellschaft, und als er spät nach Mitternacht nach Hause zurückkehrte und es öffnete, war der Dekan von St. Cyprian bereits seit Stunden tot.

      Zweites Kapitel.

      Von dem Augenblicke an, da wir zur Welt kommen, machen wir in jeder Sekunde einen Schritt unserm Grabe entgegen. In jedem Moment verlässt ein Mensch die Welt — in jedem Moment wird ein Mensch geboren.

      Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, dass wir mit jedem trauern, dem etwas Trauriges, mit jedem jubeln, dem etwas Frohes widerfährt; thäten wir es, so bliebe uns keine Zeit zur Ausübung unsrer eignen Geschäfte und täglichen Pflichten übrig — so unaufhörlich wechselt Freude und Leid im Leben. Aber nicht selten geschieht es, dass uns für diese unsre Gleichgültigkeit eine harte Strafe zu teil wird. Wie häufig tritt der Fall ein, dass wir, ohne es zu wissen — bildlich gesprochen — auf den Gräbern unsrer eignen Freunde tanzen! Eine derartige Prüfung hatte der böse Zufall Fred zugedacht. Es war ein höchst unglückliches Zusammentreffen, dass gerade um die Stunde, da der Dekan von St. Cyprian in seinem einsamen Zimmer zu Oxford seinen letzten Seufzer aushauchte, sein Neffe sich in London bei einem heiteren Diner aufs beste amüsierte und sich in der vortrefflichsten Stimmung befand.

      Die Gesellschaften im Hause des General Moore zeichneten sich stets durch heiteren Ton und angeregte Stimmung aus. Der General sah gern fröhliche Gesichter um sich und ging seinen Gästen — was gute Laune anbetraf — stets mit bestem Beispiel voran. Ein Offizier a. D., der über ein grosses Vermögen zu verfügen hat, eine reizende junge Frau und eine herrliche Besitzung in Süd-Kensington besitzt, hat alle Ursache, guter Laune zu sein. Der General liebte die Geselligkeit und seine Frau teilte diese Liebhaberei von Herzen. Mrs. Moore fiel das ganze Verdienst zu, bei den in ihrem Hause in der Cromwellstrasse stattfindenden Gesellschaften immer mit richtigem Takte die zu einander passenden Gäste zusammen einzuladen und jedes störende Element davon fernzuhalten. Sie war des Generals zweite Frau und fünfundzwanzig Jahre jünger als er. Ihre Stieftochter Susie hatte eben ihr achtzehntes Jahr erreicht und war im Laufe des letzten Winters in die Gesellschaft eingeführt worden. Obgleich Mrs. Moore vier eigne kleine Kinder hatte, war sie doch eine ganz vortreffliche Stiefmutter, der Susies Wohl lebhaft am Herzen lag. Das bewies sie dadurch, dass sie zu ihren Gesellschaften stets einige junge Leute einlud, die sie als gute Partieen betrachtete, und bei Tische immer einen oder den andern von ihnen neben Susie zu placieren wusste.

      Zum heutigen Diner waren zwei derartige gute Partieen eingeladen, nämlich Mr. Frederick Musgrave und Hauptmann Claughton vom vierten Garderegiment, die beide in dem kleinen Theaterstücke, das nach Tische aufgeführt wurde, eine Rolle übernommen hatten. Es hiesse eigentlich nicht strenge bei der Wahrheit bleiben, wenn man Hauptmann Claughton eine gute Partie nennen wollte. Zwar hatte er eine gute Erziehung genossen und besass ein hübsches Aeusseres; gab viel Geld aus und hatte einen ziemlich wohlhabenden Vater. Leider war er aber nicht dessen ältester Sohn und es war daher anzunehmen, dass das Geld, das der junge Gardeoffizier ausgab, nicht immer ihm selber gehörte. Mr. Musgrave dagegen war eine entschieden nicht zu unterschätzende Partie. Es war allgemein bekannt, dass er der Erbe seines Onkels, des Dekans der St. Cyprianer Universität, war, eines kränklichen alten Mannes, der, wie Mrs. Moore von sehr glaubwürdiger Seite gehört hatte, nie mehr als die Hälfte seines Einkommens verbrauchte und alles andre zurücklegte und ersparte. Mr. Musgrave durfte man also mit gutem Gewissen ermuntern. Und in der That wurde Mr. Musgrave in so auffallender Weise ermuntert, dass er mit Blindheit hätte geschlagen sein müssen, wenn er nicht bemerkt hätte, dass man ihn vor allen andern Bekannten des Hauses auszeichnete und bevorzugte. So fand z. B. heute die dramatische Vorstellung nur statt, um Fred die Freude zu bereiten, seinen neuen kleinen Einakter aufführen zu sehen. Da er bereits ein Lustspiel geschrieben hatte, das von einer Londoner Bühne angenommen worden war und allabendlich auf ihr dargestellt wurde, so sah man klar, dass er etwas von dergleichen Dingen verstand, und übergab ihm daher auch das Amt des Regisseurs. Dadurch, dass er Susie täglich in einer Kunst unterwies, die ihr bisher fremd gewesen war, und somit häufig in ihre Nähe kam, traf man zwei Fliegen mit einer Klappe, denn erstens hatte man die Aussicht, einen höchst amüsanten Abend zu veranstalten, über den viel gesprochen werden würde, und zweitens rückte man dem Zeitpunkte, da die Stieftochter glücklich an den Mann gebracht wurde, voraussichtlich um ein beträchtliches näher.

      Fred Musgrave bot alles auf, um den Abend amüsant zu machen; vielleicht war er auch nicht abgeneigt, den zweiten Wunsch seiner Wirtin zu erfüllen; jedenfalls begann er daran zu denken, und die offene Verehrung, die Hauptmann Claughton Susie zollte, bestärkte ihn noch in seinen Absichten. Der schlanke, gewandte Claughton mit seinem kurzgeschnittenen schwarzen Haar, seinem eleganten Schnurrbarte, seiner musterhaft sitzenden Uniform, seinem ihn vortrefflich kleidenden Klemmer, schlug während des Diners Miss Moore gegenüber einen Ton der Vertraulichkeit an, der den andern jungen Mann höchlichst beleidigte. Da der andre junge Mann jedoch sehr gutmütig und liebenswürdig war, blieb er trotzdem bei guter Laune und fragte sich nur im stillen, ob Miss Moore wirklich an einem derartigen Courmacher Gefallen finden könnte. Bald hoffte er, dass dies nicht der Fall sei, bald fürchtete er ein wenig, dass es doch möglich wäre. Und warum sollte sie auch nicht? Denn trotz seiner Abneigung gegen den jungen Offizier musste Fred es zugeben, dass er ein sehr liebenswürdiger Bursche sei, und Susie kannte Claughton jetzt schon lange genug, um zu wissen, dass er seine Bewunderung nicht jedem weiblichen Wesen, das seinen Pfad kreuzte, darbrachte. Dass er sie bewunderte, war nur eine Huldigung, die Susie von Rechts wegen zukam; hoffentlich legte sie ihr keinen zu grossen Wert bei, hoffentlich war sie zu vernünftig, um sich aus Claughtons Verehrung das mindeste zu machen.

      Susie Moore besass zwar kein Aeusseres, durch das sie den Ruhm grosser Schönheit erlangen konnte, aber sie gehörte — wie ihre Stiefmutter einmal richtig gesagt hatte — „doch immerhin zu den Hübschen“. „Sie hat Schick,“ hatte diese unparteiische Kritikerin erklärt. „Wenn man ihr Gesicht einzeln zerlegt, lässt es vielleicht manches zu wünschen übrig; aber sie hat einen reinen Teint, wunderschöne braune Augen, prächtiges Haar und einen angenehmen Ausdruck. Ausserdem ist sie so echt wie Gold.“

      Dies letztere Lob verdiente Susie allerdings in reichem Masse. Ich hoffe, die jungen Damen, die dies Buch lesen, nehmen es mir nicht übel, wenn ich einen leisen Zweifel darein setze, dass man von einer jeden von ihnen dasselbe sagen könne, zumal keine diese Bemerkung auf sich selbst, sondern nur auf ihre Nächsten beziehen wird. Von Susie konnte man es getrost sagen — sie war in der That echt und treu wie Gold. Und vielleicht waren es eben ihre Unschuld und Ehrlichkeit, die Hauptmann Claughton, der das Leben und die Frauen längst gründlich kennen gelernt hatte, am meisten anzogen. Möglicherweise waren es auch diese Eigenschaften gewesen, die Frederick Musgraves Interesse erweckt hatten, obgleich er einen andern Charakter besass als Claughton und bisher wenig Gelegenheit gehabt hatte, sich Menschenkenntnis zu erwerben.

      Auf ihn konnte man mit gutem Rechte dieselbe Bezeichnung anwenden, die Susie zuerteilt wurde. Trotz seiner siebenundzwanzig Jahre war Fred noch immer harmlos und vertrauensvoll wie ein Kind. Seine Begeisterung für alles Schöne war noch so frisch, so von Herzen kommend, dass sie jeden, der einen derartigen Charakter zu würdigen verstand, wohlthuend berühren musste. Fred glaubte noch daran, dass alle Menschen gut seien — ganz besonders die ihm nahestehenden Menschen —; für ihn war die Klage um die Schlechtigkeit der Welt eine blosse Redensart. Da er sich bei allen seinen Nebenmenschen stets grosser Beliebtheit zu erfreuen gehabt hatte, so hatte er sich daran gewöhnt, seinen eignen Weg zu gehen und es der Mitwelt überlassen, sich nach demselben zu richten. Wäre sein Charakter nicht so rein und sein Gemüt nicht so gut beanlagt gewesen, so hätte die Nachsicht und Freundlichkeit, die jeder ihm darbrachte, leicht schädlichen Einfluss auf ihn haben können; so aber nahm er sie als etwas ihm Gebührendes hin, ohne sich dadurch verwöhnen zu lassen. Er lebte mit aller Welt, und selbst bis vor kurzem mit seinem wunderlichen alten Onkel in Eintracht und Frieden. Freds Aeusseres war noch anziehender als das Hauptmann Claughtons.


Скачать книгу