Exportismus. Andreas Nölke

Exportismus - Andreas Nölke


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wurden die geringeren Fallzahlen vor allem – neben dem Glück einer Vorwarnung durch den früheren Ausbruch in Ländern wie China, Italien und Spanien – mittels eines vergleichsweise gut finanzierten Gesundheitssystems, nicht durch einen härteren Lockdown als in den Nachbarländern. Das deutsche Gesundheitssystem ist im europäischen Vergleich relativ solide ausgestattet, auch wenn selbst in Deutschland bereits vor der Corona-Krise große Teile des Pflegepersonals und der Ärzte am Rande ihrer Kapazität arbeiteten.

      Nach Indikatoren wie der Anzahl der Krankenhaus- oder der Intensivbetten auf 100 000 Einwohner liegt Deutschland nach der WIP-Studie europaweit vorne, in Bezug auf die personellen Kapazitäten immer noch über dem Durchschnitt. Gerade in Ländern wie Griechenland, Italien und Spanien hatte die von den europäischen Institutionen seit der Eurokrise vorgegebene Sparpolitik zu erheblichen Kürzungen geführt. Nur in Bezug auf die Arbeitsbelastung ist die Situation in Deutschland im europäischen Vergleich ausgesprochen kritisch – aber hier konnten in der Corona-Krise durch Verschiebung nicht akuter Operationen erhebliche Kapazitäten freigesetzt werden.

      Der Lockdown war (zumindest in der ersten Welle der Krise bis Mai 2020) in vielen Nachbarländern härter als in Deutschland, so die WIP-Studie. Belgien, Frankreich, Italien und Spanien beispielsweise hatten wesentlich gravierendere Einschränkungen. Der Lockdown begann in den Nachbarländern auch früher, insbesondere in Italien. Dort wurde am 21. März 2020 die Stilllegung aller nicht direkt lebensnotwendigen Betriebe verordnet, während in Deutschland nur Teile des Einzelhandels, die Gastronomie und einige Dienstleistungssparten betroffen waren; die deutsche Industrie hingegen durfte weiter produzieren.

      Obwohl Deutschland vergleichsweise milde durch die erste Welle der Gesundheitskrise gekommen ist und auch die Wirtschaft nicht so stark im »Lockdown« eingeschränkt hat wie viele andere Länder, hat die Bundesregierung umgehend ein präzedenzlos umfangreiches Bündel von Maßnahmen zur Stabilisierung der Wirtschaft in der Corona-Rezession vorgelegt.

      Zu diesem ersten Paket (»Corona-Schutzschild für Deutschland«) gehören als wichtigste geplante Ausgaben zunächst 100 Milliarden Euro für staatliche Beteiligungen, 23,5 Milliarden für die Verlängerung des Kurzarbeitergelds (in 2020) und 18 Milliarden Soforthilfen für kleine Unternehmen (maximales Budget 50 Milliarden, allerdings bis November nur zum kleinen Teil abgerufen).

      Im Juni 2020 wurden im Rahmen eines Konjunkturprogramms als wesentliche zusätzliche Maßnahmen Überbrückungshilfen für mittelständische Unternehmen (25 Milliarden) und eine vorübergehende Senkung der Mehrwertsteuer (20 Milliarden) hinzugefügt, neben einigen kleineren Maßnahmen wie einem Kinderbonus oder einer Senkung der Stromkosten. Das Gesamtvolumen der geplanten Ausgaben aller staatlichen Ebenen in beiden Paketen beziffert der Brüsseler Thinktank Bruegel mit 284 Milliarden Euro.

      Hinzu kommen umfangreiche Garantien für Kredite, insbesondere 400 Milliarden für direkte staatliche Garantien und 356 Milliarden über die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW). Ergänzt werden sowohl Ausgaben als auch Garantien des Bundes durch Maßnahmen der Bundesländer, mit einem Volumen von 18 (Ausgaben) beziehungsweise 75 Milliarden Euro (Garantien). Das Gesamtvolumen der Garantien aller staatlichen Ebenen liegt nach Bruegel bei 832 Milliarden Euro. Hinzu kommen noch etwa 250 Milliarden an Steuerstundungen; letztere können aber nur sehr grob geschätzt werden.

      In einer europäischen Vergleichsstudie von Bruegel ragt das deutsche Paket in Bezug auf sein Finanzvolumen (zumindest bis zum Herbst 2020) deutlich heraus. Das direkte deutsche Fiskalpaket (also staatliche Ausgaben) beträgt 8,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) und liegt damit wesentlich höher als jenes aller anderen westeuropäischen Staaten, etwa in Belgien (1,4 Prozent), Frankreich (4,4 Prozent), Italien (3,4 Prozent), die Niederlande (3,7 Prozent) und Spanien; nur Großbritannien stößt mit 8 Prozent der Wirtschaftsleistung hier grob in diese Dimensionen vor.

      Hinzu kommen die Kreditgarantien, die nach Bruegel-Berechnungen nochmals 24,3 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung umfassen. Auch hier hat Deutschland wesentlich mehr Geld (potenziell) in die Hand genommen als die Nachbarstaaten, etwa im Vergleich zu Frankreich (14,2 Prozent), den Niederlanden (3,4 Prozent), Spanien (9,2 Prozent) und Großbritannien (15,4 Prozent); nur in Italien liegen diese Garantien mit 32,1 Prozent höher.

      Die deutlich höheren deutschen Corona-Hilfen haben bei der EU-Kommission bereits zu der Sorge geführt, dass damit der Wettbewerb in der Europäischen Union erheblich zugunsten Deutschlands verzerrt wird. EU-Vizepräsidentin Margrethe Vestager zeigte sich bereits im Mai 2020 darüber irritiert, dass die Hälfte der von der Kommission für ganz Europa genehmigten Corona-Hilfen allein auf Deutschland entfällt.

      Ausgehend von den Gesundheitsdaten, dem im internationalen Vergleich relativ späten und milden Lockdown und dem besonders ­umfangreichen Konjunkturpaket sollte man annehmen, dass Deutschlands Wirtschaft weitaus besser durch die erste Welle der Corona-Krise gekommen ist als jene der Nachbarländer. Dem ist aber nicht so.

      Der Einbruch der Wirtschaftsleistung im zweiten Quartal 2020 – dem Kernquartal der ersten Corona-Welle – betrug nach Eurostat-Angaben 9,7 Prozent, das ist höher als in den Niederlanden (8,5 Prozent) und nur unwesentlich geringer als in Belgien (12,1 Prozent), Italien (12,8 Prozent) und Frankreich (13,8 Prozent); nur in Spanien (18,5 Prozent) und Großbritannien (20,4 Prozent) fällt der Einbruch deutlich stärker aus. Die meisten Wirtschaftsbeobachter hatten einen solch starken Einbruch nicht erwartet und mussten ihre Prognosen mehrfach korrigieren.

      Außerdem ist der Zeitpunkt der wirklichen Abrechnung noch lange nicht gekommen, zumal die erste Welle nicht die einzige Welle blieb. In vielerlei Hinsicht ist die deutsche Wirtschaft quasi »eingefroren« worden, um sie durch die Corona-Krise zu bringen. Das gilt besonders für das Kurzarbeitergeld und die Aussetzung der Insolvenzregelungen. Beide Maßnahmen sind inzwischen bis Ende 2021 verlängert worden. Erst danach kann man sehen, wie tief die Schäden in der Wirtschaft wirklich sind – sowohl eine große Insolvenzwelle als auch ein sprunghaftes Ansteigen der Arbeitslosigkeit sind immer noch möglich.

      Die Ursache für den starken Einbruch der deutschen Wirtschaft in der ersten Welle der Corona-Krise liegt eindeutig in der Krise des Exportsektors.

      Die stärkere Belastung der deutschen Wirtschaft durch das Ausland im Vergleich zum Inland während der ersten Corona-Welle wird bei der Analyse der Komponenten der volkswirtschaftlichen Nachfrage deutlich. Laut Statistischen Bundesamt brachen die Exporte im zweiten Quartal im Vorjahresvergleich um rund 22 Prozent ein und die (vor allem in der Exportindustrie wichtigen) Investitionen in Ausrüstungen – insbesondere Maschinen und Fahrzeuge – sogar um 28 Prozent, während die privaten Konsumausgaben nur um 13 Prozent zurückgingen und jene des Bausektors (1,4 Prozent) und des Staates sogar leicht stiegen (3,8 Prozent).

      Außenwirtschaftliche Probleme gab es zunächst durch eine Unterbrechung der Lieferketten der deutschen Industrie, etwa durch das Fehlen von Vorprodukten aus China oder Italien. Viel gravierender allerdings waren die Einbrüche bei den Exporten, im April 2020 etwa um 30 Prozent im Vergleich zum April 2019, die stärkste Reduktion seit Beginn der Außenhandelsstatistik 1950, so das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK). Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung in Deutschland fiel um ein Viertel, in der Automobilindustrie wurde im April 2020 die Produktion sogar um 75 Prozent gedrosselt.

      Mit den USA, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Italien sind die meisten der wichtigen deutschen Exportmärkte ganz besonders stark von der Pandemie betroffen; nur China bietet durch die relativ schnelle Erholung etwas Hoffnung. Eine systematische Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) schätzt, dass Exporte in Höhe von gut 160 Milliarden Euro in Hochrisikoländer und weitere 490 Milliarden in Länder mit einem mittleren Risiko – einem deutlich höheren Risiko als in Deutschland – gehen, also ein erheblicher Teil der deutschen Exporte (1 200 Milliarden Euro in 2019). Besonders relevant sind Risiko- und Hochrisikoländer als Exportmärkte für die Automobil-, Maschinenbau- und


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