Willem Adolf Visser 't Hooft. Jurjen Albert Zeilstra

Willem Adolf Visser 't Hooft - Jurjen Albert Zeilstra


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Er war überzeugt davon, dass mit den Ideen dieser akademischen Theologen die Massen niemals motiviert werden können.

      Diese Einsicht disqualifizierte für ihn die Wahrhaftigkeit ihrer Gelehrtheit, die er als eine im Elfenbeinturm eingemauerte Elite wahrnahm. Troeltsch unterschied auf der einen Seite zwischen dem Ideal einer gemeinschaftsbildenden »Kirche« und auf der anderen Seite zwischen den sich aus der Welt zurückziehenden und Trennung bringenden »Sekten«. Obwohl der Theologe sowohl Kirche, Sekten als auch Mystik argumentativ legitimierte, war das noch kein Beitrag zur Lösung des modernen sozialen Problems. Damit verwies Troeltsch auf einen Komplex von Schwierigkeiten, die er im Zusammenhang sah mit Kapitalismus, industriellem Proletariat, Militär, Weltbevölkerungswachstum, Kolonialismus, Arbeitsethik und Migration sowie Mechanisierung.14 Für Troeltsch waren nach innen gerichtete Kirchen, die sozial in ihren Konfessionen aufgingen, Sekten. Zahlreiche Kirchen saßen daher seiner Meinung nach im zwanzigsten Jahrhundert in einer starren Position fest.15 Ihr Untergang war nahe. Da hatte Troeltsch recht, fand Visser ’t Hooft. Selbst Studenten- und Jugendbewegungen, die sich an der Zersplitterung des Christentums durch »Sekten« beteiligten, konnten nicht anders, als sich »säulenförmig« zu organisieren. In den Augen von Visser ’t Hooft war dies eine Entwicklung, die auf Kosten des Zeugnisses der Kirche Christi als sichtbares Volk Gottes gehen würde, das auf dem Weg in die Welt war. Troeltsch analysierte, seiner Meinung nach, die Religion und die Formen von Kirchesein grundsätzlich zutreffend, aber er hatte sich doch mit seinem Relativismus und seiner Akzeptanz des Individualismus auch die Möglichkeit genommen, Menschen eine Antwort zu geben. Karl Barth, der sich »dialektisch« nannte, präsentierte Gott nicht als immanent, sondern als transzendent und souverän. Nach Barth kritisierte Gott in seiner Offenbarung die Menschheit. Die Wahrheit kam ans Licht und das führte zur Reflexion und zum Aufbau von Gottes Reich von Frieden und Gerechtigkeit oder auch zur Verwerfung des Menschen. Die Annahme von Barths Einsichten ließ Visser ’t Hooft auf Distanz zur Kulturtheologie gehen.

      Ein dritter Theologe, der neben Troeltsch und Barth für Visser ’t Hooft prägend wurde, war der russische Kultur- und Religionsphilosoph Nikolaj A. Berdjajew (1874–1948). Dieser lehnte den Internationalismus als unbegründet optimistisch und vage ab und hielt ihn als Grundlage für eine Botschaft, die junge Menschen ansprechen könnte, ungeeignet. Berdjajew hatte sich zunächst im zaristischen Russland als Marxist verstanden und die Revolution von Lenin und seinen Anhängern 1917 unterstützt. Wegen seiner Kritik am Staatskommunismus wurde er jedoch aus Russland verbannt. Berdjajew war nicht nur von Dostojewski und Tolstoi beeinflusst, sondern auch von alten Kirchenvätern wie Gregor von Nyssa und Augustin. Auf dieser Grundlage stellte er Verbindungen zwischen den Wurzeln des Christentums und den Herausforderungen der modernen Welt her und vermochte so eine Brücke zwischen Ost und West zu bauen. Erst in Berlin und nach 1924 im Pariser Exil entwickelte er einen Sozialmarxismus mit einem starken personalistischen Ansatz.16 Visser ’t Hooft lernte ihn kennen, als Berdjajew in Paris russische Emigrantenstudenten zusammenbrachte und dann dort eine eigene Abteilung der World Student Christian Federation gründete. Die Kombination von modern und alt, von Ost und West, die Berdjajew verkörperte, sprach Visser ’t Hooft an. Zugleich fand er in ihm eine Antwort auf das Antikirchliche, was in Tolstois Schriften zum Ausdruck kam: Es ging um die Qualität der Gemeinschaft. Berdjajew sollte in der Folgezeit, unter anderem durch seine Beiträge für die Zeitschrift Esprit, großen Einfluss auf die ökumenische Jugendbewegung und das Denken im frühen Ökumenischen Rat der Kirchen haben.

      Neben der Organisationsform internationaler Konferenzen suchte Visser ’t Hooft nach anderen Vermittlungsformen. Er gründete eine englisch-deutschsprachige Zeitschrift mit dem Titel The Worlds Youth / Jugend in aller Welt, die zahlreiche Aspekte rund um das Thema »Jugend« konkret und zeitgemäß thematisierte. Durch Berichte über das Leben von Jugendlichen in verschiedenen Ländern, inhaltliche Artikel und ansprechende Fotos vermittelte dieses Magazin jungen Menschen das Gefühl, Mitglied einer bunten weltweiten Familie zu sein. Wie war es, ein griechisch-orthodoxer Jugendlicher auf dem Balkan zu sein? Oder ein junger chinesischer Christ in Kanton nach der Revolution von Sun Yat-sen? Was war der Inhalt des religiösen Kampfes um die Jugend Mitteleuropas?17 Die Zeitschrift Jugend in aller Welt scheute sich nicht vor klaren theologischen Positionen. Als Chefredakteur vermied Visser ’t Hooft eine naiv gemeinte Weltbruderschaft; stattdessen räumte er der Verkündigung des Evangeliums mehr Raum ein.18 Der YMCA war eine vielgestaltige Organisation und nicht jeder nahm das unwidersprochen hin. Auf die Frage, was es bedeutete, Jungen zu Christus zu bringen, antwortete Visser ’t Hooft, dass die »Dassel-Bewegung« dazu vier Antworten gegeben habe: Erstens gab es eine Gruppe von Aktiven, die der Meinung waren, dass Sünde und Vergebung von zentraler Bedeutung sein sollten. Die zweite Gruppe betonte dagegen die Gaben Christi und seine Auferstehung, während eine dritte Gruppe ihr Augenmerk auf den Prozess der persönlichen Hingabe an Christus richtete, mit Raum für die individuelle Entwicklung der Jungen. Die vierte Gruppe schließlich sprach lieber über die konkrete Anwendung christlicher Prinzipien auf die verschiedenen Lebensbereiche. Aber Visser ’t Hooft wollte die Meinungsverschiedenheiten innerhalb des YMCA nicht übertreiben: »Diese Standpunkte wurden nicht exklusiv von der einen oder anderen Seite vertreten. In den meisten Fällen ging es eher um Abstufungen als um Widersprüche.«19

      Visser ’t Hooft reiste nun regelmäßig durch Europa und nahm an zahlreichen Treffen mit Schülern und ihren Leitern, Studenten, arbeitenden Jugendlichen und jungen Theologen teil. Als internationaler Vertreter der christlichen Jugendarbeit hatte er leichten Zugang zu zahlreichen kirchlichen und politischen Würdenträgern. So besuchte er beispielsweise Pfingsten 1925 in Hannover eine Veranstaltung des deutschen YMCA, dem CVJM (Christlicher Verein Junger Männer), bei der 15.000 Jungen zum Thema »Vorwärts zur christlichen Männlichkeit« versammelt waren.20

       2.3 Botschafter für den YMCA

      Auf der Gründungskonferenz der Bewegung für Praktisches Christentum, die im August 1925 in Stockholm stattfand, war Visser ’t Hooft mit seinen 24 Jahren als YMCA-Vertreter der jüngste Teilnehmer. Er wurde zu einem kurzen Plenarbeitrag über die Jugendarbeit eingeladen.21 Jetty reiste mit nach Schweden, und zusammen waren sie vom 19. bis zum 30. August die persönlichen Gäste von Prinz Oscar Bernadotte, dem Bruder des Königs, der zugleich Vorsitzender des schwedischen YMCA war. Die treibende Kraft hinter dem Zusammentreffen von Christen aus unterschiedlichen Ländern war der lutherische Erzbischof Nathan Söderblom (1866–1931). Delegierte aus vielen Ländern, einschließlich derer, die sich vor kurzem im Krieg befanden, wurden aufgrund ihrer christlichen Berufung zu einem internationalen Treffen eingeladen. Die Bewegung wurde dann vor allem unter ihrem englischen Namen Life and Work bekannt. Während der Konferenz lernte Visser ’t Hooft den Schweizer Pastor Alphons Koechlin und den späteren britischen Bischof George Bell, damals Dean von Canterbury, kennen. Mit beiden Männern sollte er später noch sehr viel zusammenarbeiten. Zu der Begegnung schrieb die Rotterdamer Zeitung Courant damals, dass die meisten Konferenzteilnehmer nicht aufeinander hörten und statt dessen stärker mit ihrem eigenen religiösen Zeugnis beschäftigt waren als mit einem inhaltlichen Meinungsaustausch über aktuelle Probleme wie die Jugendfrage. Als Ausnahme hielt der Reporter in seinem kritischen Bericht jedoch fest: »Einer der sachlichen Kommentare wurde von dem jungen niederländischen Delegierten ’t Hooft gemacht.«22

      In Stockholm wollte Söderblom keine Lehrdifferenzen über den Inhalt des Glaubens, gemäß dem Wort »Lehre trennt, Dienst vereint«, wie das Hermann P. Kapler, der Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchenbundes formuliert hatte.23 Dieser Slogan wurde auch als »doctrine divides, but service unites« bekannt. Ein Grund für Söderbloms Zurückhaltung war, dass bereits eine Konferenz geplant war, auf der der Glaube diskutiert werden sollte: die Lausanner Konferenz von 1927, auf der schließlich die Bewegung Faith and Order (Glaube und Kirchenverfassung) gegründet wurde. Doch in Stockholm stellte Visser ’t Hooft fest, dass Söderbloms Devise nicht funktionierte – praktische Sachen konnten nicht ohne Glauben angegangen werden. Zugleich bemerkte er, dass die Arbeitsgruppen schlecht organisiert waren. Die Teilnehmer redeten viel, aber nicht miteinander. Es gab nicht


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