Willem Adolf Visser 't Hooft. Jurjen Albert Zeilstra
tat, der damals jeden Abschnitt als ein zeitgenössisches Ereignis interpretieren konnte, dann ist die Bibel ebenso wenig ein Ort der Begegnung wie das ägyptische Totenbuch.«51
Morgens seine Bibel aufzuschlagen, bedeutete für Visser ’t Hooft, sich für einen bewussten Tag mit Gott zu öffnen. Auch, wenn es ein Ringen um den richtigen Weg sein konnte, so wie es der Kampf Jakobs am Jabbok war.52
Regelmäßig kritisierte Visser ’t Hooft die Sterilität der Wissenschaft, eine Wissenschaft ohne die gesunde Einbindung gesellschaftlicher Probleme. Viele Gläubige waren Spezialisten in ihrem Gebiet, waren sich aber ihrer christlichen Berufung nicht bewusst, fand er. Sie konnten die Implikationen ihres Glaubens nicht oder nur unzureichend mit ihrem Beruf in Verbindung bringen und lebten in zwei getrennten Welten. So könne, meinte Visser ’t Hooft, ein christlicher Psychiater beispielsweise eine hohe, idealistische und völlig heidnische Vorstellung von seinem Beruf haben. Andere, ähnliche Bereiche sah er in Recht, Politik und Wirtschaft. Er führte diesen bedenklichen Mangel an christlicher Verantwortung auf einen durchschlagenden Individualismus und ein schwaches Gemeinschaftsgefühl zurück, vor dem er die Studenten warnte.53
Wie beim YMCA war beim WSCF die internationale Konferenz eines der wichtigsten Instrumente von Visser ’t Hooft, um sein Ziel zu erreichen. Unzählige Male war er auf Versammlungen einer der Sprecher der Studenten. Doch als er viel später auf diese Zeit zurückblickte, war er mit seinen Reden für junge Menschen aus dieser Zeit alles andere als zufrieden. Anfangs sprach er gerne über die Rolle der Christen auf der Weltbühne. Aber damit sprach er manchmal über die Köpfe seiner Zuhörerschaft hinweg. Die jungen Zuhörer hatten persönliche Glaubensfragen oder machten sich Sorgen, dass sie keine Arbeit finden würden. Er lernte aus seinen Irrtümern und versuchte, weniger theologisch zu theoretisieren und junge Menschen direkt und praktisch anzusprechen.54 Auf einer europäischen Konferenz von Theologiestudenten in Canterbury, die um die Jahreswende 1930/1931 stattfand, erzählte Visser ’t Hooft eine Anekdote, die er später häufiger aufgriff: Ein Fährmann beförderte drei Professoren, einen Theologieprofessor, einen Biologieprofessor und einen Geologieprofessor. Als das Boot mit den heftig diskutierenden Gelehrten an eine Stromschnelle kommt, fragt der Fährmann lakonisch: Wissen die Herren auch etwas über Schwimmkunde? Theologie müsste, so argumentierte Visser ’t Hooft, in dieser Zeit »Schwimmwissenschaft« sein. Nur, wenn sich die Konferenz so mit Theologie beschäftigen würde, könne sie einen wirklichen Beitrag zur ökumenischen Bewegung leisten.55 Wenn es sich in diese Richtung entwickelte, hatte er keine Angst vor politischen Aussagen. Die Berichterstattung darüber war nicht immer positiv, aber die meiste Zeit war sie ihm wohl gesonnen.56 Er entwickelte verschiedene Ansätze und Methoden, um die Situation junger Menschen zu analysieren. In den frühen 1930er Jahren versuchte er auch, den starken Nationalismus unter der Jugend als falsche Religion zu entlarven.
In wenigen Jahren baute sich Visser ’t Hooft einen guten Ruf als ein starker Redner auf, ein echter Debattierer, der die Studenten faszinierte und keine Angst hatte, klare Standpunkte zu vertreten.57 In dieser Zeit lernte er viel, auch über die Hintergründe seines Publikums, als er beispielsweise vom 14. Januar bis zum 3. Februar 1930 verschiedene britische Universitäten besuchte. Die britisch-irische Studentenbewegung war die stärkste nationale Abteilung des WSCF, aber als er selber in Wales war, stellte er fest, dass viele Studenten dort das Konzept eines persönlichen Gottes ablehnten. Er fragte sich, ob diese Ablehnung vielleicht eine Reaktion auf die Erweckungsbewegung, die evangelical awakenings, war, die in Wales 1859 und 1904–1905 besonders einflussreich gewesen war. Wurde hier das Evangelium vielleicht früher zu einfach vorgetragen, so dass es die Studenten nun ohne großes Interesse ablehnten? Weil ihnen das Problembewusstsein fehlte und sie nicht gelernt hatten, als Gläubige kritisch zu denken? In England schien Religion so selbstverständlich Teil der Kultur zu sein, dass gerade aus diesem Grund häufig ein persönlicher Glaube fehlte. Visser ’t Hooft überlegte, ob die Botschaft der Kirche selbst hier nicht viel säkularisierter war, als viele Briten glaubten.58
Maury und Visser ’t Hooft gelang es, Barths Theologie im englischen und französischen Sprachraum bekannt zu machen, und so wurde Visser ’t Hooft in den frühen 1930er Jahren in Frankreich als Barth-Spezialist bekannt. In einem Vortrag für den französischen christlichen Studentenbund SCM plädierte Visser ’t Hooft 1930 für eine Neubewertung der christlichen Lehre, nicht um die traditionellen Wahrheiten absolut zu erklären, sondern um die christliche Position in der Gegenwart klar und deutlich in die Öffentlichkeit zu bringen. Für die kleine Minderheit der französischen Protestanten im säkularisierten Frankreich war das ein aktuelles Problem. Die Botschaft des deutschen Theologen und Philosophen Friedrich Schleiermacher (1768–1834), der sich ausführlich mit dem Gefühl und der Abhängigkeit des Menschen von Gott befasst hatte, war in seinen Augen unzureichend. Eine Erneuerung der Funktion der Glaubenslehre als gedankliche Auseinandersetzung mit der Botschaft Gottes für die Welt war nur möglich, wenn diese durch Gottes Wort selbst zu den Menschen sprach:
»Die Lehre ist daher nichts anderes als der Versuch, eine sehr menschliche Anstrengung, um in unseren eigenen Worten zu wiederholen, was Gott selbst gesagt hat. Es ist nicht die absolute Wahrheit selbst, aber dennoch ist es mit Sicherheit ein Wort Gottes, weil der Inhalt nicht von uns, sondern von Gott stammt.«59
Laut Visser ’t Hooft brauchte man nicht die Gabe eines Propheten, sondern die »Gabe eines Papageien«, um die Zivilisationskrise in den frühen 1930er Jahren zu erkennen. Ihm zufolge waren sich die Studenten dieser Krise sehr bewusst und verstanden besser als andere Gruppen, dass jetzt alles fokussierter wurde. Nietzsche hatte recht, dachte er, als er ausgerufen hatte: »Heilige uns, wehe uns, das Tauwetter fällt!«60 Visser ’t Hooft zitierte Also sprach Zarathustra:
»›Im Grunde steht alles stille‹ –, das ist eine rechte Winter-Lehre, ein gut Ding für unfruchtbare Zeit, […] ein guter Trost für Winterschläfer und Ofenhocker.
›Im Grund steht alles still‹ –: dagegen aber predigt der Thauwind! Der Thauwind, ein Stier, […] ein Zerstörer, der mit zornigen Hörnern Eis bricht! Eis aber– bricht Stege!
O meine Brüder, ist jetzt nicht alles im Flusse? Sind nicht alle Geländer und Stege in’s Wasser gefallen? Wer hielte sich noch an ›Gut‹ und ›Böse‹?
›Wehe uns! Heil uns! Der Thauwind weht!‹ – Also predigt mir, o meine Brüder, durch alle Gassen!«61
Mit dieser Art von Reden wollte Visser ’t Hooft sein Publikum für die Zeichen der Zeit sensibilisieren.
Im Frühjahr 1930 unternahm er seine zweite Reise nach Nordamerika. Er sah, dass sich die Widersprüche dort seit seinem letzten Besuch im religiösen und kulturellen Leben verschärft hatten. Es beunruhigte ihn zu hören, dass viel mehr junge Menschen als bei seinem ersten Besuch die Existenz Gottes in Frage stellten.62 Im September desselben Jahres besuchte er Italien, wo er in Florenz Vorträge über das jährliche Sekretärs-Training des YMCA für mehr als 20 Jugendleiter hielt. Die italienische christliche Studentenbewegung war gerade erst aufgelöst worden, da unter dem Mussolini-Regime nur noch Studentenvereinigungen zugelassen waren, die der Faschistischen Partei angehörten. Christliche Studenten trafen sich jedoch weiterhin in informellen Gruppen, und der YMCA versuchte, sie nach Möglichkeit zu unterstützen.63 Als Visser ’t Hooft Italien im November 1932 erneut besuchte, stellte er erfreut fest, dass sich evangelische und katholische Studenten angenähert hatten. Er vermutete, dass der Einfluss des Vatikans in den kommenden Jahren auf die Katholiken außerhalb Italiens abnehmen würde, da war jeder Kontakt wertvoll.
»Es wird sicherlich einige Reaktionen gegen die Italienisierung der Kirchenleitung und die damit einhergehende Verringerung des Verständnisses für die hoffnungsvollsten Bewegungen innerhalb der Kirche in Rom geben. Wir tun jedoch gut daran, mit den Führern in Rom in Kontakt zu bleiben, denn dann wissen wir, was sie denken und können auf den Tag hinarbeiten, an dem eine echte Diskussion zwischen der römischen Kirchenleitung und uns beginnen kann.«64
In der Enzyklika Mortalium animos von 1928 hatte Papst Pius XI. seine Ablehnung jeglichen Kontakts zwischen der römisch-katholischen