Willem Adolf Visser 't Hooft. Jurjen Albert Zeilstra

Willem Adolf Visser 't Hooft - Jurjen Albert Zeilstra


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gegründet wurden. Es war ein kompliziertes Unterfangen, all diese verschiedenen Vereine so zusammenzuhalten, dass sie den gesamten YMCA bereicherten. Ihre Aktivitäten reichten vom Bibelstudium über Schwimmunterrichtskampagnen, von Bildungsprogrammen für das Volk bis hin zu Evangelisation und Ferienlagern. Im Jahr 1926 gab es fast zehntausend assoziierte lokale Vereine mit einer geschätzten Mitgliederanzahl von 1,7 Millionen, von denen 30% Prozent jünger als 18 Jahre waren, in 63 Ländern, Gebieten und Kolonien.4 In Kontinentaleuropa wurden sie größtenteils von amerikanischen Philanthropen finanziert, die sich zu dieser Zeit sehr besorgt über die Auswirkungen von Kriegsgewalt und Revolutionen auf die Jugend zeigten. In den Jahren 1924 bis 1929 erholte sich die wirtschaftliche Lage, es kam zu relativem Wohlstand in Europa. Die Führung der YMCA befürchtete jedoch, dass sich unter der Jugend in Folge von Krieg und Revolution ein Geist der Skepsis, des Materialismus und der Säkularisierung durchsetzen würde. Es musste verhindert werden, dass eine neue Generation für radikale Bewegungen empfänglich wurde.5

      Als Sekretär des YMCA war Visser ’t Hooft mit einer Reihe großer internationaler Treffen besonders erfolgreich. Beispielsweise berief er zweimal eine Konferenz im niedersächsischen Dassel für diejenigen ein, die sich besonders für Schüler auf den weiterführenden Schulen engagierten. Zur ersten Konferenz, die 1927 stattfand, schickten fast 50 Bewegungen ihre Vertreter. Die zweite Dassel-Konferenz des YMCA folgte 1932.6 Es wurde ein spezielles internationales Komitee gebildet, das eine religiös-psychologische Herangehensweise an das Thema Jugend anregte. Dafür gelang es Visser ’t Hooft, als Experten den niederländischen Professor Philip A. Kohnstamm (1875–1951) zu gewinnen. Kohnstamm war nicht nur Pädagoge, sondern auch Philosoph und Physiker. Als Begründer der wissenschaftlichen Pädagogik und Didaktik in den Niederlanden setzte er sich für eine offene und realistische Herangehensweise ein, mit einem besonderen Interesse für die Entwicklungsphase des heranwachsenden Kindes.7

      Beim YMCA beobachtete man mit Befremden, wie kommunistische und faschistische Jugendorganisationen aufblühten und Jungen und junge Männer anzogen. Visser ’t Hooft stammte aus einem religiösen und politisch liberalen Umfeld, wobei er als junger Mann durchaus Sympathien für den Sozialismus hegte.8 Später betrachtete er das als einen Jugendflirt, der mit utopischen Träumen zu tun hatte; danach hatte er es nie wieder mit dem Sozialismus. 1917 wurde in den Niederlanden das allgemeine Wahlrecht für Männer eingeführt; 1922 durften Frauen zum ersten Mal wählen. Viele fragten sich damals, welchen Einfluss wohl die »Massen« auf Politik und Kultur haben würden. Visser ’t Hooft interessierte diese Frage auch, aber noch viel mehr beschäftigte ihn, wie diese Massen mit einer ansprechenden Verkündigung des christlichen Glaubens erreicht werden könnten. Visser ’t Hooft selber bekannte sich nie zu einer bestimmten politischen Partei oder Bewegung. Er wählte nie in den Niederlanden, und als er später als Ehrenbürger von Genf dort bei zahlreichen Referenden seine Stimme abgeben durfte, ließ er sich nie parteiideologisch zu seinem Wahlverhalten motivieren. Mit einer gewaltsamen Revolution konnte er nichts anfangen und Kommunisten hasste er, besonders, wenn sie an der Macht waren. Als Sozialisten anfingen, mit ihm zusammen zu arbeiten, hatte er, auch später, kein gutes Wort für sie.

      In seiner Jugendarbeit für das YMCA hatte Visser ’t Hooft viel mit weiterführenden Schulen zu tun. Er distanzierte sich von dem liberalen Ideal, dass in der Bildung die individuelle Entwicklung von Kindern, die durch ihre Herkunft privilegiert waren, im Mittelpunkt stehen sollte, so wie er es aus seiner eigenen Jugend kannte. Das YMCA konzentrierte sich auf Kameradschaft und baute auf einer klaren christlichen Botschaft auf. Das war als realistische Alternative zu den radikalen Bewegungen gedacht. Denn in Visser ’t Hoofts Augen waren der russische Kommunismus und der italienische Faschismus besonders gefährlich, indirekt auch für benachteiligte Schulkinder außerhalb Russlands und Italiens. Es gab eine internationale idealistische Bewegung, wie etwa die paneuropäische Bewegung von R. N. de Coudenhove-Kalergi, die die nationalen Souveränitäten abschaffen wollte. Zugleich wurde am Anfang des Krieges 1914 der Weltbund für Freundschaft von den Kirchen gegründet. 1929 nahm dieser, auf dem Höhepunkt seines Wirkens, die radikale Resolution von Eisenach-Avignon an, in der die internationale Rechtsordnung über die Loyalität zu dem Nationalstaat gestellt wurde.9

      In diesen Organisationen betrachteten die Menschen den Völkerbund mit großem Optimismus. Aber Visser ’t Hooft glaubte nicht, dass die Nachkriegsgeneration junger Menschen in solchen Ideen Halt finden würde. Dafür waren diese Ideen zu abstrakt. Totalitäre Bewegungen, wie die Mussolinis, waren seiner Ansicht nach so schlagkräftig, weil sich Patriotismus sehr konkret darstellen ließ. Und er sollte recht behalten. Dass diese allerdings so erfolgreich waren in ihren Forderungen nach politischer Loyalität, konnte man der »Masse« nicht verübeln. Ein Zeichen der neuen Ordnung war die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische und belgische Truppen 1923, als Deutschland die Strafbestimmungen des Vertrags von Versailles nicht einhielt.

      Doch 1924, als Wim und Jetty nach Genf kamen, gab es überall Hoffnung, dass sich mit der Gründung des Völkerbundes tatsächlich etwas im Zusammenspiel der Völkerwelt ändern würde. Vom Völkerrecht wurde viel erwartet. Die folgenden fünf Jahre war Europa von einem gewissen Optimismus geprägt. 1925 schlossen der französische Außenminister Aristide Briand und sein deutscher Amtskollege Gustav Stresemann den Locarno-Vertrag ab, mit dem Deutschland seine neue Westgrenze anerkannte. Deutschland wurde 1926 Mitglied des Völkerbundes. Mit dem Briand-Kellogg-Vertrag von 1928 wurde der Krieg von den Unterzeichnerstaaten als Mittel der internationalen Politik offiziell abgeschafft. Der Bau des angesehenen Palais des Nations in Genf begann. Zur selben Zeit gewannen Faschismus und Nationalsozialismus neue Anhänger; länger schwelende Verlustängste, die den Krieg überwintert hatten, lebten wieder auf. Es entstanden Bewegungen, die religiös verbrämte Angriffe auf die Loyalität des Einzelnen starteten, indem sie ein kollektives Ideal, das stark von einem nationalistischen Mythos geprägt war, hochhielten. Als der New Yorker Börsencrash Ende Oktober 1929 die Jahre des relativen Wohlstands beendete, nahm der Faschismus an Fahrtwind auf.

      J. R. Mott, der große Visionär hinter YMCA und WSCF, war die wichtigste Inspirationsquelle für Visser ’t Hooft. Zugleich wurde er jedoch auch sehr stark von Karl Barth beeinflusst. Anfang 1924 hielt Visser ’t Hooft einen Vortrag vor Studenten, in dem er unter dem Titel »Glaube und Religion« zum ersten Mal über seine Theologie sprach. Doch er selbst war damit nicht zufrieden; er hatte das Gefühl, dass die Studenten nicht verstanden hatten, wovon er gesprochen hatte.10 Als Barth 1925 Genf besuchte, war Zeit für ein Treffen und ein gründliches theologisches Gespräch mit den beiden Freunden Visser ’t Hooft und Maury. Barths Überzeugung, dass jede Religion ein menschliches Werk sei und dass Gottes Gnade als vollkommen souverän und gegenüber der menschlichen Kultur als dialektisch dargestellt werden solle, sprach beide unmittelbar an. Visser ’t Hooft und Maury verabredeten, Barths Werk durch Veröffentlichungen, Vorträge und Übersetzungen auch außerhalb des deutschen Sprachraums bekannt zu machen. Dabei wollten sie gerne an aktuelle Ereignisse anknüpfen. So veröffentlichte Visser ’t Hooft 1928 in der französischen Zeitschrift Foi et Vie einen kurzen Artikel, in dem er Barths Vision als ein Gegenbild zu dem bedrohlichen Szenario des »Untergangs des Abendlandes« präsentierte, das Oswald Spengler für Europa entworfen hatte und das damals viele beschäftigte.11

      Unter den liberalen Kulturtheologen, die sein Studium in Leiden dominierten, beeinflusste ihn der Berliner Theologe Ernst Troeltsch (1865–1923) am meisten. Er vertrat die Auffassung, dass die Beziehung Gottes zur Welt immanent ist. 1923 schrieb Visser ’t Hooft seine Abschlussarbeit über den Einfluss von Immanuel Kant und Friedrich Schleiermacher auf das Denken von Troeltsch. In dieser Studie analysierte er Troeltschs Plädoyer für eine zeitgenössische Kirche, die sich mit Schleiermacher an den kulturellen Kontext des 20. Jahrhunderts anpassen solle: »Eine Verbindung freier Menschen, die mit einem Mittelpunkt verbunden sind und deshalb eine religiöse organische Einheit bilden.«12

      Weitere wichtige Gelehrte, die sein Theologiestudium beeinflussten, waren Adolf von Harnack (1851–1930) und Rudolf Otto (1869–1937). Sie konnten seiner Meinung nach zwar viele wissenschaftliche Erkenntnisse über Religionen vermitteln, aber keine Grundlage für einen Glauben, mit dem sich eine Kirche errichten ließe oder eine Mauer zur Abwehr der gottlosen Massenbewegung. Ottos Buch


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