So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale. Walter Laufenberg

So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale - Walter Laufenberg


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Wort gesagt bei den Paßkontrollen, da habe ich stets drauf geachtet, um ja keinen Anlaß für eine Verdachtskontrolle in der Baracke zu geben. Aber wenn Sie das so sagen –.“ Und schweigt atemlos, erst blaß, dann wie in die Farbvariable getaucht, mal mehr rot und mal mehr violett im Gesicht.

      Es ist kurz nach zwanzig Uhr, als die Grenzposten wieder durch den Speisewagen kommen. Der Sammler plötzlich wieder leichenfarben. Die Männer aber streben mit schnellen Schritten und zufriedenen Ladenschlußgesichtem dem Zugende zu.

      Die Vorortbahnhöfe Berlins werden ohne Halt und nur im Bummeltempo passiert: Wildpark – da steht noch eine verfallende Prachthalle abseits, einst für den Empfang des Kaisers geschmückt –, dann Babelsberg und schließlich Griebnitzsee, das andere Ende der Reuse. In Griebnitzsee steigen die Uniformierten aus, auf dem Bahnsteig von Kollegen und Schäferhunden erwartet. Daß es immer Schäferhunde sein müssen, überlegt er. Eigentlich ein gutes Zeichen: Wir Deutschen sind ein bukolisch empfindendes Völkchen. Mindestens fünfmal waren sie durch den Zug gezogen, die Uniformierten, im Gänsemarsch. So ein Schutz, denkt er. Sein Gegenüber ist verstummt. So hat er Muße, sich einmal die Mauer aus der Nähe zu betrachten: grau und übermannshoch und mit einer ebenfalls grauen Rolle obendrauf, an der wohl die Hände abgleiten sollen, wenn einer drüberzuklettern versucht. Was ohnedies ein schlimmes Ende nehmen würde, denn hier sieht er hinter der Mauer einen breiten Riegel von rostbraunen Eisenmatten liegen, mit hohen Stacheln dicht an dicht. Selbst einen gestandenen Fakir müßte dieser Teppich an der Welt verzweifeln lassen. Liegen die Matten nun vor oder hinter der Mauer? Das ist eine überflüssige Frage, weil die Öffnungen, durch die der Zug fährt, ja reusenartig gebaut sind. Aber daß wir aus der Reuse überhaupt wieder hinausdürfen, das ist schon grandios. Das verdanken wir fraglos dem Transitvisum – und den vielen Millionen harter D-Mark, die Bonn dafür zahlt.

      Um 20 Uhr 30 in Berlin-Wannsee. Die letzten fünfzehn Kilometer bis zum Bahnhof Zoo unterscheiden sich deutlich von der gerade durchfahrenen Strecke: Die ganz andere Art von Autos auf den Straßen markiert den Bühnenwechsel. „Ich vermute, jetzt sind wir wieder auf deutschem Boden oder nicht?“ fragt er sein Gegenüber. Und ergänzt, als er dessen irritiertes Suchen nach einer passenden Antwort bemerkt: „Ich meine, wir sind in, wie soll ich sagen, na ja, Sie wissen schon.“ Klingt ja auch viel zu pathetisch, das mit der freien Welt, überlegt er.

      „Tschuldigung“, springt der Mann plötzlich auf, wiederbelebt. „Dürfte ich Sie wohl um Ihr Transitvisum bitten? Sie brauchen es ja jetzt nicht mehr, und ich, ich sammle doch das Gebiet, und nun – nun war das meine letzte Reise. Zurück werde ich fliegen, vorsichtshalber.“ Und dann hurtig von Tisch zu Tisch mit seiner Bitte. Und ab in den nächsten Wagen: eine Sammlerpersönlichkeit, ungebrochen.

      Pünktlich 20 Uhr 46 läuft der Zug in Bahnhof Zoo ein. In dem Menschengewirr dort kann er seinen Gesprächspartner leider nicht mehr ausmachen. Zu spät, um sich dafür zu entschuldigen, daß er ihm die Komplettierung seiner Sammlung vermasselt hat.

      Auch ich in Berlin, sagt er sich. Und wenn schon nicht in Arkadien, so doch an der Sollbruchstelle der Welt. Und ich habe hier eine wichtige Funktion. Den Bruch zu verhindern? Nicht ganz das. Vielleicht eher: Darzustellen, daß er längst keiner mehr ist. Daß die Risse gut verheilt sind. Nur noch liebevoll gehätschelte Narben. Triumphierend vorgezeigt.

      2.

      Ein Kapitol im Kopf, so ein amerikanisch-süßes Plastikwunder von Kapitol im Kopf, mit Monstersäulen, griechisch-putzigem Architraph und hoher Petersdomkuppel, in der schönsten Kodacolorsonne glänzend. Wie sich das für einen Regierungssitz gehört. Um dann, aus dem überfüllten Frühbus gequetscht, das da vor sich zu sehen: Ein Grautier, störrisch-steif, den kantigen Kopf hochgereckt, im Regen, Regen, Regen. An einem Aprilmorgen, so triefäugig, daß er sogar noch alles Grau zum Glänzen bringt. Laß alle Hoffnung fahren und nichts wie hinein, sagt er sich, hinein ins Rathaus Schöneberg, den provisorischen Regierungssitz der freien Stadt Berlin (West).

      Da sieht er vor sich ein Schild mit der Aufschrift: Bitte Hausausweis vorzeigen!, kaum daß er durch die schwer aufzuwuchtende Bronzetür ist. Eine breite Treppe, und oben auf dem Treppenabsatz vor ihrer Portiersloge stehen sie. Schon wieder Uniformierte, diesmal in grau. Sie stoppen ihn mit dröhnendstummen Hoheitsblicken. Er sagt: „Guten Morgen“, stellt sich vor mit: „Mein Name ist Schmitt, Doktor Orpheus Schmitt mit Doppeltee“ und erklärt auch gleich: „Ich bin der neue Referatsleiter in der Senatskanzlei.“

      „Ihr Hausausweis!“

      „Habe ich noch nicht, werde ich mich aber sofort drum kümmern. Ich muß nur erst einmal mein Büro gefunden haben.“

      „Da kann ja jeda kommen“, berlinert es ihn so wenig subaltern an, daß er prompt einen ersten Anfall von Unernsthaftigkeit am falschen Ort kriegt und lacht, lacht, während er das letzte amtliche Schreiben mit der Angabe seines Dienstbeginns rauskramt und überreicht. Lacht, bis die Grauen endlich mitlachen und ihn durchlassen: „Bitte, Herr Doktor.“

      Jetzt weiß ich also, wofür ich mich dazu durchgerungen habe, den freien Autor und Gelegenheitstexter aus- und den Bürokraten anzuziehen, meine heimische Klause gegen das hier, den Sitz der Landesregierung und des Parlaments von Berlin, einzutauschen: Nicht nur wegen Beate, nicht weil sie mich dazu gezwungen hat, nein, auch um denen hier zu zeigen, denen allen, bei den untersten Rängen der Machtelite angefangen, daß ich nicht „jeda“ bin. Wenn mir auch die Werbeaufträge ausgegangen sind – die wirtschaftliche Rezession halt – und ich all meine Ersparnisse aufgebraucht habe und meine Schriftstellerei noch so gut wie nichts einbringt, „jeda“ bin ich deshalb doch nicht.

      Aber wie hat der eine Graue zuletzt gesagt? „Bitte, Herr Doktor.“ Eigentlich auch ganz schön, plötzlich wer zu sein, wo alle was sind, so förmlich mit Titel angeredet zu werden, macht er sich Mut, als er die Treppe zur Beletage hinaufsteigt. Und ein Direktorgehalt zu beziehen. Ich werde aufpassen müssen, daß ich hier nicht hängenbleibe. Aber, aber, – erst mal an die Arbeit!

      Mit Arbeiten wird es zunächst noch nichts. Wie soll man sich über seine Aufgabe hermachen, wenn man so neu ist und nicht weiß, was läuft, wenn man in einem nur halb eingerichteten Büro sitzt und überhaupt noch keine richtige Aufgabe bekommen hat, sondern nur Akten, Broschüren, Bücher: Material zum Sich-Einlesen, wie es heißt. Er solle zunächst einmal in Ruhe gelassen werden. Also dasitzen und lesen, fremd unter Fremden. Viele Hände habe ich schon schütteln müssen; aber noch weiß ich nicht, wem ich vertrauen kann, wem ich sympathisch bin, wem nicht, erst recht nicht, wem ich im Weg bin, wer sich auf mich einschießen will; noch tun sie alle sehr freundlich.

      Die ihm zugesagte Sekretärin gibt es noch nicht. Was gar nicht so schlecht sei, weil ohnehin kein Büro für sie frei sei, heißt es. „Das regelt sich“, tröstet ihn Dr. Hecht, sein Abteilungsleiter, mit vielen, viel zu vielen perfekt formulierten Sätzen, die in der Feststellung enden: „Das sind die typischen Anlaufschwierigkeiten in der Verwaltung. Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Gut Ding will Weile haben, eine gute Verwaltung erst recht. Vorerst ist meine zweite Sekretärin, Frau Gram, als Schreibkraft auch für Sie zuständig. Hiermit beschlossen und verkündet. Im übrigen: Soviel haben Sie ja am Anfang nicht zu schreiben.“

      „Nun gut“, Kann er dazu nur sagen. Und schon nimmt er sich vor, sich mit Arbeiten zurückzuhalten. Dieser Dr. Hecht ist nicht zurückhaltend, bemerkt er schnell. Er erweist sich als ein Berliner nach Schnittmuster. Er läßt es nie mit kurzen Erklärungen bewenden. Sprechen ist offenbar seine Leidenschaft. Er frönt ihr mit bewundernswerter Eloquenz. Dabei hat er nicht nur die schnodder-witzigen Redewendungen drauf, die man in Berlin an jeder Haltestelle, in jedem Laden und erst recht in der Kneipe zu hören kriegt, all dieses Vorgefertigte. Er kann sogar selbst Wortspiele machen, und das aus dem Stand heraus. Bei ihm gilt: Alles fließt. Fast könnte man sagen: In seinem Redefluß fühlt sich der Hecht am wohlsten. Na also: Was der kann, kann ich schon lange.

      Wie ertappt, greift er sich an die Nase. Was ihn daran erinnert, daß er eine schönere Nase hat als dieser Dr. Hecht. Der muß ein Daumenbohrer sein, und zwar mit beiden Daumen. Überhaupt kein Falz mehr an den Nasenflügeln. Ein glattes Pultdach rechts und eins links, eine Doppelpultnase also. Tief ausgebohrt und so breitgezogen, daß die Spitze wie ein zu klein gewordenes Hütchen


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