Die Erbin. W. E. Norris

Die Erbin - W. E. Norris


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Verwandten hingetreten war und von ihm die in kühlem Tone gemachte Mitteilung erhalten hatte, dass er von jetzt ab für ihn sorgen und ihn erziehen wolle, vorausgesetzt, dass Fred sich gut betrage und ihm nie Schande bereitete. Wie oft hatte Fred sich die Frage vorgelegt, was wohl aus ihm geworden wäre, wenn der Dekan sich seiner nicht angenommen hätte. Er war eine arme Waise gewesen und hatte nicht einen Verwandten in der weiten Welt besessen. Sein Vater, der als Kaufmann und Besitzer eines Porzellanwarengeschäfts ein ziemlich grosses Vermögen erworben hatte, verlor durch eine unglückliche Spekulation alles, was er besass, und starb am nämlichen Tage, da sein Bankerott öffentlich bekannt gemacht wurde, am Herzschlage. Da hatte der Dekan der St. Cyprianer Universität, der seit dem Tage, da sein Bruder Kaufmann geworden war, alle Beziehungen zu ihm abgebrochen hatte (seinen Begriffen nach war der Kaufmannsberuf eines Gentleman und eines Musgrave unwürdig), sich des einzigen Sohnes seines Bruders erinnert, ihn zu sich genommen und so erzogen, als wenn er sein eignes, leibliches Kind gewesen wäre. Er war keine zärtliche Natur; er verwöhnte den jungen Burschen nicht durch Geschenke; er bezeigte wenig Teilnahme an seinen Interessen, aber er liess es ihm an nichts fehlen; er duldete ihn bei sich, er vertrug sich mit ihm, und das war etwas, was er noch mit keinem lebenden Wesen, mit Ausnahme des Rektors der Universität, gethan hatte.

      Fred hatte sich — ausser in gymnastischen Uebungen — wenig in der Schule und auf der Universität ausgezeichnet; aber er war fleissig gewesen, hatte sich stets gesittet und manierlich betragen und nie Schulden gemacht. Die ab und zu vorgekommenen Zwistigkeiten mit seinem Onkel hatten gewöhnlich ihren Grund in ganz unbedeutender Meinungsverschiedenheit gehabt und fast immer damit geendigt, dass der junge Mann dem Alten den Willen that — oder sich doch den Anschein gab, es zu thun. Dabei hatte er sich stets so gutmütig und liebenswürdig benommen, dass der alte Mann ihm nie lange hatte zürnen können. Für Fred waren diese kleinen Zänkereien allmählich mehr amüsant als ärgerlich geworden. Er hatte sich daran gewöhnt und brachte ihnen mit der Zeit ein gutes Teil Geduld und Langmut entgegen. Er hatte den Charakter seines Onkels verstehen gelernt; ob aber sein Onkel dem seinigen dasselbe Verständnis entgegenbrachte, war eine Frage, die wir dahingestellt sein lassen wollen.

      Nun war alles vorüber. Der arme Waisenknabe von ehemals war plötzlich nicht nur sein eigner unumschränkter Herr, sondern auch der Besitzer eines grossen Vermögens geworden. Er schämte sich vor sich selber, dass ihm dieser Gedanke sofort in den Sinn kam und sich nicht vertreiben lassen wollte. Dass er der einzige Erbe seines Onkel war, daran zweifelte er keinen Augenblick; wer sollte es sonst sein? Und an diesen Gedanken knüpfte sich selbstverständlich sogleich der, dass ihn fortan nichts abhielt, sich um Susie Moore zu bewerben.

      Im Augenblicke, da ein König seinen letzten Atemzug gethan hat, nimmt sein Nachfolger Feder und Papier und schreibt seinen Erlass an das Volk. Das Herkommen verlangt es, dass er es thut und dass er darin seinem Schmerze um den Toten Ausdruck gibt; aber trotzdem enthalten solche Erlasse, wenn man sie genau betrachtet, nichts weiter als die Mitteilung: „Ich mache die Mitteilung, dass ich den Thron bestiegen habe. Ich lebe hoch!“ Im Privatleben geschehen ähnliche Dinge, die sich nun einmal nicht umgehen lassen. Dem Lebenden gehört die Welt, er muss seine neuen Pflichten, seine Verantwortlichkeiten und Vorteile ins Auge fassen und man darf einen Erben, dessen Kummer mit einer seltsamen Erregung, die fast der Freude gleicht, gemischt ist, nicht zu hart beurteilen. Fred gab sich alle Mühe, derartige unkindliche Gefühle zu unterdrücken und sich nur dem Schmerze um den Verlust seines Wohlthäters hinzugeben. Ob es ihm gelang, seinen guten Vorsatz auszuführen, blieb trotzdem zweifelhaft. Im Laufe des Vormittags erschien der Rektor, um ihm sein Beileid auszusprechen.

      „Mein lieber Sohn,“ sagte der alte Mann, „du glaubst nicht, wie sehr, sehr leid es mir thut — schrecklich leid — wenn du doch zur Zeit gekommen wärest! Ich mache mir selber Vorwürfe, dass ich dich nicht eher gerufen habe; aber ich gebe dir mein Wort, dass ich bis gestern nachmittag keine Ahnung davon hatte, wie schlecht es mit meinem armen Freunde stand. Sobald ich das erkannte, telegraphierte ich nach dir; leider Gottes zu spät. Wenn du ihn noch lebend angetroffen hättest, hätte er dir sicher vergeben — sicherlich. Ich will damit nicht sagen, dass du dir besondere Vorwürfe zu machen hättest; es ist, weiss Gott, kein Verbrechen, ein Lustspiel zu schreiben. Aber ...“

      „Ich glaube nicht, dass mein Onkel mir im Grunde des Herzens wirklich böse war,“ erwiderte der junge Mann ein wenig verwundert. „Aber selbst wenn er mir gezürnt hat, so bin ich doch fest überzeugt, dass er mir vor seinem Tode vergeben hat.“

      „Vielleicht — hoffen wir es,“ antwortete Doktor Drysdale, der die Absicht gehabt hatte, mehr zu sagen, sie aber offenbar änderte. Es war ja möglich, dass der Dekan sein beabsichtigtes Testament nicht mehr zu Papier gebracht, oder dass er es noch in letzter Stunde widerrufen hatte. Jedenfalls war es, da die Thatsache früher oder später ans Tageslicht kommen Musste, das Gescheiteste, einstweilen zu schweigen. Er begnügte sich daher mit einigen frommen Redensarten über die Unsicherheit aller irdischen Dinge und mit Entschuldigungen über seines toten Freundes Eigenart, die Fred ein wenig überflüssig dünkten.

      Das ganze Verhalten des Rektors war ihm ein Rätsel. Hatte derselbe die Absicht, ihm Vorwürfe zu machen, dass er seinem Onkel gegenüber bis zuletzt trotzig und hartnäckig auf seinem Stücke bestanden hatte? Wenn Fred die Vorwürfe auch nicht ganz ungerechtfertigt finden konnte, so dünkte ihn doch die Zeit, sie zu erteilen, ein wenig schlecht gewählt. War es denn ein Verbrechen, ein Drama zu schreiben? Freilich, hätte er eine Ahnung gehabt, dass es der letzte Wunsch seines Wohlthäters sein sollte, ihn eine andere Karriere einschlagen zu sehen, so hätte er ihm doch wohl willfahrt und nicht seinen Willen durchzusetzen gesucht. Es ist die Pflicht jedes Menschen, sich den Wünschen seiner Wohlthäter zu fügen, das sah Fred jetzt plötzlich klar ein, und nachdem Doktor Drysdale ihn verlassen hatte und der junge Mann sich allein befand, sagte er sich seufzend, dass sein Gewissen ihm sicherlich noch lange Zeit Vorwürfe machen und keine Ruhe lassen würde.

      Es gab in den nächsten Tagen so viel für ihn zu thun, dass Fred wenig Zeit hatte, über sich selber nachzudenken. An jedem Morgen sandte ihm Mr. Breffit einen schriftlichen Rat, eine Instruktion, und am Begräbnistage erschien der Rechtsanwalt in Person und brachte den Bruder von des Dekans verstorbener Frau mit, einen Sir James Le Breton, ehemaligen indischen Beamten, mit dem der Dekan, obgleich oder vielleicht weil er ihn nie gesehen hatte, auf ziemlich freundschaftlichem Fuss geblieben war. Auf Mr. Breffits Veranlassung hatte Sir James eine Einladung erhalten, seinem Verwandten die letzte Ehre zu erweisen.

      Fred und er waren die einzigen Leidtragenden, die der Dekan hinterliess. Trotzdem war das Begräbnis sehr prunkvoll und das Gefolge sehr zahlreich. Eine Menge hervorragender Gelehrter und Männer der Wissenschaft war aus London herübergekommen, aber sie zeigten es alle, dass sie nur einer Pflicht hatten genügen wollen, und machten sich, sobald die Feier vorüber war, zumeist eilends wieder auf den Heimweg. Nur einige wenige nahmen in des Dahingeschiedenen Wohnung noch ein Frühstück ein, und nachdem auch diese sich verabschiedet hatten, sagte Breffit mit feierlicher, ernster Miene, dass es nun wohl an der Zeit sei, das Testament zu verlesen.

      Der Rektor und Sir James Le Breton waren zu Testamentsvollstreckern ernannt und sollten für diesen dem Toten geleisteten Dienst als Zeichen der Erkenntlichkeit die Summe von je hundert Pfund Sterling erhalten. Die wertvolle Bibliothek des Testators war der St. Cyprianer Universität vermacht worden; die Diener erhielten ansehnliche Legate; dann verkündigte Mr. Breffit nach einer Pause mit einem Seufzer, dass „mein Neffe Frederick Musgrave“ die Summe von zehntausend Pfund Sterling erben sollte, und dass das ganze übrige Vermögen an barem Gelde und Grundbesitz „meiner Tochter Laura Fenton“, und im Falle von deren Tode dem nächsten lebenden Verwandten zufallen sollte.

      Ob für gewöhnlich der Beruf eines Anwalts unterhaltend ist, hängt natürlich davon ab, was man für einen Begriff mit dem Worte unterhaltend verbindet; mögen nun aber auch die Pflichten eines Anwalts im allgemeinen etwas langweilig sein, so können sie doch gelegentlich dadurch etwas belebt werden, dass sie wirklich dramatische Situationen schaffen, und man wird Herrn Breffit nicht jede Befriedigung missgönnen, die er vielleicht darüber empfand, seine Zuhörer förmlich verblüfft zu haben. Sir James Le Breton, ein magerer, weisshaariger, alter Herr, der sich über das ihm zugefallene Amt des Testamentsvollstreckers nicht sonderlich gefreut und sich darüber nur mit dem Gedanken an die dafür in Aussicht


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