Die Erbin. W. E. Norris
Wort.
„Ich bin über ihre Person und über ihren Aufenthalt völlig im Dunkeln,“ sagte Mr. Breffit. „Als der Dekan Musgrave mir zum erstenmal die Ehre erwies, unter meinem Beistande ein Testament zu verfassen, war seine Tochter lange verheiratet, und er dachte nicht im entferntesten daran, ihr etwas zu hinterlassen. Er erwähnte ihrer kaum mir gegenüber. Aus andrer Quelle erfuhr ich indes, dass des Dekans einzige Tochter vor etwa zwölf Jahren eine Ehe schloss, zu der ihr Vater seine Einwilligung versagte, dass er seitdem jede Verbindung mit ihr abbrach und dass sie und ihr Gatte gleich nach ihrer Verheiratung nach Neuseeland auswanderten. Wenn sie noch am Leben ist, so ist sie vermutlich in Neuseeland.“
Sir James Le Breton rieb ungeduldig sein linkes Ohr und meinte: „Wie, zum Teufel, sollen wir die Frau jetzt herschaffen?“ Worauf Mr. Breffit bemerkte: „Dafür haben wir Zeitungen, mein Verehrtester.“
Der Rektor, der bisher geschwiegen hatte, sagte in entschuldigendem Tone, dass es niemand zu verargen sei, wenn er seiner Tochter zürne, weil sie gegen seinen Willen mit ihrem Musiklehrer davongelaufen sei, dass er es aber wohl begreifen könne, wie ein Mann am Rande des Grabes vor allen Dingen noch einmal auf die Stimme der Vaterliebe und dann erst auf — auf andere Pflichten geachtet habe u. s. w.
Mr. Breffit war andrer Ansicht. Es lag ihm fern, die Handlungsweise seines verstorbenen Klienten einer Kritik zu unterziehen, aber er konnte doch die Bemerkung nicht zurückhalten, dass ihm nie ein unbeugsamerer, härterer Charakter begegnet sei, als der Dekan. Damit war die Sache erledigt. Ein kurzes Stillschweigen trat ein. Dann erhoben die Anwesenden sich, um das Zimmer zu verlassen. Der Rektor klopfte Fred mit teilnehmender Miene auf die Schulter; da man aber in derartigen Momenten selten ein passendes Trosteswort findet, so verabschiedete er sich schweigend von ihm und drückte ihm beim Hinausgehen nur noch einmal ernst und wehmutsvoll die Hand.
Mr. Breffit war weniger zartfühlend. Er hatte bei seinen häufigen Besuchen in des Dekans Hause Fred näher kennen gelernt und ihn lieb gewonnen. Zwischen dem Rechtsanwalt und dem mutmasslichen Erben des Dekans hatte sich ein ausgesprochen freundschaftliches Verhältnis entsponnen. Als beide jetzt allein waren, bemerkte Mr. Breffit daher offenherzig: „Weiss Gott, es ist eine Sünde und Schande! Das hätte ich ihm auch geradeswegs ins Gesicht gesagt, wenn ich mir den mindesten Erfolg von meinen Worten versprochen hätte. Aber Sie wissen ebensogut wie ich, dass Ihr Onkel ein Mensch war, bei dem guter Rat nie Zugang fand.“
„Ich sehe es nicht ein, dass sein Thun eine Sünde und Schande ist,“ sagte Fred. „Da er eine Tochter hatte, finde ich es natürlich, dass er zuerst für sie sorgte und erst in zweiter Reihe meiner gedachte. Was mich allein in Erstaunen setzt, ist der Umstand, dass weder er noch sonst jemand mir gegenüber der Existenz dieser Tochter je Erwähnung gethan hat.“
Der Rechtsanwalt zuckte die Achseln. „Das geschah deshalb, weil jeder sie als tot für ihn betrachtete, und er mutmasslich seit Jahren diese Ansicht teilte. Ausserdem liebte Ihr Onkel es nicht, über seine Familienangelegenheiten zu sprechen. Offen gesagt, ich hatte mehr als einmal den Gedanken, Sie darauf aufmerksam zu machen, dass Sie möglicherweise nicht sein Erbe sein könnten, wie jeder es voraussetzte, aber da ich für meinen Verdacht keinen genügenden Grund hatte, so hielt ich es für das beste, zu schweigen und mich nicht in Dinge zu mengen, die mich nichts angingen.“
„Sie thaten recht daran,“ erklärte Fred. „Derartige Mitteilungen versetzen einem den Atem, aber ich kann mich im Grunde nicht beklagen. Zehntausend Pfund Sterling sind ein schönes rundes Sümmchen.“
„Ist das wirklich Ihre Ansicht? Glauben Sie wirklich von den Zinsen von zehntausend Pfund Sterling leben zu können? Bilden Sie sich etwa ein, bisher von einem derartigen Einkommen gelebt zu haben?“
„Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Mein Onkel gab mir eine Jahresrente von dreihundert Pfund Sterling.“
„Als Taschengeld. Und bezahlte alle Ihre übrigen Ausgaben.“
„Das ist wahr. Er bezahlte alles, was ich brauchte. Aber falls es mir gelänge, mein Geld zu fünf Prozent zu verzinsen ...“
„Kein Gedanke! Welcher Mensch gibt Ihnen jetzt fünf Prozent? Und Sie haben nicht einmal einen Beruf, der seinen Mann ernährt! Ich sage es Ihnen ganz offen: Wäre ich nicht fest überzeugt davon, dass Ihre Cousine, Mrs. Fenton, längst tot ist, so würde ich Ihre Lage augenblicklich für sehr kritisch halten.“
„Warum sollte meine Cousine nicht leben und sich ihres Lebens freuen?“
„Einfach darum, weil sie seit zwölf Jahren nichts von sich hat hören lassen. Ueberlegen Sie es selbst! Ein Mädchen heiratet einen Musiker, der sicherlich kein grosser Meister in seiner Kunst ist, denn dann würde er nicht auswandern und sein Glück in einem andern Weltteil versuchen. Sie ist das einzige Kind eines reichen Mannes — vergessen Sie es nicht, dass der Dekan eine Menge wohlhabender Verwandter beerbte und für seine Person so gut wie gar nichts brauchte, dass sein Vermögen mithin von Jahr zu Jahr grösser wurde. Meiner Berechnung nach beläuft es sich jetzt mindestens auf zweimalhunderttausend Pfund Sterling. Nun frage ich Sie: Ist es unter solchen Umständen anzunehmen, dass eine Frau eine solche Reihe von Jahren hätte vorübergehen lassen, ohne auch nur den Versuch zu machen, die Verzeihung ihres Vaters zu erlangen?“
„Sie mögen recht haben. Ich will nur sehen, ob es Ihnen wirklich gelingt, sie auszugraben.“
„Ich hoffe, dass sie dazu zu tief unter der Erde liegt. Selbstverständlich werde ich indes alles aufbieten, um sie zu entdecken, und ich will nur hoffen, dass unsre Bemühungen den Erfolg haben werden, dass uns über kurz oder lang von irgend einem Orte der Totenschein der Frau Laura Fenton, geborene Musgrave, zugeschickt wird.“
„Ich danke Ihnen für Ihr freundliches Interesse an meinem Ergehen. Aber es kommt mir wie eine Sünde vor, meine Hoffnungen auf den Tod der Armen zu bauen. Meinethalben mag sie leben und sich noch recht lange ihrer Erbschaft freuen!“
„Machen Sie sich für alle Fälle auf diese Möglichkeit gefasst. Und wenn Sie meinen Rat befolgen wollen, so erwählen Sie in der Zwischenzeit einen andern Beruf. So schön das dichterische Talent ist, hat es noch nie seinen Mann ernährt, und es hat wohl keinen Dichter gegeben, der nicht sein Leben lang gedarbt und gehungert hätte. Sehen Sie, wir Juristen kommen auch nicht allzu rasch auf einen grünen Zweig — aber allmählich gelingt es uns doch fast immer, etwas zurückzulegen; ein Dichter dagegen — — es ist nun einmal ein unsicherer Beruf; sehen Sie das nicht ein?“
In diesem Punkt fand gutgemeinter Rat bei Fred jedoch taube Ohren.
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