So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale. Walter Laufenberg
alles wahrheitsgemäß erzählen, was ich erlebe. Alles ein wenig weniger wahr, immer ein bißchen vorgetäuschte Gleichheit, das wäre besser. Dieses Mitmachen, das fängt doch schon mit der Krawatte an, die im Rathaus Schöneberg unumgänglich ist, als büromännliches Devotheitssignal. Dabei: In Wahrheit ist das ein Halstuch, das Männer trugen, die sich draußen herumtrieben, ein Schutz in Wind und Wetter. Ach, laß das, Orpheus. – Und er läßt es, läßt die Selbstzerfleischung. Dennoch wird ihm ganz schnell klar, was das war, diese ominöse künstlerische Freiheit: Dies und das und jenes – und das Unkrawattiertsein und das Knoblauchessendürfen mitten in der Woche.
Mit seinem Abteilungsleiter in dessen Privatwagen – der Mitfahrer bringt für ihn drei Pfennige mehr pro Kilometer an Spesen – unterwegs zum Abschiedsempfang einer Verlagsrepräsentantin. Zeitschriften und Zeitungen, versteht sich, nicht Bücher, korrigiert Dr. Hecht Orpheus’ abwegige Vorstellung. Und auch wieso eine solche Verlagsrepräsentantin eine wichtige Figur sei, erklärt er ihm: Meinungsmultiplikatorin. Daß Orpheus über den Widersinn des Wortes Abschiedsempfang stolpert, ist Dr. Hecht unverständlich. Enttäuschend. Sie sei auch eine gute Tennisspielerin, informiert er seinen neuen Mitarbeiter. Er selbst habe leider viel zu wenig Zeit fürs Tennisspielen. Sein Mitarbeiter gibt den Ball zurück, das gehe ihm genauso mit dem Lesen. Zum Lesen, gibt der Abteilungsleiter freimütig zu, komme er schon lange überhaupt nicht mehr. Und erzählt von dem letzten Buch, das er gelesen habe, vor zwei Jahren im Urlaub: Der Mann ohne Eigenschaften. Orpheus verschont ihn mit der naheliegenden Frage, wieso gerade dieses Buch – nein, nein, er scheint immerhin einer von den nettesten im Rathaus Schöneberg zu sein–, er überführt ihn auch nicht der Lüge, weil er sein Buch, das bei den Bewerbungsunterlagen war, angeblich so gut gefunden hatte.
„Ganz lesen, also mehr als anpicken, querlesen, durchblättern kann man den Musil in einem einzigen Urlaub jedenfalls nicht“, konstatiert er kühl, „doch finde ich das gar nicht schlimm. Im Gegenteil. Das müßige Herumspielen mit einem Buch, das Naschen von Zufallssätzen und das ziellose Weiterblättern, das Hängenbleiben an einzelnen Begriffen, das ist auch eine Art, ein Buch zu nutzen, wenn man schon nicht die Ruhe hat, es ganz zu lesen. Die Stärke eines Buches zeigt sich nicht zuletzt darin, ob seine einzelnen Ausdrücke einen nachdenklich machen können, ob sie einen weiterführen können, hin zu eigenen Erkenntnissen. Ich habe, als ich anfing zu schreiben, gedacht, es müßte möglich sein, einen Text so dicht, so stringent zu machen, daß der Leser zwangsläufig das denken muß, was ich ihm eintrichtern will. Davon bin ich schnell abgekommen. Liest doch jeder Leser aus jedem Text was anderes heraus, je nach Gemütsverfassung, Bildung und aktueller Beschäftigung. Der Wortemacher ist nur ein Anreger zum Selberbau von Bewußtsein. Die unmöglichsten Gedankenverbindungen haben mir meine Leser gedankt. In Gesprächen, in Briefen. Eine einzige Peinlichkeit. Jetzt weiß ich, der Romanautor ist ein Buchmacher, der nicht mehr, aber auch nicht weniger bietet als die Chance zum Glücklichsein.“
„Bei uns zuhause ist meine Frau fürs Lesen zuständig“, gibt Dr. Hecht zu. Und muß sich dann sagen lassen: „Das höre ich immer wieder. Viel zu oft. Man kann wohl sagen, daß bei uns die Männer in den Jahren zwischen Uniabschluß und Pensionierung als Lose mit dem Aufdruck ,Kein Gewinn‘ für die Gesellschaft ausfallen.“ Worüber Dr. Hecht herzhaft lachen kann: „Sie haben einen köstlichen Humor.“ Daß Unterhaltungen hier anders ablaufen, daran muß ich mich erst noch gewöhnen, sagt Orpheus sich.
Der sogenannte Abschiedsempfang im Hotel Intercontinental, im rundum verglasten obersten Geschoß, läßt ihn ein Gefühl der Einsamkeit empfinden. Ist er doch offensichtlich der einzige von den rund siebzig Anwesenden, der nicht hofiert wird. Wohl weil ich selber nicht mitmache beim Rundum-Hofieren, sagt er sich. All diese gebleckten Gebisse, diese Verbeugungen. Beuge dich, Werwolf: Weswolf, Wemwolf, Wenwolf ... Und doch genießt er es, einer von denen zu sein, die von den adretten Weiße-Blusen-Mädchen, diesen wortlos lächelnd umherschwebenden Elfen so untertänig bedient werden. Und erst das Essen. Die Bezeichnungen der Köstlichkeiten auf der gedruckten Karte, die vor jedem Gedeck steht, in Habachtstellung, wie es sich in dieser Gesellschaft empfiehlt, diese Bezeichnungen im feinsten frankophonen Deutsch lassen prompt die pawlowschen Säfte fließen, daß er schlucken, schlucken, schlucken muß. Nach einiger Zeit kommt auch etwas auf den Teller.
Schon ein paar Tage später muß Orpheus sein Urteil über die illiteraten Männer revidieren. Im FAZ-Magazin liest er ein Kurzinterview mit dem Senatssprecher Dr. Vener. Was er in der Freizeit am liebsten tue? Sich mit Literatur beschäftigen. Ach, – sich mit Literatur zu beschäftigen, das hat immer noch einen hohen Renommierwert? Als seine Lieblingsautoren hat der Sprecher Fontane und Simenon angegeben. Typisch. Nicht nur Wohnungseinrichtungen sieht man an, in welchem Jahr die Leute soweit waren – und dann aufgehört haben, sich drum zu kümmern.
Und wieweit sind meine Kollegen heute? – Die Köpfe vollgestopft mit Zeitungspapier und Zeitschriftenbildchen, Informationsgeflüster auf den Lippen, in den Ohren radio- und fernsehwispernde Geräusche, der Blick verwischt von Herrschaftswissen, so rutschen sie schneckengleich ihre Bahn, eine Schleimspur hinter sich lassend. Ihre Instant-Geistigkeit führt sie in schöne neue Welten. Dr. O. Schmitt mit Doppeltee leidet neuerdings an gelegentlichen Anfällen von Unduldsamkeit. Er weiß das selbst, findet es unschön und bemüht sich redlich um ein menschenfreundlicheres Urteil über seine Mitmenschen. Doch meist vergeblich.
Habe ich etwa erwartet, daß sie sich anhören wollen, was ich ihnen zu sagen habe? Nur, weil ich es so schön sagen kann? Im Gegenteil, sie erwarten, daß ich mir anhöre und daß ich lese, was sie nicht ausdrücken können. Hilf Himmel, eine Sprache rundum, als hätten die Schreibmaschinen die Macht an sich gerissen. Gigantische Bla-Bla-Blasen, die nicht verstanden werden wollen, sondern hinterhorcht, von listerfahrenen Insidern interpretiert. Man sollte ihnen die Zeitungen und Zeitschriften und Informationsdienste entreißen, all die Mitteilungen, Protokolle, Dienstanweisungen, Rundschreiben und Vermerke, alle Konzepte, Akten und Unterlagen, auch noch das letzte Anschreiben und Schriftstück und Paper und Aidemémoire, selbst die geheimen Dossiers und die kleinste Aktennotiz. Klaubt ihnen jeden Vorgang aus dem Eingang, weg mit all dem Gerülpse, das sie ernstnehmen, und ihr werdet sehen: Nach drei Tagen krabbeln sie auf allen vieren herum und brabbeln freundlich vor sich hin. Dann ihnen Max und Moritz vorlesen, und sie hätten eine Chance, wieder Menschen zu werden.
6.
Arbeitnehmer-Wohnheim, Kulmer Straße 37. So belanglos die Adresse und so belanglos auch der braune Kasten von außen erscheint, Flugloch für Flugloch mit einem winzigen Balkon, einem Brettchen quasi für den Aufschwung in die Luft, die Weite, die Freiheit, für Orpheus ist das wohldurchdachte Bienenhaus mit all seiner Funktionalität voller Aufregungen. Schon wenn er sich am Spätnachmittag rathaussatt dem Bau nähert, den Schlüsselbund in der Hand, meint er es knistern zu hören wie unter der Überlandleitung: Apartment für Apartment von dem einen Wunsch beseelt, besetzt, besessen, nicht allein zu bleiben.
Aber wie das anstellen? Wie? Diese Wohnheime, auf die Berlin so stolz ist, eine der effektivsten Maßnahmen zur Überwindung der Nachteile der politisch bedingten Insellage, wie man im Rathaus zu sagen pflegt, sie haben keinerlei Gemeinschaftseinrichtungen. An so was haben die Erbauer nicht gedacht, hadert der Neuzugang mit Unbekannt. Ein Partyraum, ein Schwimmbad, eine Sauna, eine Hausbücherei oder wenigstens ein Fernsehsalon? Nein, nichts, nicht einmal ein Tischtenniskeller. Kein Buon Retiro, nein, Einzelhaft als Prinzip. Ja, eiskalte Berechnung. Isolationsfolter. Um den baldigen Umzug in eine richtige Wohnung zu erzwingen. Damit das Apartment wieder frei wird für den nächsten neuangeworbenen Arbeitnehmer, den nächsten Neuberliner. Nur neu, neu, neu darfst du hier sein, niemals mit deiner Umwelt vertraut, nicht eingelebt, nicht beruhigt, nicht zufriedengestellt, nein. Bloß zwischengelagert.
An dem Spätnachmittag, als er sein Apartment betritt, fühlt er sich wie auf links gedreht. Keine Tentakeln mehr nach außen, keine Antennen, keiner seiner sieben Sinne aktiv. Alles nach innen gestülpt, wo er nichts damit anfangen kann, wo ihm alles nur zum Dorn im Fleisch wird. Reiß dich zusammen, Orpheus! Und schon kann er auch das positiv sehen: Ich genieße nicht nur die Promptheit meiner Geschmacksnerven, die Feinheit meines Tastsinnes, den Gehorsam meines Penis, meiner Zwerchfellkontraktionen, – ich genieße viel mehr: meine Stimmungen und anderer Leute Stimmungen dazu, ich genieße sie als künstlerische Niederschläge, und ich