Willem Adolf Visser 't Hooft. Jurjen Albert Zeilstra

Willem Adolf Visser 't Hooft - Jurjen Albert Zeilstra


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dass diese Kirche weit davon entfernt war, so viele Schwierigkeiten ertragen zu müssen wie die protestantischen Kirchen. Er untersuchte auch die evangelische Jugendarbeit. Zu seinem Leidwesen stellte er fest, dass die Nationalsozialisten nach und nach die gesamte Jugendarbeit übernommen oder aufgelöst hatten. Dies galt schon für die international ausgerichteten deutschen Abteilungen des YMCA, für die er selbst so lange mitverantwortlich war.104 Ihnen sollten bald die Studentenorganisationen, einschließlich des WSCF, folgen.

      Nicht nur die Kirchen liefen Gefahr, ihre Identität bei der totalitären Machtübernahme zu verlieren. Obwohl Visser ’t Hooft schon früher vor dem sterilen Wissenschaftsansatz gewarnt hatte, stellte sich jetzt paradoxerweise heraus, dass es nicht zu einer wertfreien Wissenschaft kam. Die Universitäten zeigten sich verwundbar, wurden nun zum Ziel schädlicher politischer Einmischung und zu Orten sozialer, politischer und wirtschaftlicher Unruhe. Aufgeregte Studenten mischten bei Krawallen ganz vorne mit. Sie waren nach Visser ’t Hooft in keinem Land dem Militarismus zugeneigt, jedoch über ihre Chancen in der Gesellschaft enttäuscht, unsicher über ihre Zukunft und voller Sehnsucht nach Veränderung. So waren Studenten leicht zu verführen. In ihrem Verlangen sah Visser ’t Hooft einen religiösen Unterton.105

      Was war der eigentliche Reiz der Massenbewegungen für junge Menschen? Das war die Frage, die sich Visser ’t Hooft im Mai 1934 in seiner Rede für die Glasgow University Union stellte, als er fünfzehn britische Universitätsstädte besuchte. Er erinnerte daran, wie er bereits 1921, kurz nach dem Krieg, in Glasgow gewesen war, und an die hoffnungsvolle Sehnsucht der jungen Menschen nach einer anderen Zeit. Jetzt fühlten sich die Studenten in einer »kranken Welt« von den Geistern der Arbeitslosigkeit und des Krieges bedroht. In Osteuropa mussten die Universitäten wegen Unruhen regelmäßig geschlossen werden. Die Studenten hatten das Gefühl, dass niemand auf sie wartete, außer, wenn sie sich gegen ihren Willen in Soldaten verwandelten. Laut Visser ’t Hooft wurden die Menschen von den totalitären Massenbewegungen abgeschreckt. Eine Wahl war notwendig – und diese war entweder Christus oder ein Führer wie Mussolini, Hitler oder Stalin. Das Christentum konnte sich keine entschuldigende Haltung mehr leisten. Es musste jetzt deutlich bekennen, dass es mit vollem Herzen und Loyalität zu Christus stünde. Intellektuelle konnten es sich nicht mehr leisten, das Leben ohne Verpflichtung zu betrachten.106 Visser ’t Hooft sah, dass christliche Studenten auf der ganzen Welt diese neue Dringlichkeit erkannten und deshalb mutig jeden Kompromiss ablehnten. Eine radikale Entscheidung für Christus war die Antwort.

      Echte Evangelisation war authentische »Teamarbeit«, also nicht gegenüber dem anderen predigen, sondern neben ihm und im Gespräch mit dem anderen, wobei das Gebet und eine gemeinsame Offenheit für Gott bedeuten konnte:

      »Keine Anmaßung. Nicht ich habe es, nicht du. Evangelisiere dich selbst, bevor du den anderen evangelisierst. Stell dich mit ihm unter den Ruf und das Versprechen. Solidarität. Nur wenn wir geben, erhalten wir.«107

      Er wollte eine Alternative anbieten. Während einer speziellen NCSV-Evangelisierungskonferenz 1933 an der internationalen Schule La Châtaigneraie in Genf unterstrich er, dass die Entscheidung für Christus eine ernste Angelegenheit sei. Die Studenten seien die geistlichen Führer von morgen und hatten die Verantwortung, ihre Gaben zu entwickeln. Sie waren ein Mittel gegen Defätismus, Kommunismus und Faschismus. Einige Jahre lang beschäftigte sich der NCSV, teilweise unter dem Einfluss von Visser ’t Hooft, mit verschiedenen Aspekten der Volkseinheit. Ein wichtiger Beitrag dazu kam von dem berühmten – und nicht kirchlichen – niederländischen Kulturwissenschaftler Johan Huizinga. Er hielt im Mai 1934 einen Vortrag mit dem Titel Niederländische Geistesformen in Woudschoten vor dem NCSV.108

      Visser ’t Hooft selbst konnte jedoch in seinem Führungsstil und im Eifer seiner »aggressiven« Evangelisation durchaus autoritär sein. Manchmal verwendete er Begriffe, die nicht jeder schätzte. Beispielsweise sprach er 1935 über die Notwendigkeit eines »totalitären Christentums« und schrieb dem wahrhaften Christentum absolute Werte zu.109 Hierauf kam auch Kritik aus seinen eigenen Kreisen. Eric Fenn, Leiter des britischen SCM, lehnte diese Art von Sprache für die Kirche oder das Christentum ab. Es sei falsch, den Anschein einer zentralen Verkörperung objektiver göttlicher Autorität zu erwecken. Visser ’t Hooft gab das zu. In seinem WSCF-Bericht über den Zeitraum von 1931 bis 1935 tauchten diese Ausdrücke nicht mehr auf.110 Er hatte die Briten von ihrem manchmal zu bequemen Christentum, das auf einer natürlichen Theologie basierte, abbringen wollen; sie sollten nicht ausblenden, was jetzt in Deutschland geschah.111

      Visser ’t Hooft wollte mit christlichen Führern in Deutschland in Kontakt bleiben. Aber wie? Seinem Vorschlag, aus dem WSCF einen ständigen ökumenischen Beobachter nach Deutschland zu schicken, begegnete man in Deutschland mit Skepsis. Das Schreiben von Briefen wurde durch die Zensur immer schwieriger. Die befreundeten Deutschen baten ihn ausdrücklich darum, »zwischen den Zeilen ihrer Briefe zu lesen.«112 Niederländer, die dicht an der deutschen Grenze lebten, rief er auf, bei Hilfeersuchen zur Verfügung zu stehen und den Kontakt aufrecht zu erhalten.

      1938 gab das Hitler-Regime für Visser ’t Hooft jeglichen Anschein von Vernunft auf. In der Nacht des 9. November sah er, während einer seiner Deutschlandbesuche, Synagogen in Tübingen und Stuttgart brennen.113 Zusammen mit Henry-Louis Henriod, dem Generalsekretär des Weltbundes für Freundschaft der Kirchen und Adolf Keller, dem Direktor des europäischen Büros für die zwischenkirchliche Hilfe und Flüchtlinge, InterchurchAid, schickte er am 16. November 1938 einen Brief an eine große Anzahl von Kirchen, um sie an frühere ökumenische Verabredungen gegen Antisemitismus und die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge zu erinnern.114 Man fühlte sich jedoch in erster Linie für die zum Christentum konvertierten Juden und insbesondere für die Pfarrer unter ihnen verantwortlich. Visser ’t Hooft hatte eine Liste von dreißig »nicht-arischen« Pfarrern, von denen viele nun Deutschland verlassen wollten. Er bat J. C. Wissing vom Ökumenischen Rat in den Niederlanden, einige dieser Pfarrer in den Niederlanden oder in Niederländisch-Indien als »Bruderpflicht« aufzunehmen.115 Wissing selbst saß im Vorstand des Protestantischen Hilfskomitees für Flüchtlinge wegen Rasse oder Glauben (Protestants Hulpcomité voor Uitgewekenen om Ras of Geloof), das in den Niederlanden gegründet wurde und eng mit dem Flüchtlingskomitee des Ökumenischen Rates der Kirchen in Genf zusammenarbeitete. Sie versuchten auch, Flüchtlinge nach Südamerika auswandern zu lassen. Es war eine schwierige Arbeit, weil sich die deutsch-jüdischen Pfarrer nicht leicht vermitteln ließen. Aber Visser ’t Hooft meinte zu Wissing, er finde, dass die Niederlande stark und klar auf die jüngsten Ereignisse in Deutschland reagierten. Im Frühjahr 1938 setzte sich der von Visser ’t Hooft ermutigte NCSV für den deutschen Pfarrer Martin Niemöller ein, der aus Protest gegen den Arierparagraphen in der Kirche den Pfarrernotbund gegründet hatte. Er wurde wegen seiner Kritik an den Nationalsozialisten 1937 auf Hitlers persönlichen Befehl inhaftiert. Visser ’t Hooft forderte den NCSV auf, Niemöller nicht als Politiker oder Mann der Redefreiheit zu präsentieren, sondern als einen Mann der Kirche.116 Die »Deutsche Revolution« war in einem Albtraum für Kirche und Gesellschaft gemündet. Nur von einem kirchlich bekenntnisorientierten Christentum, das Opfer bringen und die Einheit aufrechterhalten konnte, erwartete Visser ’t Hooft noch etwas.

       2.8 Ein »Nein« zur Mission

      In dieser Zeit hätte Visser ’t Hooft fast eine führende Position in der Mission angenommen. Das Thema faszinierte ihn. Ost-Indien stand an der Schwelle einer neuen Ära, und seiner Meinung nach konnte Mission eine wichtige und konstruktive Rolle im Entkolonialisierungsprozess spielen. Sowohl im WSCF als auch in der Familie wurde viel über Mission gesprochen. Einer der Cousins von Jetty, Steven C. Graaf van Randwijck (1901–1997), war von 1929 bis 1942 Missionskonsul in Batavia, der Hauptstadt von Niederländisch-Indien. Auch Conny L. Patijn (1908–2007), ein weiterer Cousin von Jetty, erwog 1937 nach seiner Promotion in Rechtswissenschaft in Utrecht in die Mission zu gehen. Darüber wurde auf Spaziergängen auf dem Anwesen Het Roode Koper in der Veluwe, das der Familie von Connys Frau, Mariët Patijn-van Citters gehörte, gesprochen, wo auch Wim


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