Frankfurter Fake News. Robert Maier
des Chirurgen hatte Olafs Hirn in Rotation versetzt, und genauso fühlten sich die Bohrgeräusche aus dem ersten Stock an.
Er streifte sich die Jacke über. Bevor er von dem Krach verrückt würde, sollte er besser in den ›Krummen Hund‹ gehen, seine Stammkneipe.
Als er ins Treppenhaus trat, stellte er fest, dass der Bohrer dort noch lauter lärmte als in seiner Wohnung. Die neuen Mieter hatten ihre Tür offengelassen. Er lugte in den Flur hinein und erblickte Umzugskartons, Tapetenrollen und Utensilien zum Streichen.
»Guten Tag.« Olaf fuhr herum. Ein kleiner Junge mit schwarz gescheiteltem Haar streckte ihm die Hand entgegen. Dabei sagte er etwas, das wie »Paul« klang, aber wegen des Lärms nicht wirklich zu verstehen war.
»Hallo. Ich bin Olaf.«
Der etwa 8-Jährige schüttelte ihm mit ernsthafter Höflichkeit die Hand. Dann bedeutete er ihm mit einer Geste zu warten und verschwand eilig in der Wohnung. Augenblicke später verstummte die Bohrmaschine so abrupt, dass die Stille in Olafs Ohren klingelte.
»Ich möchte mich entschuldigen«, rief Olaf dem Mann entgegen, der durch den Flur auf ihn zukam. »Mein Sohn hatte wieder mal die Stereoanlage zu laut.«
Der Mann mit der von Farbe und Putz fleckigen Jeans sah ihn verständnislos an. Er hatte dieselben schwarzen Haare wie der kleine Junge, allerdings eine schickere Frisur und einen elegant gestutzten Bart. »No Deutsch«, sagte er, als sie sich die Hände schüttelten. »I’m Mateu«, setzte er auf Englisch hinzu. Olaf ordnete den Akzent als einen spanischen ein. Nun war klar, warum sein ironischer Spruch ins Leere gelaufen war.
»Welcome to Frankfurt«, sagte er.
Mateu lächelte ihn freundlich an. Wenn das hier erledigt wäre, er zeigte auf die Umzugskisten, würde er ihn auf eine Flasche katalanischen Rotwein einladen.
»And I will bring a Bembel«, gab Olaf zur Antwort.
Sein neuer Nachbar machte erwartungsgemäß ein ratloses Gesicht. Olaf erklärte, wofür der Krug mit der Salzglasur gut war. »You must try Apfelwein«, fügte er hinzu.
Nachdem Mateu sich nochmals für den Lärm entschuldigt hatte, steuerte Olaf den ›Krummen Hund‹ an.
Dieser Mateu schien ein brauchbarer Nachbar zu sein.
In der kleinen Apfelweinkneipe war nicht viel los. Olaf machte es sich am Tresen auf einem der Barhocker bequem und bekam von Karin sofort einen Sauergespritzten hingestellt.
»Erlaubt dir dein Arzt überhaupt Alkohol zu trinken?«, fragte sie mit gespielter Schnippischkeit. Karin war wie immer gut über ihre Stammgäste informiert, so auch über Olafs heutigen Arztbesuch.
»Er hat mir Sport verordnet: Muckibude, Joggen und Radfahren.«
»Du kannst bei uns mitkicken.« Wie aus dem Nichts war Günther aufgetaucht. »Wir spielen jeden Mittwochabend in der ›Buga‹.« Er stellte sein Glas auf den Tresen und setzte sich auf den Hocker neben Olaf.
»Lass stecken.« Olaf grinste. »Ich fange erst mal mit Schach an. Das wird bald olympische Disziplin.«
Günther lachte. »Und danach verschärftes Hallen-Jo-Jo? Versuch’s mal mit Fußball. Wir sind eine kleine, aber feine Truppe sympathischer Herren und nehmen gerne frisches Blut auf.«
»Mein Blut ist aber fast sechzig Jahre alt.«
»Damit wirst du den Altersdurchschnitt senken. Überleg dir mal, ob du bei uns einsteigst. Da spielt übrigens einer von der Eintracht mit, der war in den Neunzigern Stammspieler in der Amateurmannschaft.«
Olaf wusste, dass er nun schnell das Thema wechseln musste. Wenn es stimmte, was er gerne und oft im ›Krummen Hund‹ erzählte, kannte Günther einige ehemalige Eintrachtspieler, die in den Neunzigern aktiv gewesen waren. Einmal bei dem Thema Eintracht Frankfurt angekommen, würde er davon nicht mehr abzubringen sein.
»Hast du von dem Mord in Bockenheim gehört?«
Günther blickte Olaf irritiert an. »Reisebüro Yousef«, sagte er. »Spezialist für Türkeireisen.«
»Du bist aber gut informiert!« Olaf war beeindruckt. »Hast du den Mann gekannt?«
»Nicht persönlich.« Günther nahm einen Schluck Apfelwein. »Eine Freundin von mir, Bettina, wohnt einige Häuser weiter. Sie hat mir erzählt, was es mit dem Mord auf sich hat.«
Das Gespräch nahm eine völlig unerwartete Wendung. Olaf konnte im ›Krummen Hund‹ bei einem Äppler Ermittlungen anstellen.
»Bettina kannte Yousef nicht wirklich gut«, setzte Günther fort. »Sie sagt, sie sei drei- oder viermal in seinem Laden gewesen. Und es hätte sie nicht gewundert, dass es mit ihm ein solches Ende genommen hat.« Er genehmigte sich einen weiteren Schluck von seinem Glas.
»Günther, nun mach es nicht so spannend. Was war mit dem Typen, dass deine Bettina so was sagt?«
Günther nahm noch einen Schluck und schien das Glas absichtlich langsam auf den Bierdeckel zurückzustellen. »Bettina meint, Yousef sei ein schmieriger Typ, das hätte sie sofort bemerkt. Und dann hat sie erfahren, dass der Mann auf kleine Mädchen stand.«
»Yousef war pädophil?«
Günther nickte. »Bettina sagt, die Spatzen zwitschern es von den Dächern. Jeder in der Nachbarschaft weiß Bescheid, aber die Polizei hat nichts dagegen getan.«
»Hat sie ihn angezeigt?«
»Sie hatte ja keine Beweise, mit der sie zur Polizei hätte gehen können. Angeblich sollen mehrmals Leute gegen Yousef Anzeige erstattet haben, aber das hätte die Polizei nicht dazu bewegt, etwas zu unternehmen.«
»Der Mörder könnte der Vater eines der Missbrauchsopfer sein«, sagte Olaf nachdenklich.
»Möglich«, meinte Günther. »In diesem Fall hoffe ich, dass der Mord nie aufgeklärt wird.«
Zu Hause angekommen, zog es Olaf zu seinem Virusprogramm. Der Virus hatte sich bei seinem ersten Mordfall als unerhört nützlich erwiesen. Allerdings hatte er auch einige unerklärliche Macken.
Olaf setzte sich an den Laptop und öffnete die Entwicklungsumgebung für den Virus. Wie oft hatte er in den letzten Tagen auf den Quellcode gestarrt, war ihn Zeile für Zeile durchgegangen, nur um dann doch keinen Fehler zu finden?
Er startete den Virus in der abgesicherten Testumgebung, dort wo er kein Unheil anrichten konnte. Mit einem beinahe zärtlichen Gefühl blickte er auf das vertraute Konfigurationsfenster mit den bunten Knöpfen. Hätte er die Software nicht eigenhändig programmiert, könnte er es für das Einstellungsfenster eines harmlosen Computerspiels halten. Doch der Virus war kein Programm zur Errichtung eines Ponyhofs. Er war eine Sammlung brandgefährlicher Spionagewerkzeuge. Auf dem Handy eines Opfers installiert, könnte man schier alles damit anstellen: Passwörter, Fotos und Videos herunterkopieren, Telefonate mitschneiden, Chatprotokolle lesen und vieles Heikles mehr. Und natürlich wäre es möglich, sich auf die Kamera des Handys zu schalten. Dadurch könnte man ein Opfer rund um die Uhr mit Bild und Ton überwachen. Eine perfekte Wanze, die das Opfer freiwillig mit sich herumtragen würde. Schaurige Vorstellung, dass solche Viren von Geheimdiensten und Kriminellen ganz gewiss eingesetzt wurden.
Auch Olaf hatte seinen Virus genutzt: auf dem Handy seines Sohnes. Allerdings nicht mit der Absicht, ihn auszuspionieren. Nur eine einzige, wirklich ungefährliche Funktion hatte er aktiviert: Tobias’ Telefon sollte, ganz gleich, was sein Besitzer eingab, stets eine Nummer im Frankfurter Rotlichtviertel wählen. Zugegeben, ein etwas deftiger Scherz, vor allem, weil sich das alles auf Tobias’ Diensthandy abspielte. Es wurde rasch klar, dass Olaf diese Funktion schnellstmöglich ausschalten musste, sollte sein Sohn vor den Kollegen nicht wie ein unfähiger Idiot dastehen. Tobias’ Handy wählte fortan wieder die Telefonnummern, die er eingab. Allerdings zeigte sich, dass der Virus auf eigene Faust etliche Funktionen aktiviert hatte. Olaf konnte sich dieses Eigenleben der Software nicht erklären, war aber nicht unglücklich über die Informationen, die der Virus ihm geliefert hatte: vertrauliche