So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale. Walter Laufenberg
Walter Laufenberg
So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale
Tatsachenroman
Saga
So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner RegierungszentraleCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1999, 2020 Walter Laufenberg und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726576719
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
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Die beiden Hauptfiguren dieses Romans wie auch ihre Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und deren Handeln sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
1.
Pünktlich 17 Uhr 47 Weiterfahrt ab Braunschweig Hauptbahnhof. Nur mühsam kommt der Zug ins Rollen. Fast könnte man Mitleid mit ihm haben, mit dem überforderten Muli. Da steht plötzlich dieser Mann neben seinem Tisch, sichtlich in Atemnot, so daß er schon versucht ist zu sagen: Pünktlichkeit ist doch ein Fluch, zumindest die bei anderen.
„Tschuldigung, ist der Platz noch frei?“ keucht der Mann ihn an.
„Bitte.“ So freundlich wie kurz, um dem Gehetzten nicht gleich einen ganzen Dialog aufzuzwingen. Wenn er sich auch schon heimlich darauf freut, ihn mit einer geschickten Einleitungsphrase zu betasten, ihn abzuhorchen und in aller Ruhe zu betrachten, mit diesem ungeniert direkten Ansehen, das zum Gesprächsritus gehört. Mit schnellen Wischblicken schon mal eine Kostprobe nehmen: Älterer Herr mit sehr schmaler Nase, Typ Messer, der Mann ist also kein Bohrer, sondern ein nachdenklicher Nasenflügelstreichler, korrekte Erscheinung im grauen Anzug, mit Weste, Schlips und Kragen und offenbar mit Umgangsformen, die einen vor Überraschungen unangenehmer Art bewahren. Vermutlich hat der Mann keine roten Streifen unter den Absätzen, wie die geschäftlich reisenden Smarties. Doch dürfte er statt der Papiertaschentücher ein gebügeltes Taschentuch in der Hose haben. Alte Schule.
Daß der Mann ohne jedes Gepäck ist, fällt ihm vor lauter Vergnügen am Mutmaßen – seine persönliche Variante von Mut – nicht auf. Zu sehr genießt er diesen ersten Akt der Bekanntschaft, den Akt, der meist der schönste ist. Weil voller Möglichkeiten. Nachher, wenn man alles weiß über sein Gegenüber, alles, was zur Grobkategorisierung nötig ist, steht man ja doch wieder mit dem Üblichen beschenkt da und sagt sich: Hätte mir denken können, daß nichts dabei herauskommt.
Freundlicherweise zunächst noch aus dem Fenster schauen, den anderen sich erholen lassen. Gerade erst Braunschweig hinter uns und noch lange nicht Helmstedt erreicht, doch die Felder werden immer größer, fällt ihm auf. Das schon vor der Grenze. Als ob sie einem mit diesem allmählichen Übergang zur Kolchoswirtschaft einen sanfteren Eintritt in die ganz andere Welt bieten wollten. Darf ich mir das einbilden? Daß sie mir einen Agrokulturschock zu ersparen versuchen? Die?
Der Mann ihm gegenüber bestellt sich ein Kännchen Kaffee. Und die Bedienung ist prompt. Er gießt sich aber so wenig Kaffee in die Tasse, als sollte dieses Kännchen bis Warszawa reichen. Da ist er schon versucht, ihn anzusprechen. Doch kommt der andere ihm zuvor, gerade als sie Helmstedt hinter sich lassen. Das mittelalterliche Städtchen zeigt ohnehin fast nur Dächer. Die letzten romantischen Bauten werden vom Grün abgelöst. Alte Kultur verliert sich in immer wieder junger Natur: So das sanfte Denkeln, mit dem er sich dem dritten Fläschchen Radeberger Pils hingibt, als der Grauverpackte ihn aufschreckt: „Da, sehen Sie da, der Bussard!“
„Ja, tatsächlich.“ Und sieht, wie der Vogel den Sturzflug vorführt, und ist plötzlich hellwach.
„Wo sonst können Sie noch einem Bussard zuschauen, wie er auf seine Beute hinabstößt“, sagt der Mann triumphierend. Als hätte er selbst die Szene arrangiert. „Das ist noch Natur. Gerade dieses von allen guten Geistern verlassene Stück Land zwischen Helmstedt und Marienborn, das Niemandsland, ist ein wunderbares Fleckchen Erde. Das ist das Beste, das die Zaunkönige geschaffen haben.“
Was tun, wenn man nicht versteht, aber auch nicht nachfragen und gestehen will, daß man noch nie einen Zaunkönig gesehen hat? So schweigen sie beide, den Bussard samt Beute hinter sich. Und bald auch Marienborn, die andere deutsche Grenzstation, Ende des Niemandslandes, Anfang von – na ja. In Marienborn hatte es fünf Minuten Aufenthalt gegeben, die Gelegenheit, sich von dem sonderbaren Fährmann zu befreien, der mit seinen Kommentaren irritierte.
Er war aufgestanden und zur hinteren Wagentür gegangen, um die Luft der Fremde zu schnuppern. An der Rückseite des Zuges. Der vom Bahnsteig abgewandten. Und sah einen Grenzposten mit Schäferhund neben dem letzten Wagen des Zuges stehen. Und sah, wie ein Kollege von ihm den Kopf aus dem ersten Wagen des Zuges rausstreckte. Und dachte, daß er sich gut beschützt fühlen müßte. Wenigstens von dieser Seite her könnte keine Gefahr drohen. Ein Mitreisender stellte sich zu ihm ans Fenster. „Bei der Hinreise habe ich gesehen“, erzählte der, „wie sie den Schäferhund unter den letzten Wagen getrieben haben. Da mußte der Cerberus, dieses arme Tier, unter dem ganzen Zug durchlaufen und prüfen, ob sich jemand unter einen der Waggons gehängt hat, bis zum vordersten Wagen hin. Da kam es rausgekrochen und wurde wieder an die Leine genommen.“
„Und warum machen sie das jetzt nicht so?“
„Weil es jetzt nicht aus der DDR raus geht, sondern in die DDR hinein.“
„Ach so“, um Zeit zu haben dahinterzukommen. Cerberus hat er gesagt. Also auch ein alter Oberstudienrat oder so was. Wie mein Vater. Da zog die Lok an, und der Zug defilierte mit einer sonderbaren Feierlichkeit an einer hochgebauten Observierungsplattform vorbei. Von dort oben beäugten ihn zwei Grenzposten, sah er. Also auch von oben keine Gefahr. Dann ging es zwischen immer enger stehenden hohen Zäunen hindurch. Irgendwie in eine Reuse hineingeraten, überlegte er.
In Marienborn waren blauuniformierte Männer eingestiegen, das Etikett Schutzpolizei auf dem Ärmel. Beim Gang durch den Speisewagen sagten sie: „Schönen guten Tag und guten Appetit.“ Und niemand wagte zu antworten. Kurz darauf waren Graugrüne hinterher gekommen, auf dem Ärmel als Grenztruppen der DDR deklariert.
„Sehen Sie da im Wald, sehen Sie den Hund?“ erschreckt ihn sein Gegenüber.
„Ja, ein Schäferhund. – Und?“
„Und den Draht, sehen Sie auch den Draht?“
Der Fremde sitzt in Fahrtrichtung, sieht also alles, noch ehe sie es erreicht haben. Er selbst sitzt gegen die Fahrtrichtung und kann so nur immer gehorsam hinterhersehen. Vielleicht ist es ja das, was den Mann ermuntert, für mich den Cicerone zu machen.
„Haben Sie den Draht richtig gesehen?“ hakt der nach. Und ohne eine Antwort abzuwarten: „Das ist so eine Art Trolleyhund, ein Wächter mit Oberleitung, wissen Sie. Die Hunde, auf Mann abgerichtete, scharfe Tiere, sind mit der Leine an diesen Laufdrähten fest, die sich quer durch die Wälder ziehen. Da drüben, da können sie deutlich die von den Hunden getretenen Pfade sehen. Und die Hundehütten hier und da auch.“
Jetzt müssen die auch schon ihre Wachhunde anbinden, damit sie ihnen nicht davonlaufen, kommt es ihm in den Sinn. Sagt er aber nicht. Nur: „Das ist ja entsetzlich.“ Was sich aber mehr auf die Vorstellung bezieht, so einem Trolleyhund im Wald zu begegnen.
„Ja, die armen Tiere“, sagt sein Tischgenosse.
Eine so freundlich-mitleidige Äußerung, daß ihm klar wird: Den Mann muß ich näher kennenlernen. Nur wie? Jedenfalls nicht mit einem derart tierisch ernsten Gesprächsthema. Da, da ist die Bewegung, die alles erklärt. Der Mann geht mit der Linken ins Gesicht und streicht nachdenklich die ganze Länge seiner Nase entlang, sie zwischen den Kuppen von Daumen und Zeigefinger einklemmend. Das zwanzig mal am Tag gemacht, und sicher schon über fünfzig Jahre lang, so hat er sich die Messernase geformt. Aber auch das ist leider kein Gesprächsthema.