Willem Adolf Visser 't Hooft. Jurjen Albert Zeilstra
harte Haltung der Unterscheidung zwischen antinationalen und pro-nationalen Juden« zurückgebracht werden. Er bat um Geduld. Gegen den Artikel von Visser ’t Hooft erhob der Chefredakteur des Algemeen Weekblad voor Christendom en Cultuur, H. Th. Obbink, in einer Fußnote Einwände; meinte jedoch, dass er diese mit vollem Namen unterzeichnete Meinung nicht ablehnen könne.93
Während in der WSCF-Föderation deutsche Mitglieder wegen ihrer unbeugsamen Haltung oft kritisiert wurden, stellte Visser ’t Hooft bei dem Versuch, die »deutsche Revolution« zu deuten, fest, dass genau diese Eigenschaft es ihnen erlaubte, in dieser unsicheren Zeit für das Evangelium zu kämpfen.94 Nach Ansicht von Visser ’t Hooft widersetzte sich die deutsche Jugend entschieden jeder Scheinsicherheit, die zur bürgerlichen Mentalität früherer Generationen gehörte.
»Die neue Primitivität der Jugend bedeutet, dass sie weniger geneigt ist, Religion im Namen von ›Fortschritt‹, ›Philosophie‹ oder ›Wissenschaft‹ abzulehnen, als vielmehr, sie nach ihren eigenen Verdiensten zu beurteilen. […] Wenn die Jugend etwas im Christentum sucht, dann sucht sie darin eine Botschaft von Autorität und Macht.«95
Nach Ansicht von Visser ’t Hooft wollten junge Menschen keine intellektuelle christliche Apologie, sondern Glauben.
»Aber ein Glaube, der von der absoluten Autorität seines eigenen Objekts lebt und der sich als die Wahrheit und nicht als eine Wahrheit darstellt, hat wenigstens die Chance, ernst genommen zu werden. Dies impliziert natürlich, dass die Jugend keinen Glauben braucht, der seine Gültigkeit auf nur einen Lebensbereich beschränkt. Das wäre seltsam: eine Autorität, die die höchste Autorität für das innere Leben ist und doch nichts mit äußeren Taten, mit sozialem und politischem Leben zu tun hat. Die Jugend verlangt zu Recht, dass sich der Wahrheitsanspruch der Prophetie sowohl im Leben (im ganzen Leben) als auch in Worten beweist.«96
Im Juni 1933 bekam er jedoch zunehmend Vorbehalte gegen den Charakter des neuen Regimes in Deutschland und beschloss, den Artikel »Jugend 1933« nicht zu veröffentlichen.
Visser ’t Hooft war in diesem Monat auf der Konferenz der deutschen christlichen Studentenbewegung in Neu-Saarow in Bayern. In seinen Erinnerungen beschreibt er, nicht ohne Humor, wie die Menschen noch nicht wussten, wie sie sich jetzt im neuen Deutschland verhalten sollten. Zu Beginn eines chaotischen Treffens machte jemand neben Visser ’t Hooft einen übermäßig enthusiastischen Hitlergruß, wobei er Visser ’t Hooft mit der Faust ins Auge schlug. Als der neu gewählte Reichsbischof Friedrich von Bodelschwingh durch das von Hitler unterstützte Mitglied der Deutschen Christen, Ludwig Müller, als Reichsbischof abgelöst zu werden drohte, gab es heftige Diskussionen unter den Studenten über dieses Thema. Einige Wochen später erlebte Visser ’t Hooft während eines Treffens des Internationalen Studentendienstes, der Hilfsorganisation des WSCF, in einem Kloster bei Oberammergau im Ettal, wie plötzlich eine Gruppe von Nazis einmarschierte und der zu diesem Zeitpunkt den meisten ausländischen Gästen unbekannte SA-Führer Ernst Röhm eine Rede hielt. Für Visser ’t Hooft waren die schwarzen und braunen Uniformen ein neues Phänomen bei den Studententreffen. Er wollte Röhm fragen, ob die Nationalsozialisten tatsächlich die nationalen Traditionen anderer Länder respektieren würden, wie Röhm in seiner Rede behauptet hatte. Als sie die Straße vom Kloster zum Hotel hinuntergingen, versuchte er, Röhm diese Frage zu stellen. Dieser war aber vor allem am lauten Jubel um ihn herum interessiert, so dass es zu keinem Gespräch kam. Auch später am Abend, auf einem vom Bürgermeister veranstalteten Fest, waren die uniformierten Nationalsozialisten sichtbar anwesend. Visser ’t Hooft saß am Tisch neben SS-Führer Heinrich Himmler (1900–1945). Doch 1933 sagte ihm der Name Himmler nichts. Er fragte Himmler nach der Bedeutung von Röhms Worten, wurde aber durch die Antworten, die er erhielt, nicht klüger. Visser ’t Hooft sagte etwas über die niederländische Tradition der Toleranz, die auf Wilhelm den Schweiger (Willem de Zwijger) zurückging. Himmler erklärte jedoch, dass die Niederländer Niederländisch-Indien als Kolonie verlieren würden, wenn sie sich nicht bald von den Juden befreien würden. Was das eine mit dem anderen zu tun hatte, wurde Visser ’t Hooft nicht klar. So ging es weiter. Visser ’t Hooft fand die Geschichten der Nazis inkohärent, und es dauerte mehrere Jahre, bis ihm klar wurde, wie gefährlich sie tatsächlich waren.97 Im Nachhinein fragte er sich noch oft, ob er nicht etwas von den späteren schrecklichen Taten Himmlers in diesem Gespräch hätte ahnen können. Aber ihm fiel nichts ein. »Er schien mir nur ein kleinbürgerlicher, engstirniger Mann zu sein.«98 Und doch sollte ihm dieses Treffen noch nützlich werden.99
Ein großes Projekt, für das sich Visser ’t Hooft in dieser Zeit einsetzte, war die Gründung eines ökumenischen Seminars in Genf. Er selbst war einer der Dozenten der kleinen ökumenischen Sommerkurse für Theologen.100 Als der Bonner Professor Karl Barth im Dezember 1934 auf Befehl der Nationalsozialisten aus seinem Amt entlassen wurde, setzte sich Visser ’t Hooft dafür ein, ihn nach Genf zu holen; allerdings vergeblich.101 Pierre Maury und er besuchten Barth zu dieser Zeit regelmäßig in seinem Wochenendhaus am Bergli am Zürichsee, wo sie lange Gespräche führten. Wofür Barth allerdings in diesem Jahr nach Genf kommen wollte, war eine Reihe von Gastvorträgen über Johannes Calvin an der Evangelischen Fakultät Genf. Schließlich entschied er sich für einen Lehrstuhl in Basel, in der Nähe von Deutschland, weil er einen guten Kontakt zu den Führern der deutschen Kirchen halten wollte.
Das wollte Visser ’t Hooft auch. Er versuchte, sich über Entwicklungen in der deutschen Kirche so gut wie möglich in deutschen, schweizerischen, englischen und anderen Zeitungen zu informieren. Im Februar 1934 unternahm er eine Deutschlandreise und besuchte zahlreiche Vertreter insbesondere der lutherischen Kirche. Viele kannte er persönlich; so präsentierte er sich nicht zu Unrecht als Kenner der deutschen Kirchenpolitik. Während Hitler in Mein Kampf religiös vage geblieben war und vom »positiven Christentum« sprach, ohne zu erklären, was er damit meinte, griff der NSDAP-Ideologe Alfred Rosenberg in seinem Buch Der Mythus des 20. Jahrhunderts102 sowohl die römisch-katholische als auch die protestantische Kirche an. Es war zwar keine offizielle nationalsozialistische Politik, doch Hitler schien dem zuzustimmen. Trotz seines Versprechens, die Kirche zu respektieren, wurde die gesamte Kirche nun rasch von innen heraus von den Hitler-Anhängern, den Deutschen Christen, übernommen. Eine Kirchenspaltung drohte. Doch die kirchliche Opposition zerfiel bald in eine gemäßigte Gruppe um den lutherischen Bischof August Mahrarens und in eine radikalere Gruppe um den reformierten Pastor Martin Niemöller und den sogenannten Bruderrat. Für Visser ’t Hooft lag die eigentliche Herausforderung darin, die deutsche Kirche für Gott zu bewahren. Solange das Evangelium in dieser Kirche noch gepredigt werden konnte, war Kirchentrennung keine Lösung. Typisch für Visser ’t Hooft zu dieser Zeit war, dass er eine Lösung nur von einem prinzipiellen theologischen Ansatz erwartete, also es ging darum, das Bekenntnis selbst in der deutschen Kirche zu bewahren. Er war ein Gegner sowohl der Einmischung von außen als auch des Abbrechens der Verbindungen zur deutschen Kirche.103
Das Schicksal der Juden im Allgemeinen führte nicht zu einer größeren Debatte in der Kirche. Aber als aufgrund des Arierparagraphen jüdisch-christlichen Pfarrern die Ausübung ihres Amtes in der Kirche untersagt wurde, kam es zu einem heftigen Konflikt. Der Staat brach in kirchliches Hoheitsgebiet ein, indem er sein Recht auf eigene Führer geltend und das Funktionieren anderer unmöglich machte. Vom 29. bis zum 31. Mai 1934 fand in Barmen eine »freie Synode« deutscher lutherischer und reformierter Kirchen statt. Hier wurde die Barmer Theologische Erklärung angenommen, deren Hauptverfasser Karl Barth war und die sich gegen den absoluten Machtanspruch der Nationalsozialisten über die Kirche wandte. Visser ’t Hooft sah in der Barmer Theologischen Erklärung ein wichtiges Bewusstseinselement; ihre Unterzeichner fühlten sich direkt in ihrem Bekenntnis getroffen, für sie drohte die kirchliche Gemeinschaft auseinanderzubrechen (status confessionis). Die Bekennende Kirche, die nun am Entstehen war, erlebte in seinen Worten nun keine Kirchentrennung, »sondern eine doleantie (Abspaltung)«, es drohte Märtyrerschaft. Doch die Regierung beeindruckte das nicht. Im September war Ludwig Müller, Hitlers Vertrauter und Mitbegründer der Deutschen Christen, bereit, als Reichsbischof uneingeschränkt mit den Nationalsozialisten zusammenzuarbeiten. Dies war ein weiterer Schritt zur Gleichschaltung der evangelischen Kirche. Die Spannungen