Willem Adolf Visser 't Hooft. Jurjen Albert Zeilstra
In jedem Fall konnte sich das Christentum nicht mehr glaubwürdig als die höchste der großen Religionen präsentieren, meinte Visser ’t Hooft. Von jetzt an musste das Christentum klar auftreten und sich gegenüber dem neuen Heidentum positionieren. Radikale Entscheidungen mussten getroffen werden. 1932 schrieb Visser ’t Hooft in diesem Sinn an den Internationalen Missionsrat:
»Der große Unterschied zwischen 1927 und 1932 ist der zwischen der Traumwelt vor der Krise und der Krise selbst, zwischen der Sphäre der Ruhe und Erwartung und der Sphäre des Entsetzens, zwischen einer Welt, die keiner Realität gegenüberstand, und einer Welt, die sich dieser jetzt stellen musste. Der Kommunismus ist für uns heute nicht mehr die merkwürdige Theorie eines halbasiatischen Landes, sondern eine unmittelbare Herausforderung, ein unausweichliches Problem, eine sehr direkte Bedrohung. Der Nationalismus ist nicht länger das kultivierte Verlangen einer Gruppe exzentrischer Schriftsteller und halbgarer Militaristen, sondern die dominierende Leidenschaft der Massen. Die wirtschaftliche Verwirrung wird nicht länger durch die scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten der Produktionssteigerung und des Umsatzanstiegs verdeckt. Die Absurdität und Anarchie der ganzen Situation ist ans Licht gekommen. Und so hat sich in jedem Lebensbereich eine Krisenpsychologie entwickelt.«83
Nachdem die Abrüstungsgespräche gescheitert waren, ging es mit dem Völkerbund in Genf schnell bergab. Im Oktober 1935 fiel Italien in Abessinien, dem heutigen Äthiopien, ein. Sanktionen gegen Italien oder einen Boykott durch andere europäische Länder oder andere Maßnahmen gab es nicht. Im Mai 1935 wurde Addis Abeba besetzt. Im darauffolgenden Monat sprach der äthiopische Kaiser Haile Selassie, der nach Genf geflohen war, in einer Sondersitzung des Völkerbundes. Er rief zur Gerechtigkeit auf und warnte, dass das nächste Opfer eines solchen Übergriffs ein europäisches Land werden könnte. Seine Rede war erst möglich, nachdem italienische Journalisten von der öffentlichen Tribüne verwiesen worden waren; sie hatten den Kaiser ausgebuht und Urwaldgeräusche gemacht. Spontan entschied sich der YMCA für eine Initiative, die im Namen internationaler Organisationen Solidarität mit dem Kaiser bekundete, der sich im Genfer Carlton Hotel aufhielt. Visser ’t Hooft wurde gebeten, ihn als Leiter einer Delegation anzusprechen. Er sprach ohne Mandat, sagte aber, er wisse, dass er mit seiner Solidaritätserklärung die Gefühle von Millionen zum Ausdruck bringe. Die Delegierten sollten sich schämen, dass ihre Länder die Grundprinzipien des Völkerrechts, die Grundlage des Völkerbundes, nicht verteidigt hätten. Besonders für Christen war die Besetzung Äthiopiens ein trauriger Fall, denn Äthiopien zählte zu den ältesten christlichen Staaten.
»Wir kennen Gottes Pläne nicht und wissen nicht, welche Zukunft er für die äthiopische Nation vorbereitet. Wir wissen jedoch, dass das geistige Schicksal eines Volkes nicht von der Beliebigkeit politischer Zufälle abhängen sollte.«84
Lange nach dem Zweiten Weltkrieg sollte Visser ’t Hooft Haile Selassie noch einmal als Oberhaupt der äthiopischen Kirche im Ökumenischen Zentrum an der Route Ferney in Genf empfangen und im Januar 1971 mit ihm und dem Zentralkomitee des Ökumenischen Rates der Kirchen in Addis Abeba als Gäste des Kaisers das Timkat-Fest der Taufe Christi feiern.85
Der internationale Idealismus hatte eine tiefe Niederlage erlitten, was Visser ’t Hooft, wie erwähnt, nicht überraschte.86 Internationalismus war für ihn nie die Antwort gewesen. Die Bruderschaft der Menschen würde immer ein schöner Traum bleiben, es sei denn, sie gründe sich auf die Vaterschaft Gottes.87 Als 1938 der indische Unabhängigkeitskämpfer Jawaharlal Nehru, der spätere Ministerpräsident von Indien, Genf besuchte, hörte Visser ’t Hooft, wie er sich auf das kurz zuvor erst festlich eröffnete Völkerbundgebäude, den Palais des Nations, bezog und es als »Grab« bezeichnete.88
2.7 Eine »deutsche Revolution«?
Visser ’t Hooft fand, dass man das schnelle Wachstum der nationalistischen Jugendbewegungen um 1930 nicht politisch erklären könne. Es war der deutsche Schriftsteller Thomas Mann, der ihm durch seine Analyse von »geistlichen Werten, die in sich verteidigbar seien und eine gewisse logische Notwendigkeit« hätten, half, dies zu erkennen. Vor allem in Deutschland und Italien, aber nicht nur dort, hatten junge Männer, die aus dem Krieg zurückgekehrt waren, in den 1920er Jahren eine »Rückkehr zur Sinnlosigkeit« erlebt. Ihre Tendenz zum Faschismus, der sich zu einer »neuen Religion« entwickelte, war eine Reaktion auf billigen Individualismus und auf eine leere Demokratie. Trotz des Verständnisses, das man dafür haben konnte, meinte er, dass der Faschismus als Götzendienst abgelehnt werden müsse.
»Die Aufgabe der Kirche ist es, die prophetische Stimme des Alten Testaments wieder zum Klingen zu bringen, um wieder zu den Völkern zu sprechen, so wie es Amos und Jeremias taten, um das Wort des Herrn der Völker zu predigen.«89
Er betonte, dass das Evangelium mehr als ein schöner, aber überflüssiger Anhang zum internationalistischen Ideal ist.
In seinen Erinnerungen erzählte Visser ’t Hooft, dass er, als Hitler 1933 in Deutschland die Macht ergriff, in den Vereinigten Staaten war. Während in der amerikanischen Presse heftige Reaktionen zu lesen waren, blieb Visser ’t Hooft lakonisch: »Reg dich nicht auf, diese Nazis müssen viel Wasser in ihren Wein geben, wenn sie Verantwortung tragen wollen.« Aber »ein paar Wochen später« musste er sein Urteil drastisch revidieren, als er begriff, was eine Regierung unter Hitler bedeuten könnte. Seltsamerweise machten diese Entwicklungen bei den amerikanischen Studenten wenig Eindruck:
»Februar und März – Monate mit großen Ereignissen in der Weltgeschichte! Eines Tages werden mich meine Enkel fragen: ›Sie* waren doch auch in dieser großen Krise von 1933, als niemand Geld hatte und Roosevelt das Land rettete? War das nicht sehr aufregend?‹ Und dann muss ich ehrlich sagen: ›Nun, das Seltsame war, dass von diesem Moment an fast allen Universitäten, an denen ich zu dieser Zeit war, nur sehr wenig Aufmerksamkeit entgegengebracht wurde.‹ ›Aber‹, so würden sie dann weiterfragen, ›waren die amerikanischen Studenten nicht sehr nervös wegen der deutschen Revolution und des chinesisch-japanischen Krieges?‹ Und dann muss ich sie noch einmal enttäuschen und sagen, dass diese Dinge diskutiert wurden, aber dass der amerikanische Student sein erstaunliches Gleichgewicht nicht verlor.«90
Es ist falsch, dass Visser ’t Hooft seine Vision einige Wochen nach seiner Amerikareise überarbeitet habe. Er blieb mehrere Monate der Ansicht, Hitler habe Deutschland vor dem Untergang bewahrt und sprach selber von einer »deutschen Revolution«. Er stimmte mit vielen seiner deutschen Kontakte überein, die glaubten, dass Hitler Deutschland daran gehindert habe, auseinanderzufallen, obwohl sie selber die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und ihre Methoden ablehnten. Visser ’t Hooft warnte vor voreiligen Interpretationen von Journalisten und Urteilen von Pazifisten und christlichen Führern und machte sich an eine ernsthafte Untersuchung der nationalsozialistischen Vorstellungen über Kirche und Staat. Er war besorgt, dass die neuen Entwicklungen die antideutschen Ressentiments mit ihren Wurzeln im Ersten Weltkrieg wieder beleben würden.91
Als kurz nach dem Antritt der demokratisch an die Macht gekommenen Hitler-Regierung der Reichstag am 27. Februar 1933 brannte, ergriff der Reichskanzler seine Chance und setzte das Parlament außer Kraft. Aber in einem Artikel im Algemeen Weekblad voor Christendom en Cultuur, der im Mai 1933 erschien, urteilte Visser ’t Hooft noch immer sehr mild über die Machthaber in Deutschland und bat um Verständnis, dass im neuen Deutschland nun zwischen Jude und Nichtjude unterschieden wurde.
»Es ist hier nicht der Ort, um dieses Phänomen zu analysieren – es gibt Gründe, darauf hinzuweisen, die erklärbar und zum Teil sogar vertretbar sind; zum anderen ist diese Entwicklung einfach auf Vorurteile und Ignoranz zurückzuführen – aber es muss gesagt werden, dass dieses Thema viel komplizierter ist, als dass es der Außenstehende zu erkennen vermag.«92
Zur Erklärung nannte Visser ’t Hooft zwei Aspekte. Es gäbe erstens Juden, die ein getrenntes Volk innerhalb des deutschen Volkes sein wollten. »Dies stellt ein Land, das aufgrund von Meinungsverschiedenheiten und innerer Spaltung auseinanderzufallen droht, vor besondere Schwierigkeiten.« Zweitens erwartete Visser ’t Hooft, wie schon bei seiner ersten