Naus zum Glubb. Roland Winterstein

Naus zum Glubb - Roland Winterstein


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hin zu Pizzaecken widerstehen zu müssen – vom Fünfgänge-Menü im VIP-Bereich mal ganz abgesehen. Unsägliche Versicherungen und Handyverträge können heutzutage abgeschlossen werden. Ich erwarte demnächst die Möglichkeit eines EKGs oder einer Gebrauchtwagenaktion im Innenbereich bis kurz vor Anpfiff. Darum muss ich noch einmal (falls Sie es überlesen haben) auf die Zahl der Fressbuden in den Siebzigern hinweisen: Es gab eine, allerhöchstens zwei Anlaufstellen für so viele leere fränkische Mägen und noch mehr trockene Kehlen!

      Ich Knirps mit viel zu wenig Taschengeld für solche kulinarischen Extras stieg die Stufen hinauf zum Eingang des 7er-Blocks. Als ich drin war, blickte ich mich allerdings etwas enttäuscht um. Denn ich fühlte mich wie in einem leeren Raumschiff. Bei Minusgraden herrschte hier zwei Stunden vor Spielbeginn eine Atmosphäre wie in der Allianz Arena heute: nämlich gar keine. Ich setzte mich auf eine Stufe vor einem der zahlreich vorhandenen Haltegeländer und wickelte mich in meine Decke.

      Auf dem Stahlrohr vor mir klebte ein Sticker: „Die Hoffnung stirbt zuletzt.“ Jemand hatte mit Kugelschreiber danebengeschrieben: „Und wer begräbt die dann?“ Weiter unten stand noch „Scheiß Bayern!“. Das überlas ich schnell, denn meine Eltern hatten mir ja beigebracht, Kraftausdrücke jeglicher Art zu meiden. Unten auf dem eher braunweiß gefleckten als saftig grünen Rasen kämpften immer noch Ordner in ihren flatternden gelben Westen leise fluchend, aber engagiert gegen die sibirischen Witterungsverhältnisse. So richtig einladend empfand ich das ganze Szenario nicht, zumal meine Zehen bereits halb eingefroren waren.

      Doch dann erschienen endlich bekannte Gesichter. Bibbers schwenkte einen vollgepackten Bastkorb. Wir veranstalteten ein ausgiebiges Winterpicknick knapp 60 Minuten vor Anpfiff. 2019 undenkbar. Der Block füllte sich langsam, aber stetig. Dann von irgendwoher der Schlachtruf: „Sie kommen raus!“ Eigentlich der ideale Moment, um aufzuspringen. Mit Handschuhen klatschen ist unwahrscheinlich armselig, doch die Kälte hatte uns klamm und mürbe gemacht. Patsch. Patsch. Patsch. Ungelenk huldigten wir unseren Helden. Denn unten machten sich langhaarige Gesellen nicht weniger unbeholfen warm.

      Das war also unsere aktuelle Mannschaft. Einer sah aus wie der leibhaftige Jesus aus den Weihnachtsfilmen und hieß im wahren Leben Horst Weyerich. Ein anderer namens Herbert Heidenreich trug ein lustiges Zwirbelbärtchen und hätte locker als einer der drei Musketiere durchgehen können. Dann schoss einer tolle Flanken und bewegte sich dabei so galant wie jener Schauspieler, den Mama immer so hinreißend fand. „Ach, Belmondo …“, seufzte sie stets, wenn er auf der Mattscheibe erschien. Hier im Stadion riefen die Zuschauer nicht Belmondo, sondern immer „Schorsch“ Volkert. Mir kam diese Truppe auf Anhieb unheimlich verwegen vor, war es doch meine allererste Clubmannschaft, die ich live und in Farbe begutachten durfte.

      Und plötzlich wurde mir heiß – und das nicht nur um die Herzgegend. Wir standen dichtgedrängt beieinander und wärmten uns. Das Flutlicht wurde wegen der dämmrigen Witterung frühzeitig angeknipst. Endlich hüpften und brüllten wir so motiviert, wie die Spieler auf dem Platz den Gegner bekämpfen sollten. Einer meiner Freunde boxte mich leicht in die Seite und nickte in Richtung Block 4. „Pass auf, wenn die Teams einlaufen!“ Ich hatte nicht den Dunst vom Schimmer einer blassen Ahnung, was er meinte, aber ich passte auf. Dann wurden die Mannschaften angekündigt. Aber nein, ankündigen und beweihräuchern kann man das heute nennen, früher wurden einfach mal schnell und kaum verständlich die Aufstellungen runtergenuschelt. Ich reckte meinen Kopf so hoch ich eben konnte und linste rüber zum Block 4. Die Heimat aller Hartgesottenen. Ein Fahnenmeer aus Rot und Schwarz wischte vor meinen Augen hin und her. Buntes Konfetti verwandelte die Kurve in eine farbenprächtige Wolke voller Papierschnipsel, die zu uns rüberwehte.

      Ich lauschte gebannt ihren Schlachtgesängen, und ihre Konfettis hingen in meinen Haaren, klebten im Mund, eigentlich überall. Das war mir völlig schnuppe, denn bereits in der dritten Minute schoss Jean-Paul Belmondo alias Schorsch mich und meine Freunde 1:0 in Führung. Wir sprangen trotz Frostbeulen federleicht hoch, als ob es kein Morgen gäbe. Die Hintermänner fielen uns in den Rücken. Die vorne fingen uns wieder auf. Wildfremde Armen griffen nach mir. Unbekannte herzten mich. Ich spürte fremde Lippen an meinem Ohrläppchen. Der Bastkorb von Bibbers flog davon. Alles egal. Alles für den Club. Jubelarien wurden angestimmt, die ich nicht kannte, aber leidenschaftlich mitgrölte. Das Flutlicht blendete mich – vor meinen Augen funkelten Sterne. In Zeitlupe hob ich meine Hand zur Faust, um sie mit Tausenden anderen Fäusten nach unten zu werfen und schrie wie von Sinnen: „FCN! FCN!“

      Und plötzlich war er da. Lehnte sich lässig an mich. Er hatte sogar kurze Hosen an, trotz der Kälte. Mich hatte er ausgeguckt und würde sich tief in mein Herz brennen. Ich konnte ihn spüren und wusste, er wird mich nie wieder verlassen. Dieser magische Club-Moment. Was hatte Mama gesagt? So was nennt man Liebe! Ab diesem Tag würde es keinen anderen Verein als diesen einen aus meiner Heimatstadt für mich geben. Diesem Club will ich folgen, egal wohin! Wo er sich auch befinden mag, ich werde hinter ihm stehen. Ob im Finale um einen goldenen Pokal oder in den Niederungen einer unterklassigen Liga. Ich umarmte meine Freunde. Wir hörten gar nicht mehr auf zu hüpfen. Wegen unserer frostigen Zehen oder dem 2:0 vom kühnen Musketier Heidenreich, der gerade extrem unterkühlt als neuer Himmelsstürmer zustach. Die dreiwöchige Bronchitis danach nahm ich gerne in Kauf, denn das Clubfieber hatte mich eiskalt erwischt.

      KUTTENKALLE & ICH

      Es war beschlossen. Wir vier Nürnberger Jungspunde wollten nun jedes Heimspiel unseres Clubs hautnah erleben, ausgenommen der Spieltage, an denen die Sonne vom Himmel lachte und wir wegen – unserer Meinung nach – komplett sinnloser Freizeitaktivitäten mit der Familie die eine oder andere Träne verdrückten. Aber glücklicherweise lebten wir ja nicht in Spanien und verfolgten einen Club der Primera Division, dort hätten wir unser neues Dasein als Supporter gleich wieder begraben müssen. Gelobt seien die deutschen Tiefdruckgebiete. Apropos Niederschläge. Wir lernten langsam mit den zahlreichen Punktverlusten auf heimischem Platz umzugehen. Unverdrossen standen wir stolz in der überfüllten Straßenbahn, die wie immer nach Bier, Schweiß und anderen seltsamen Dingen duftete, die ich nicht einzuordnen wusste. Hinten rechts wurden Lieder intoniert, neben uns gelacht. Einige sagten auch gar nichts und waren in einer Art narkoseartiges Koma versunken.

      Es gab zu diesem Zeitpunkt noch ein relativ überschaubares Arsenal an Fanutensilien. Die handgestrickte Wollmütze, den Schal und als absolutes schickes Highlight ein Halstuch mit vielen kleinen FCN-Emblemen, das man sich wahlweise, je nach Endresultat, um die (eigene) Gurgel oder auch schick ums Handgelenk schnürte. Glamouröse Polyestertrikots mit Rückennamen, in Auswärts- oder Heimfarben unterteilt, waren von uns noch so weit entfernt wie die nächste Meisterschaft.

      Aber eines hatte ich hier drinnen von Haltestation zu Haltestation stets vor Augen, und zwar vielfach: Jene ärmellose Jacke mit dem runden FCN-Logo in der Mitte und vielen kleinen Aufnähern drumherum. Unsere eigenen Kutten wirkten dagegen armselig, es war ein Unterschied zwischen parfümierten Ballettröckchen und blutverkrusteten Lederjacken.

      Fanclub Frankenhöhe 1977 konnte ich entziffern. Eines Tages wagte ich es. Ich tippte einen dieser mächtigen Gesellen an und fragte zögerlich: „Was ist ein Fanclub?“ Ein Mann mit langen, strähnigen Haaren drehte sich lächelnd zu mir um und strich mir mit seinen Pranken, die von harter Arbeit zeugten, behutsam über den Kopf. „Fans, das sind wir alle hier, also auch du, mein Kleiner. Und was der Club ist, muss ich dir ja nicht erklären.“ Und dann sagte er einen Satz, der bei mir den Gierfaktor pfeilschnell wie ein Antritt von Sergio Zarate nach oben schnellen ließ. „Willst du auch mal so eine echte Kutte haben?“ Ich war perplex und brachte keinen Ton heraus. Echte Kutte. Weil ich nichts Besseres wusste und meine Kumpels bereits angesichts meiner geröteten Wangen feixten, nickte ich verschämt. Er schmunzelte zufrieden. „Wir treffen uns in zwei Wochen vor Block 4. Dann kriegst du was von mir. Bring aber deine Kutte mit, klar?“ Ich konnte mich an diesem Tag auf das (wieder mal vergeigte) Spiel kaum konzentrieren. Woher um Himmels willen sollte ich eine echte Kutte bekommen?

      Meine Kutte war bis dahin eine liebevoll umgestaltete Regenjacke. Aber eben eine Regenjacke. Zuhause durchforstete ich meinen Kleiderschrank und fand nur das Sakko für die feierlichen Anlässe und eine senfgelbe Strickjacke. Ich konnte doch keine Strickjacke als Kutte tragen! Oma Berta musste wieder mal herhalten. Tags darauf ging es also in eine Zweigstelle der Quelle, den familiären


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