Naus zum Glubb. Roland Winterstein

Naus zum Glubb - Roland Winterstein


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meinen Geisteszustand und sah mich bereits in der geschlossenen Anstalt Nürnberg-Erlenstegen ein schwachsinniges Dasein fristen. Meine Mutter fragte sich, was sie bei meiner Erziehung falsch gemacht hatte. Denn die anderen Jungs in der Nachbarschaft trugen doch ordentliche Strickjacken oder Regenjacken. Oma fand mein merkwürdiges Treiben ganz in Ordnung. „Wenn es ihm gefällt, dann basst’s scho“.

      So stand ich knappe 14 Tage später vor dem berüchtigten Block 4 und wartete. Und da kam er. Er lächelte und deutete zufrieden auf die Jeansjacke in meiner Hand. „Kannst Kalle zu mir sagen“, murmelte er und kramte etwas aus seiner Gesäßtasche. Der legendäre kreisrunde FCN-Aufnäher kam zum Vorschein. Er hielt ihn mir direkt vor meine glänzenden Augen. Dann wurde sein Blick ganz bedeutungsschwanger. „Es kann nur eine Kutte geben! Und die wird nie, aber auch wirklich nie gewaschen. Schwöre es, Bub!“ Ich konnte nicht anders, fühlte mich wie Ritter Lancelot, dem gerade von der Tafelrunde das sagenhafte Schwert Excalibur überreicht wurde. Ich hob feierlich die Hand zum Schwur. Rechts und links wankten leicht angetrunkene Fans in den Block. „Oh, wie ist das schön!“, schrien sie sich gegenseitig an. Ich musste mich anstrengen, sie zu übertönen, und brüllte noch lauter: „Ich schwöre es, Kalle!“

      „Gut, Junge“, brummte er und schlurfte den Sängern hinterher. Er drehte sich noch mal um und lächelte sanftmütig. „Musst keine Angst vor mir haben, ich bin eigentlich mehr ein Typ für leise Töne. Nur hier draußen flippe ich aus.“ Der kantige Kerl zwinkerte mir vergnügt zu und folgte seiner krakeelenden Truppe ins Stadioninnere. Kuttenkalle versorgte mich viele Jahre lang mit Aufnähern. Oma Berta hat diese kleinen Kunstwerke aus Stoff dann immer aufgenäht. Dieses Kleidungsstück wurde meine Uniform, mein Sicherheitsschild. Ich war stolz, und wenn ich sie überzog, wusste ich, bald würde der Ball rollen und ich wäre mit von der Partie.

      Heute gehören die Kuttenträger leider zu einer aussterbenden Spezies. Ich sehe sie aber immer noch gerne und halte im Stadion jedes Mal ein wenig Ausschau nach ihnen. In Zeiten vom totschicken Merchandising und den Ultras mit ihren eigenen Utensilien haben sie sich rar gemacht. Doch ich möchte sie nicht missen. Auch wenn ich heute im sündhaft teuren Umbro-Trikot herumflaniere und Werbung auf meiner Brust trage von Firmen, die ich eigentlich gar nicht mag oder kenne. Die Kutte baumelt noch immer ganz hinten in meinem Kleiderschrank und wird, trotz Protesten meiner Familie, natürlich nicht entsorgt, auch wenn ich zähneknirschend eingestehen muss, dass sie unterdessen in der Tat ein wenig riecht. Aber schenken Sie bitte denjenigen keinen Glauben, die vollmundig behaupten, meine heilige Oberbekleidung „stinke meilenweit gegen den Wind“.

      Eines Tages kam Kalle nicht mehr zum festen Treffpunkt. Ein paar Worte hatten wir immer gesprochen, uns flüchtig ausgetauscht. Ich konnte spüren, dass Kalle ein bisschen stolz auf mich war. Mein Ersatzpapa für 90 Minuten plus Verlängerung. Vermutlich hat er auch immer ein wenig auf mich aufgepasst. Wo Kalle begraben liegt, weiß ich nicht, aber ich bin mir sicher, er ruht mit seiner Kutte in diesem Holzkasten unter der Erde. Ist zwar nicht gerade innovativ und leicht abgenutzt wie eine Kutte, aber mir fällt gerade nichts Besseres ein: You’ll never walk alone, Kalle!

      STÖBIS RETTENDES UFER

      „Nach dem Spiel ist vor dem Spiel.“ Beim Club tri diese Phrase nicht gänzlich zu. Erstens glauben hiesige Fans (ich nehme mich da nicht aus) auch 35 Minuten nach Schlusspfiff und einer gerade erlittenen herben Klatsche, dass ihr Team das Ding heute doch noch irgendwie dreht. Zweitens existiert da so eine imaginäre Verlängerung, in welcher der Fan, Kopf nach unten, seinen beschwerlichen Heimweg antritt. Von allen Seiten tauchen sie nämlich plötzlich auf: Nürnberger ohne Eintrittskarte und in Zivil. Man sollte sich vor Augen führen, dass in den Achtzigern keiner eine mobile digitale Fußfessel am Ohr kleben hatte. Und so wurde ich zum gefragten Führungsspieler meiner persönlichen „dritten Halbzeit“. Keine drei Fragezeichen, sondern drei magische Worte mit einem dicken Fragezeichen am Ende bauten sich als unüberwindbare Mauer vor mir auf. Und die Mauer konnte sogar sprechen: „Wie hammens gespielt?“

      Anfangs war ich noch überrascht, aber mit der Zeit entwickelte ich einen routinierten Umgang mit meiner Hauptrolle als lebendiger Ergebnisdienst. 2:1, gerne legte ich eine kurze Kunstpause ein. Ließ mein Gegenüber zappeln. Wenn sich die oder der Fragende zaghaft mit einer Niederlage anfreundete, fuhr ich lapidar fort: „Gewonnen!“ Kaum hatte ich diese frohe Botschaft verkündet, war ein Glänzen und Leuchten in allen Gesichtern um mich herum zu entdecken, der heimische Christkindlesmarkt ist ein Dark Room dagegen. Meist stellte sich ein wohlwollendes Nicken ein. Andere mochten es kaum glauben und hakten gleich mehrmals nach, um sich dann mit Kind und Kegel jubilierend zu entfernen. Dann hörte ich die frohe Flüsterpost wie heutige Twittervögel umherflattern: Gewonnen haben sie! Und wenn der Opa wieder mal gänzlich schwerhörig daherkam, grölte man in sein Ohr: „Die Deppen ham gewunna!“ Großvater XY reckte dann seinen Daumen in die Höhe und rief: „Basst scho!“

      Für Nichteinheimische möchte ich kurz anfügen, dass der Slogan „Basst scho“ in Franken an einer absoluten Obergrenze der Zufriedenheit und des Lobes angesiedelt ist. Dieser Ausspruch wird in einer sehr weitverzweigten Gemengelage angewandt, die schon mal von „Ich habe eine unheilbare Krankheit und sterbe morgen“ über „Meine Frau ist nach Fürth gezogen“ bis zu „ 5 Millionen im Lotto gewonnen“ reichen kann. „Basst scho“ passt also zu allem und irgendwie immer.

      Manchmal jedoch, wenn mein Blick düster verhangen war, fragten die meisten gar nicht groß nach und ließen die Häupter gleich solidarisch mit den meinigen weit nach unten in die Abstiegsregionen hängen. Denn sie ahnten, dass ich heute keine glorreiche Botschaft zu verkünden hatte. Aber immerhin teilte man auf diese Weise Freud und Leid. So entschied ich als kleiner Clubberer auch stets ein wenig mit, ob das Wochenende trotz nervigen Familienausflugs um die Wöhrder Wiese oder Schlittenfahren auf der Sommerrodelbahn in Pleinfeld gerettet war. Vorpolieren der Meisterschale oder Teeren und Federn des ahnungslosen Trainergespanns, darüber richtete ich mit meiner kurzen Antwort nach einem „Wie hammens gespielt?“.

      Mit der Zeit habe ich mir eine gewisse Gelassenheit angesichts bitterer Niederlagen angeeignet (glatt gelogen). Bis heute denke ich bei verlorenen Punkten an jene Imbissbude direkt am Dutzendteich in der sanft geschwungenen Kurve. An der musste ich nach Schlusspfiff auf meinem Heimweg vorbei. Erst kam dieser klapprige Wohnwagen mit Würstchen, dann passierte ich den Bootsverleih mit nicht minder klapprigen Tretbooten und hinten wartete die Tram, die mir meist kurz vor der Nase wegfuhr. Und wenn nicht, wollte der Fahrer immer wissen, wie es denn ausging. Er rumpelte dann entsprechend euphorisiert oder gemächlich Richtung Holzgartenstraße.

      Doch kehren wir noch einmal zurück zur kleinen Fresshütte. Sie bleibt mir bis heute aus mehreren Gründen im Gedächtnis haften: Immer wenn ich sie kreuzte, plärrten nach dem Spiel aus einem kleinen Grundig Transistorradio erste Analysen. Ich roch den Duft der Leckereien auf dem Rostgrill. Dazwischen schwirrten die Stimmen der Spieler. „Eine sehr unglückliche Niederlage, aus der wir lernen können.“ „Wir sind alle sehr froh, den Dreier geholt zu haben.“ „Hätte der Elfmeter nicht den Pfosten getroffen, wäre das heute anders ausgegangen.“ „Nun sind’s schon sieben Punkte Rückstand zum rettenden Ufer.“ Und so weiter … und so fort. Vor zwei Stehtischen brummten dann die immer gleichen schrägen Vögel ihre Analysen, selbst ein 3:0 zuhause reichte denen nicht für euphorische Jubelstürme: „Andere hätten heute 5:0 gewonnen.“ Ich habe diese Meckerecke im Grillnebel nie verstanden. Ich mochte sie auch irgendwie nicht riechen. Denn für diese dunklen Gestalten war mein Club immer abgestiegen, nicht wettbewerbsfähig und eine kickende Katastrophe. Selbst Ratten zeigen mehr Mitgefühl, dachte ich mir damals und war stolz darauf, im Biologieunterricht aufgepasst zu haben.

      Nur der Wirt war okay. Er winkte mir mit den Jahren immer freundlich zu, weil ich an Werktagen als Zivi mit meinem Rollstuhlfahrer Herrn Stöbinger, allseits nur „Stöbi“ gerufen, regelmäßig hier Halt machte. Stöbi orderte ein Weizen. Ich erhielt leider nur eine Fanta, obwohl ich auf Schwipp-Schwapp bestand. Stöbi sammelte Münzen und versprach mir seit Ewigkeiten eine ganz wertvolle zu schenken. Die erhielt ich genauso wenig wie mein Colamischgetränk. Da standen wir also. Die Anticlubberer waren auch wieder anwesend, wie eigentlich immer. Ich hatte sie im Verdacht, dass alle hier lebten und abends, wie die Mülleimer, vom Wirt in die Bude gestellt wurden.

      Stöbi, muss man wissen,


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