So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale. Walter Laufenberg

So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale - Walter Laufenberg


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hinfahren ließ, wo er mit bedrohlicher Ruhe ein paar wohlgesetzte Sätze sagte, kam er zu dem richtigen bunten Staatstuch. Gleichzeitig kam er zu der Erkenntnis, daß der politische Gegner des Regierenden Bürgermeisters mit viel Phantasie arbeitete. Und zu den politischen Gegnern mußte der bedauernswerte Mann sie ja fast alle zählen, die um ihn herum waren. Stammten sie doch alle noch aus der Zeit der über dreißigjährigen Herrschaft der anderen Partei. Das Kündigungsschutzgesetz, überlegte Schmitt, hinter dem all diese Leutchen es sich gutgehen lassen können, wäre physikalisch wohl als Trägheitsgesetz zu bezeichnen.

      Die Fototour wird schon auf dem Wochenmarkt zum Triumphzug. „Das ist ja unser Bürgermeister, unser Regierender!“ und „Guten Morgen, Herr von Dinkelacker!“ Solche Spontan-Äußerungen des Volkes tun natürlich gut. Händeschütteln hier und Händeschütteln da. Und immer ein paar leutselige Worte parat, die bei den auf Obst und Gemüse eingestimmten Leuten Begeisterung auslösen. Eine Begeisterung, die den Regierenden wie auf Doppeladlerschwingen vor die Kamera trägt. Und Marchinger, der alte Fuhrmann, zeigt, daß er seine Hermelinenheimer kennt: Er greift einfach neben sich, einer jungen Frau mit Kleinkind auf dem Arm um die Taille, dreht sie mit sanfter Gewalt herum, schiebt sie neben den Regierenden und sagt: „Bleib da stehen, Mädchen, und nicht in die Kamera gucken, nur zum Regierenden hin, ja, so ist’s recht.“ Und macht im Bild dingfest, wie der gute Landesvater sich persönlich um das Wohlergehen seiner Landeskinder und Landeskindeskinder kümmert. Dokumentarisch festgehalten für alle Zeiten.

      Dann geht es im Konvoi durch die Stadt: Der Wagen mit dem Regierenden und dem Senatssprecher Dr. Vener, der Wagen der Sicherheitsleute und der Wagen mit dem Fotografen und Orpheus. Immer wieder wie zufällig die Reihenfolge ändernd. Und wo immer sie anhalten und aussteigen, bleiben zwei Sicherheitsbeamte hinter ihrem Wagen stehen. Die Kofferraumklappe geöffnet. Da drin liegen Maschinenpistolen, stellt Orpheus erschrocken fest. Eine völlig unnötige Vorsichtsmaßnahme, findet er. Denn selbst in Kreuzberg, wo der Regierende an kleinen türkischen Läden entlangschreitet, wird er nicht nur sofort erkannt, sondern auch freudig begrüßt. Eine Gemüsefrau bittet ihn so dringlich herein in ihren Laden, daß er nicht widerstehen kann. Und auch den angebotenen Tee trinkt er so heiß wie er ist. Marchinger kommt kaum mit bei diesem Motivüberangebot. In einer türkischen Konditorei nebenan kauft der Regierende etwas Süßes, das ihm mit dem bezaubernsten Lächeln des Orients und von einem köstlich vollfleischigen Odaliskenarm über die Theke gereicht wird. Das Geldstück, das die Frau dafür bekommt, vom Regierenden, der es sich von Dr. Vener geben ließ, gibt sie nicht in die Kasse, sondern behält sie liebevoll in der Hand, wie einen Talisman der Völkerverständigung.

      Anschließend zu einer Tischlerwerkstatt, dann in eine Privatwohnung, in den Reichstag und zuletzt noch auf den Tenniscourt: Überall nascht der Regierende, der gerade mal nicht regiert, mit Lust am Bekanntsein und Gegrüßtwerden. Die Fototour wird ein voller Erfolg, das heißt: Marchinger hat genügend Filmmaterial belichtet; Frau von Dinkelacker wird haufenweise Fotos durchwühlen können, um die schönsten auszuwählen, die damit offiziell für die Öffentlichkeitsarbeit Berlins zugelassen sind.

      4.

      Dieser Dr. Orpheus Schmitt hat sein eigenes Nasenweltbild, ein Koordinatensystem zur nasenmäßigen Einordnung der Mitmenschen, das ihm Befriedigung gibt – und manch belanglosem Mitmenschen immerhin eine gewisse Bedeutung. Ein eigenes Weltbild, das ihn stolz macht, wenn es ihm im entscheidenden Augenblick auch nicht weiterhilft. Wie das so ist bei Weltbildern. Doch weiß er: Als Neuling in der Verwaltung muß man über jedes bißchen Überlegenheit froh sein. Und muß es einzusetzen wissen. So sehr er bemüht ist, seinen Vornamen zu verbergen und seinen Nachnamen durch die Betonung des Doppeltees aufzuwerten, er ist überzeugt, daß es nichts Aussagekräftigeres an einem Menschen gibt als die Nase. Diese Überzeugung hatte er übrigens schon, ehe er beschloß, Bürokrat zu werden. Die Nase war stets das erste, was er von einem Menschen sah, meist sogar das einzige. An ihren Nasen hatte er die Menschen zu unterscheiden gelernt, ihre mehr oder weniger fehlende oder zumindest zu spät eingesetzte Intelligenz zu messen, ihre vermeintlich heimlichen Gewohnheiten abzulesen. Und wie sie mit Blindheit geschlagen sind, wenn sie in den Spiegel gucken.

      Inzwischen genügt ihm ein schneller Blick, und er weiß viel mehr von seinem Gegenüber als nur, daß es eine Messernase oder Pultdachnase hat, eine mit doppelten Kotflügeln, eine klassische Himmelfahrtsnase, eine Amerikanerinnennase, mit der er wie durch die Nasenlöcher angesehen wird, oder eine Victorynase, eine Schiefnase oder Segelnase, eine Spaltnase oder Original-Entenschnabelnase. Aber was sind schon solche Kategorien, erst das Sich-Bewußtmachen der Genese bringt die Erkenntnis. Ist doch jede Form – bis auf die paar Fälle von angeborenen Nasenabstrusitäten – die Funktion einer langwährenden, intensiven Deformationsarbeit. Die persönliche Art des Naseputzens wird schon aus der Form der Nase klar – und wird dann regelmäßig bald drauf bestätigt: Einhändig oder beidhändig, schiefziehend oder in beiden Nasenlöchern gleichzeitig gründlich nachsäubernd, von unten nach oben nachpuffend. Daneben läßt die Nase nicht nur auf die Größe und Plumpheit oder Feinheit der Hände schließen, das Zusammenspiel von Händen, Nasenknorpel und Nasenmuskulatur verrät auch einiges über Tätigkeiten – immer saubere Hände, brauchbar, oder immer schmutzige Hände, die man nicht ins Gesicht führen kann – und über die besondere berufliche Situation – allein im Zimmer oder stets unter Menschen.

      Er glaubt nicht an den alten Lavater. Nein. Dennoch, – eine Überlegenheit gibt Dr. Schmitt diese Einordnung, eine Überlegenheit, von der sich seine Mitmenschen keine Vorstellung machen können. Sie haben sich ja auch nicht wie er klargemacht, daß die Nase ein plastisches Organ ist, leben vielmehr immer noch in der unbewußten Vorstellung von Kindern, daß die Nase vollelastisch sei. Das ist für ihn der Intelligenztest, der jede IQ-Bestimmung aushebelt: Arbeiten sie immer noch weiter an der Deformation oder haben sie ihren Fehler erkannt, arbeiten sie dagegen? Erst wer sein Hand-Nase-Verhalten in den Griff bekommen hat, ist für ihn ein erwachsener Mensch. Wie er sie genießt, die Überlegenheit, die ihm seine Nasenerkenntnisse geben. Wo auch sonst kann man noch um die allesbegeifernden Wissenschaften herumkommen, wo von ihnen noch nicht okkupiertes Gelände finden, einfach einen Claim für sich abstecken und dann sogar fündig werden. Die Nasentheorie eine neue Wissenschaft – die bisher fehlende Wissenschaft. Etwas zu sehen, was kein Mensch sieht, obwohl es jedem tagtäglich vor Augen gehalten wird, das ist schon faszinierend. Vor allem, weil es vermuten läßt, daß man auch in anderen Bereichen sieht, was die Mitmenschen nicht sehen, obwohl es offen sichtbar ist. So gibt das Wissen um das Werden der Nasen rundum und um sein überlegenes Sehen Dr. O. Schmitt die Befriedigung, die er in seiner erfolglosen Schriftstellerei nicht gefunden hat – und in seiner Arbeit im Rathaus Schöneberg kaum zu erhoffen wagt.

      Daß man die Nase auch zum Riechen hat, erfährt er eines Abends bei der Rückkehr in sein Wohnheim an der Kulmer Straße. Wenn die wüßte, was sie in mir alles durcheinanderbringt, denkt er, als er den langen Flur im vierten Stock entlanggeht, vor der Tür mit der Nummer 415 stehenbleibt, aufschließt und hineingeht in sein Apartment. Seine Ablage. Aber vermutlich weiß sie es sogar und fühlt sich dabei ganz behaglich. Die Mollige, die wundermild Mollige. Sie war aus dem Aufzug getreten, den er sich herangeholt hatte. Sie war an ihm vorbeigeschwebt, wie fußlos in ihrem bodenlangen Kleid, mit einer Duftschleppe, die sie hinter sich her zog. Schade, sie war nicht allein. Tief atmend war Orpheus in die Blechkiste getreten, die ihn mit ihren zerkratzten Wänden in dem Moment noch mehr abstieß als sonst. Und doch wäre er am liebsten gar nicht mehr ausgestiegen, nur immer rauf und runter gefahren, eingehüllt in ihren Duft, ja, rauf und runter, rauf und runter, rauf ...

      Schon vier Wochen ohne Frau. In diesem Riesenbienenhaus allein. Ein Saftstand wie fürs Standesamt. Und das alte Elefantenelend: Immer ist der Rüssel dicker als das Loch im Zaun. Da reicht schon die Mollige mit dem langen Kleid und der Duftschleppe. Kickstart zum Schwänzeltanz.

      Alleinstehender Herr in kalter Bude. Immer der gleiche Auftakt des Abendprogramms. Mach was draus, Mann-o-Mann, sagt er sich. Mach dir einfach nichts draus und mach was draus!

      Auf dem kleinen Tisch sieht er die Kachel liegen, die sie von ihrem letzten gemeinsamen Urlaub in Colorado mitgebracht hatten. Einer dieser geistreichen Sprüche, aus denen die amerikanische Alltagskultur besteht. Instantkultur. Vorgefertigte Gedanken, in jeder Preislage und für alle Lebenslagen im nächsten


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