Exportismus. Andreas Nölke
Exportländern wichtig für eine Einschätzung der Folgen für die deutsche Wirtschaft. Auf der Basis der im April 2020 veröffentlichten – und noch relativ optimistischen – Wachstumsprognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) schätzt das IW, dass 52,3 Prozent der deutschen Exporte in Länder gehen, die 2020 einen Einbruch der Wirtschaftsleistung von mehr als 6 Prozent erwarten, 34 Prozent in Länder mit einer Schrumpfung zwischen 3 und 6 Prozent und nur 13,3 Prozent in Länder mit einer geringen oder gar keiner Schrumpfung.
Für den Einbruch der deutschen Exporte in (und nach) der Corona-Krise gibt es aber noch viel mehr Gründe als die Gesundheitsfolgen und die unmittelbare wirtschaftliche Krise, wie Heiner Flassbeck verdeutlicht. Die Währungen von Entwicklungs- und Schwellenländern (und selbst der US-Dollar gegenüber dem Euro) werden deutlich abgewertet, sodass deren Kaufkraft in Bezug auf deutsche Güter deutlich reduziert ist. Diese Länder werden nun auch wieder mehr auf ihre Auslandsverschuldung achten müssen, was ihre Optionen zum Erwerb deutscher Produkte verringert.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Preise für Rohstoffe – die wichtigsten Exportgüter vieler Entwicklungs- und Schwellenländer – in der Wirtschaftskrise sinken. Zudem verkauft die deutsche Industrie vorzugsweise Güter, deren Anschaffung in den nächsten (Krisen-)Jahren eher nicht prioritär ist, etwa Oberklasse-Automobile oder neue Maschinen (schon die existierenden werden nicht ausgelastet sein). Das sind sehr schlechte Aussichten für die deutsche Exportindustrie.
Das Problem der deutschen Exportlastigkeit
Die meisten anderen Ökonomien werden von einem Einbruch im internationalen Handel nicht so aus der Bahn gebracht wie Deutschland. Egal, welche Kennzahl man anwendet, die deutsche Wirtschaft ist viel stärker von Exporten geprägt als alle anderen Ökonomien vergleichbarer Größe. Wenn man die heutige deutsche Ökonomie verstehen will, geht kein Weg an ihrer Exportlastigkeit vorbei.
Gemessen werden wird die Exportorientierung einer Wirtschaft konventionell durch die Exportquote, also das Verhältnis der Exporte zum Bruttoinlandsprodukt. Die Maßzahl ist zwar problematisch (im BIP ist nur der Saldo aus Exporten und Importen enthalten), aber die extreme Exportlastigkeit der deutschen Wirtschaft wird trotzdem im internationalen Vergleich deutlich. So lag der Wert der exportierten Güter und Dienstleistungen in Relation zum BIP in Deutschland 2019 bei 46,9 Prozent und damit deutlich höher als bei unseren europäischen Nachbarn Frankreich (31,3), Großbritannien (31,5), Italien (31,6) oder Spanien (34,9), in Relation zu Japan (17,5) und den USA (11,7) sogar etwa dreimal so hoch. Auch bei anderen Maßzahlen wie dem »Außenhandels-Abhängigkeitsindex« der Bertelsmann Stiftung und beim vom Wirtschaftsministerium dokumentierten »Offenheitsgrad« liegt Deutschland deutlich vor allen diesen Ländern. Allerdings kann man von diesen groben Indikatoren nicht direkt auf die Relevanz des Exportsektors für Wirtschaft und Arbeitsmarkt schließen. Andrä Gärber und Markus Schreyer verweisen hier auf die Exportabhängigkeitsquote in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die zeigt, welcher Anteil des Bruttoinlandsprodukts durch den Export induziert wurde. Diese liegt in Deutschland nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bei etwa 27 Prozent.
Nach Schätzungen der Bundeszentrale für politische Bildung liegt auch der Anteil der Arbeitsplätze, die insgesamt vom Export abhängen, in den letzten Jahren bei einem guten Viertel, in Übereinstimmung mit der vom Statistischen Bundesamt berechneten Exportabhängigkeitsquote der Erwerbstätigen, allerdings mit langfristig steigender Tendenz. Früher lang sie deutlich niedriger, 1993 beispielsweise gerade einmal bei 16 Prozent, so das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Trotz der im internationalen Vergleich sehr ausgeprägten und zudem stark gewachsenen Exportlastigkeit der deutschen Wirtschaft arbeitet also auch heute nur etwa ein Viertel der Wirtschaft für den Export (und drei Viertel für die Binnenwirtschaft). Warum schlägt dann die Eintrübung der Exporte trotzdem so stark auf die gesamte Wirtschaft durch?
Um die inzwischen extreme Exportlastigkeit und die starke Beeinträchtigung der deutschen Wirtschaft im Rahmen der Corona-Krise – aber auch ihre langfristige Perspektive – zu verstehen, bietet sich vor allem eine neue Richtung in der polit-ökonomischen Vergleichenden Kapitalismusforschung (also der Disziplin, die sich mit den Unterschieden zwischen nationalen Wirtschaftsmodellen beschäftigt) an, die unter dem Stichwort der Unterscheidung von »Wachstumsmodellen« firmiert.
Wachstumsmodelle zwischen Exportorientierung und Binnenkonsum
Der Kern der Unterscheidung unterschiedlicher Wachstumsmodelle, wie sie etwa von Lucio Baccaro, dem Direktor des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, Engelbert Stockhammer, King’s College London, Eckhard Hein von der Hochschule für Technik und Wirtschaft in Berlin oder Anke Hassel von der Hertie School verfolgt wird, besteht darin, nationale Volkswirtschaften hinsichtlich ihrer wesentlichen wirtschaftlichen Antriebskräfte zu differenzieren. Insbesondere die »growth model perspective« innerhalb der Vergleichenden Kapitalismusforschung, die maßgeblich von Lucio Baccaro und seinem politikwissenschaftlichen Kollegen Jonas Pontusson von der Universität Genf formuliert wurde, kann uns sehr gut dabei helfen, die aktuellen Probleme der deutschen Wirtschaft zu erklären.
Ein genereller Vorteil der Vergleichenden Kapitalismusforschung besteht darin, dass sie das komplexe Zusammenwirken verschiedener politischer Maßnahmen und Institutionen in Bezug auf eine Nationalökonomie analysieren kann, anstatt sich eng auf einen ökonomischen Teilaspekt zu fokussieren, wie große Teile der modernen Wirtschaftswissenschaften. Während frühere Ansätze der Vergleichenden Kapitalismusforschung (»Varieties of Capitalism«) den Fokus einseitig auf die Angebotsseite der Ökonomie legten, wird von dieser Forschungsrichtung nun auch die Nachfrageseite einbezogen. Und als Teil der Politischen Ökonomie geht es der Vergleichenden Kapitalismusforschung nicht nur um die richtigen wirtschaftspolitischen Rezepte, sondern auch um die politischen Hintergründe und Realisierungschancen.
Ausgangspunkt der Forschung von Baccaro und Pontusson ist, dass in den heutigen Volkswirtschaften der Industrieländer die von Investitionen und Löhnen stammende wirtschaftliche Nachfrage nicht mehr für ein ausreichendes Wachstum sorgt, im Gegensatz zu den ersten drei Jahrzehnten der Nachkriegszeit. Um das Wachstum trotzdem zu stimulieren, haben die modernen Ökonomien Ersatzstrategien entwickelt. Eine dieser Strategien beruht darauf, die Wirtschaft in erster Linie durch den Konsum der Haushalte anzutreiben. Da die Löhne heute für einen ausreichenden Konsum nicht mehr genügen, erlaubt man den Haushalten eine relativ leichte Verschuldung, etwa zum Erwerb von Immobilien. Die Alternativstrategie hingegen sieht vor, dass die notwendige Nachfrage aus dem Ausland mobilisiert, also sehr stark auf Exporte gesetzt wird.
Europäische Staaten haben sich laut Baccaro und Pontusson diese Strategien in unterschiedlichem Maße zunutze gemacht. Großbritannien hat in den vergangenen Jahrzehnten voll auf die Strategie des schuldenfinanzierten Konsums gesetzt, Deutschland ebenso eindeutig auf die Exportstrategie, Schweden hat beide Strategien im Rahmen eines eher balancierten Wachstumsmodells kombiniert und Italien hat weder über den schuldenfinanzierten Konsum noch über die Exporte das Wachstum forciert. Die Strategien der Länder sind zueinander komplementär – Deutschland (und Schweden) hätten weit weniger exportieren können, wenn nicht Länder wie Großbritannien diese Exporte durch ihre Konsumstrategie aufgenommen hätten.
Ein exponiertes Export-Wachstumsmodell wie in Deutschland (spätestens seit Ende der 1990er-Jahre) erfordert eine Reihe von ineinandergreifenden Elementen, um erfolgreich zu sein. Zu den Kernelementen gehört ein großer Industriesektor, ein System der institutionalisierten Lohnmäßigung und ein System fester Wechselkurse. Die beiden letztgenannten Institutionen sind essenziell, um dauerhaft über niedrige Exportpreise erfolgreich zu sein. Löhne und Preise hängen faktisch eng zusammen, Lohnmäßigung führt daher zu niedrigen Preisen, auch für Exporte. Ohne ein System fester Wechselkurse würden erfolgreiche Exporte zu einer hohen Nachfrage nach der nationalen Währung führen, diese dann gegenüber anderen Währungen aufwerten und über die entsprechend höheren Preise in internationalen Währungen die Exporterfolge wieder zunichtemachen.
Der Nachteil eines klar exportlastigen Wachstumsmodells (für große Teile der Bevölkerung) liegt darin, dass wegen der für den Export preissensibler Güter notwendigen Lohnmäßigung die Binnennachfrage relativ schwach ausfällt.