So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale. Walter Laufenberg
querbeet gesammelt, wie man das als Anfänger halt so macht. Auch diese Sammelstücke werden einmal wertvoll, das ist klar; immerhin gab es ja fast hundert Jahre lang keine Visa mehr im innerdeutschen Verkehr. Da klafft eine gewaltige Lücke, historisch bedingt. Das macht natürlich alles aus den Jahren unmittelbar vor und nach diesem Einbruch um so wertvoller. Aber es hat keinen Zweck, alles zu sammeln. Deshalb habe ich mich – und so macht es jeder halbwegs gescheite Sammler – auf ein Gebiet spezialisiert.“
„Und das wäre?“
„Das ist“, korrigiert er sanftmütig und beinahe unauffällig, „das ist dieser innerdeutsche Verkehr, das heißt das Transitvisum zur einmaligen Reise durch das Hoheitsgebiet der Deutschen Demokratischen Republik auf der kürzesten Fahrstrecke mit der Eisenbahn. So seine korrekte Bezeichnung. Die kennt man dann natürlich auswendig. Und dieses Visum wird ausgestellt vom Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der Deutschen Demokratischen Republik mit Sitz in Berlin, der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik“, zitiert er weiter. „Sie sehen, man wird auch politisch aufgeklärter durch diese Sammlertätigkeit. Die ist also alles andere als sinnlos.“
„Aber wenn man einmal so ein Transitvisum gekriegt hat, dann kennt man es ja. Das ist doch immer gleich, anders als Briefmarken, die ja immer andere Bilder bringen“, reizt er den Sammler zum Weiterreden, um zu verhindern, daß der wieder in seine Kaffee rührende Bedrücktheit verfällt.
„Für den Laien ja, zugegeben, für den Laien ist das immer gleich. Aber der ernsthafte Visacollector sieht das mit anderen Augen. Jedes Transitvisum ist ein einmaliges Dokument, ein echtes Unikat, entstanden aus der Kombination von drei variablen Faktoren, nämlich dem gedruckten Formular, der handschriftlichen Eintragung durch den Grenzpolizisten und dem von Hand aufgedrückten Stempel. Und weil alle drei Faktoren Variable sind, gibt es eben diese unüberschaubare Menge von Unikaten, durch die ich eine Schneise zu schlagen bemüht bin. Denn so ist das halt beim ernsthaften Sammeln – und damit auch ein bißchen wie ganz allgemein im Leben: es kommt nicht auf das Was an, dafür um so mehr auf das Wie. Immer nur das Wie muß stimmen.“
Das Drei-Eier-Omelett ist inzwischen kalt geworden. Schade um das eigentlich recht günstig erstandene Essen: mit Pilzen und zwei Scheiben trockenem Brot für ganze 7 Mark 70. Aber so aufmerksam den Nachrichten aus einer anderen Welt lauschend, da bleibt kein Platz fürs Essen. Und wenn man dazu auch noch gespannt ist auf den Auftritt der Grepos. Aber das mit den Variablen will er unbedingt vorher noch genauer wissen. Dabei entpuppt sich sein Partner als ein sehr geduldiger Lehrer. So erfährt er, daß die Formulare im Format DIN A 6 nicht nur auf verschiedenem Papier gedruckt werden, „vermutlich so, wie es gerade vorrätig ist“, sondern auch mit unterschiedlichen Drucktypen, mal mit schmalhohen, mal mit breiter laufenden, mal flauer und mal fetter. „Wohl in verschiedenen Druckereien gedruckt. Und der durchgehende Arabeskenaufdruck mit dem großen Staatswappen im Kringelkranz mitten drauf, der bringt auch nicht immer dasselbe Muster und ist mal erfrischend lilarot, mal kirchenfestlich violett, ganz abgesehen von der aufgedruckten laufenden Nummer mit Buchstabenkombination. Das macht ihnen so leicht keiner nach.“ Mit unüberhörbarer Bewunderung. „Nur die neben das Siegel gedruckte Unterschrift ist immer gleich unleserlich, – irgendwas wie Henscheid.“
Vom Bier zum Tee übergewechselt, um alles hellwach mitzukriegen. Die beiden Teebeutel schwimmen ohne Rettungsleine im Teekännchen. Dafür tröstet das Papierchen unter der Tasse mit der Aufschrift: Mitropa macht das Reisen schöner. Die am Nebentisch haben das wohl nicht gelesen, fällt ihm auf, die lassen ihren Kaffee angetrunken angewidert stehen. „Ist alles nicht mehr wie früher“, hört er.
Daß Name, Vorname und Geburtsdatum des Transitreisenden von den Grepos nicht mehr in die vorgesehenen Rubriken eingetragen werden, findet der Sammler sehr bedauerlich. „Aber ich, ich habe auch viele Stücke aus der Anfangszeit, als man noch mit dem nötigen Ernst bei der Sache war.“
Will er mich etwa neidisch machen? Dabei hat es mich doch noch gar nicht gepackt, das Sammelfieber. Ich warte lediglich auf den Grepomann, der mir mein persönliches Transitvisum gibt. Wie ein Kind auf den Weihnachtsmann, so warte ich auf ihn. Aber reine Sensationslust, nichts sonst.
„Um eine komplette Kollektion zu erhalten, die dann auch was wert ist“, erfährt er, „muß ich beim Sammeln gewisse Konstanten einführen.“
„Erst all die Variablen, und jetzt auch noch Konstanten?“
„Ja, ich muß jede Woche fahren und darf keine einzige auslassen. Und immer am selben Wochentag, immer mit demselben Zug und immer im Speisewagen an demselben Tisch. Und das mit dem Speisewagen statt Abteil, das will ich Ihnen als Anfänger gleich als Tip mit auf den Weg geben: Die Grepos stehen hier bequemer als in der Abteiltür und schreiben deshalb die Paßnummer deutlicher. Das erhöht natürlich den Wert des Stückes und ist letztlich mehr wert, als der eine Kaffee kostet. Ohnehin darf man an Kosten nicht denken. Die viele Fahrerei. Ein Sammler zu sein, das muß man sich halt leisten können.“ Und genehmigt sich prompt noch einmal ein winziges Schlückchen Kaffee, so vorsichtig dosierend, beinahe nur ein Küßchen für den Tassenrand.
Anderthalb Stunden vor der Ankunft in Berlin Zoologischer Garten nimmt der Ober einem Gast, der sich gerade erst gesetzt hat, die Speisekarte aus der Hand. Und als der wieder danach greifen will, meint er: „Ja, wenn Sie sich nur mal informieren wollen. Die Küche ist aus. Ich muß jetzt abrechnen.“ Dann setzt er sich an den ersten Vierertisch, den freigehaltenen, und breitet Listen und Blöckchen aus. Und rechnet eifrig los, mit leisem Vorsichhinsprechen. Alles ohne Taschenrechner. Ein Arbeiter des Kopfes, nicht der Faust.
Dann endlich kommen sie, die Grenzposten: fünf Mann mit Bauchladen und Pistole schwärmen nach einer offenbar gut einstudierten Choreographie zwischen den Tischen aus und bitten um die Reisedokumente, wie sie den bundesrepublikanischen Reisepaß schön verallgemeinernd nennen. Sein persönlicher Grepo klappt vor ihm den Bauchladen, einen flachen Holzkasten, auf und legt seinen Reisepaß auf den so entstandenen kleinen Tisch, schreibt irgendwas, macht zweimal klackklack mit einem Automatikstempel – einmal in den Paß, einmal auf das Transitvisum, wie er hinterher feststellen wird –, gibt ihm den zugeklappten Paß zurück und geht. Schon Schluß mit der ganzen Zeremonie. Ein unansehnliches Zettelchen steckt zwischen den Blättern seines Reisepasses: das Transitvisum.
Er ist enttäuscht und läßt es seinen Gesprächspartner merken, indem er den Zettel betont desinteressiert doppelt faltet, nicht einmal akkurat in der Mitte, und ihn mit dem Paß wegsteckt. Solange die Graugrünen im Speisewagen sind, ruht an allen Tischen das Gespräch. Erst nachdem sie verschwunden sind, lodert es zögerlich wieder auf. Er tut unbeeindruckt. „Kennen Sie Brandenburg?“ fragt er sein Gegenüber.
„Nur von der Durchreise her. Da ich ja immer an diesem Tisch sitze, wegen der Konstanten, verstehen Sie. Da muß man konsequent sein und anderes einfach beiseite lassen. Der Blick des Sammlers wird naturgemäß etwas eingeschränkt, das gilt auch und erst recht für den Sammler von Transitvisa“, setzt er die nur bei der Kontrolle unterbrochene Sammellitanei fort.
Hilf Himmel, wie komme ich nur wieder vom Transitvisum los? Den Partner nicht mehr anschauen, überhaupt nicht mehr hinhören. Frechheit, denkt er, einem so ein mieses Zettelchen zu geben, ohne jeden Versuch einer künstlerischen Gestaltung, wo doch Briefmarken und Münzen und Porzellan von erstklassigen Künstlern entworfen werden. Ich will einfach nichts mehr davon hören. Erledigt, aus. – Doch ein passionierter Sammler läßt sich nicht so leicht abschütteln. Dafür ist seine Sache viel zu wichtig. Und deshalb auch er selbst. Ärgerlich. Jetzt hast du es wieder bestätigt gekriegt, sagt er sich: Die Leute, die man so trifft, sind nur solange interessant, wie man nicht weiß, was sie tun und sind. So grübelt und gründelt er langsam auf Potsdam zu, immer strenger werdend in seinen Überlegungen. Dann endlich hat er was:
„Aber“, sagt er unvermittelt, „ist das nicht Mißbrauch des Transitabkommens von 1971, genaugenommen, wenn Sie sich nicht ein Transitvisum ausstellen lassen, weil Sie die Transitstrecke benutzen wollen, sondern die Transitstrecke benutzen, nur um ein Transitvisum zu ergattern? Und das immer wieder. Sozusagen als ein Serientäter.“
Mit weitaufgerissenen Augen und Nasenlöchern und klaffendem Mund starrt der Sammler ihn an, einen Moment lang tonlos. Dann aber: „Nein, nein, um Gottes