So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale. Walter Laufenberg

So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale - Walter Laufenberg


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immer etwas mehr zu sehen als andere. Und nun ist sein erstes Mehropfer dieser Dr. Hecht. Für ihn der erste Berliner im Nahkontakt. Ich mag ihn, muß er sich zugeben. Und er mag mich offensichtlich auch. Hat er es doch gegen seinen direkten Vorgesetzten, den Senats Sprecher durchgesetzt, mich als seinen Mitarbeiter zu bekommen. Daß er mir das verraten hat – auch eine geschickte Methode, sich einen Menschen zu kaufen, und das mit Haut und Haar, wie er sagen würde. Da gab es an die hundert Konkurrenten, und etliche davon hatten den unschätzbaren Vorzug, Parteimitglieder zu sein. Und das sogar bei der richtigen Partei, nämlich bei den Christlichen. In der Leitung des Hauses gab es einige Leute, die meinten, das mache geringere Qualifikation mehr als wett. Doch der Regierende Bürgermeister von Berlin, Dr. Richard von Dinkelacker, fand, daß es gut zu seinem Bild von Überlegenheit passen würde, sich einen Mann für die Berlin-Werbung auszusuchen, der keiner Partei angehört.

      „Aber Sie sind Parteimitglied?“ hat Orpheus Schmitt seinen Abteilungsleiter gleich in diesem ersten Gespräch gefragt.

      „Ja, ich bin Sozialdemokrat.“

      „Also in der falschen Partei.“

      „Das kann man so nicht sagen“, wurde Dr. Hecht grundsätzlich. „Die Sozialdemokratische Partei kann niemals die falsche Partei sein, es kann nur gerade mal die falsche Partei am Ruder sein. Wie im Moment. Ich habe mich entschlossen, in diese Partei einzutreten, als Willy Brandt mit seiner Ostpolitik in ganz neue deutschlandpolitische Dimensionen vorstieß. Das hat mich so begeistert, da konnte ich nicht länger abseitsstehen.“

      „Es war ja auch nicht daran zu denken, daß den Sozialdemokraten, die hier in Berlin die Herrschaft quasi gepachtet hatten, das Ruder mal aus der Hand fallen könnte“, hakte Schmitt nach.

      „Was für mich kein Gesichtspunkt war.“

      So einfach hatte Orpheus es ihm nicht machen wollen. Gerade am Anfang nicht. Deshalb schnell ein paar wohlgestellte Sätze über die Parteien als solche nachgereicht. Daß die großen Volksparteien die stolze Errungenschaft der Moderne, die Demokratie, gründlich verwässert hätten, indem sie aus der Wahl eine Entscheidung zwischen „Zum Wohle“ und „Wohl bekomm’s“ gemacht hätten. Damit hätten sie erreicht, daß die Bevölkerung in zwei Teile auseinandergerissen wurde und daß etwa der Hälfte der Wählerschaft der Wein nicht schmeckt, nur weil er mit, „Zum Wohle“ statt mit „Wohl bekomm’s“ kredenzt wird beziehungsweise mit „Wohl bekomm’s“ statt mit „Zum Wohle“. Es sei ja kaum noch möglich, sich für das eine oder das andere zu entscheiden, weil es nur noch diese charakterlosen, gepanschten Mischweine gebe.

      „Zurück zu Ihnen, Herr Schmitt. – Wieso haben Sie einen so komischen Vornamen? Orpheus – was haben Ihre Eltern sich nur dabei gedacht?“

      „Nun ja, die haben sich einen Namen ausgedacht, der garantiert in kein Parteibuch passen würde.“

      „Schön gesagt. Daß Sie keiner Partei angehören, weiß ich. Aber wieso nun wirklich dieser hypernostalgische Vorname?“

      „Mein Vater hatte eine ständige Redensart, und die lautete: Die griechischen Götter, sie leben immer noch unter uns. Deshalb Orpheus. Nun ja. Aber abgekürzt, einfach so O-Punkt, klingt der Name doch ganz unverdächtig, absolut zeitgemäß, oder? Schon fast zu belanglos, meinen Sie nicht auch? Ich habe, muß ich zugeben, den Doktor nur gemacht, um dieser Abkürzung doch ein bißchen was zu geben.“

      „Ein akademischer Titel quasi als Kosmetik, das klingt gut, für einen Werbemann der richtige Visitenkartengag. Aber jetzt muß ich das Gespräch leider abbrechen, weil ich zum Senatssprecher muß. Wir haben ja noch so viele Jahre, uns zu unterhalten. Dagegen diese politischen Figuren, das sind ja nur durchreisende Artisten, deren Spiel man bestaunen muß, ein wenig auch mitspielen, solange sie noch da sind.“

      Immerhin, er ist was geworden bei den Genossen. Wie sie alle was geworden sind, meine Kollegen rundum, wurde Orpheus Schmitt nach diesem ersten Gespräch schon gefährlich nachdenklich. Die meisten seien wie er eingeschriebene Sozialdemokraten, hat er gesagt. Und denen hat sich von Dinkelacker nun mit einer Handvoll verschworener Unionsleute in den Nacken gesetzt. Mit dieser halben Situationsschilderung alleingelassen, bekommt Orpheus plötzlich so was wie eine Denkkolik: Ich selbst könnte in diesem Haus den ersten oder zumindest den zweiten Rang bekleiden, wenn ich mich gleich nach der Schulzeit oder möglichst sogar noch vor dem Abitur gesellschaftspolitisch engagiert hätte, wie es in den Lebensläufen der Politiker so schön heißt. Wenn ich wie sie Partei ergriffen und Plakate geklebt, einem Mentor Beifall gespendet und die richtigen Freundschaften gepflegt hätte – und mir aus vielem einfach nichts gemacht und statt dessen eine eigene Hausmacht aufgebaut, über allerlei redend, redend, redend und zu allerhand schweigend, schweigend, schweigend. – Hilf Himmel, daß ich auf den Gedanken komme, ich hätte so was werden können, das macht Jahrzehnte eifrigster Bemühung um das Gute-Schöne-Wahre zunichte. Und formuliert schnell und spricht es sich nikolaushaft vor: „Vorsicht Orpheus! Wer allen Karriere-Versuchungen heldenhaft widerstanden hat, der ist dennoch ein Verlierer, wenn er durch die Hintertür das Bedauern hereinläßt.“

      3.

      Schon etliche Wochen in Amt und Würden. Aber wenn er das Rathaus Schöneberg betritt, unter den kritischen Blicken der Pförtner, immer noch dieser spürbar verstärkte Adrenalinausstoß. Was die Grauen zum Glück nicht sehen können. Dabei hat er inzwischen einen sogenannten Dienstausweis. Den ja, aber eben noch keinen Hausausweis. Denn der ist aufwendiger in der Herstellung, hat man ihm erklärt. Wie für die Ewigkeit gemacht. Mit Farbfoto aus der hauseigenen Hausausweiskamera, in Gegenwart des Hausausweisfotografen von ihm zu unterschreiben, anschließend sofort einzuschweißen. Hausausweis-Fototermin nur alle paar Monate.

      Dr. O. Schmitt macht sich klar, daß ihn inzwischen alle Pförtner kennen müßten. Um sich selbst zu beruhigen. Sicher ist ihnen aufgefallen, daß ich beim Heimgehen immer so freundlich „Auf Wiedersehen!“ sage, so verbindlich lächelnd, als ob ich das Wiedersehen kaum noch erwarten könnte. Damit macht man sich Freunde. Für den Auftritt am Morgen hat er sich was Besonderes einfallen lassen: Er geht nicht zögerlich auf die Uniformierten zu wie ein Besucher, nein, immer zwei Stufen mit einem Satz nehmend, hastet er so diensteifrig an ihnen vorbei, daß ihn niemand zu stoppen wagt. Beweist doch die Eile wie auch sein nur schnell hingeworfenes „Morgen“, mit betont konzentrierter Miene, ohne einen Blick zur Seite, daß er im Geiste schon festeweg beim Regieren ist. Bei diesem schnellen Durchhuschen nehmen die Grauen es hin, daß er nicht das übliche Aktenköfferchen trägt, dieses geile Standeszeichen, von dem man nie weiß, was drinsteckt. Er hat seine Butterbrote und den Apfel in einer Plastiktüte vom KaDeWe in der einen Hand – ein Jutebeutel ist ihm zu konformistisch –, den fliederfarbenen Damenschirm von Beate, der zufällig mitgekommen ist, in der anderen. Daß ich damit den hochherrschaftlichen Haupteingang des Regierungssitzes verschandele, müßte dem Wachdienst eigentlich suspekt sein, wundert er sich. Aber man ist halt auf Terroristen abgerichtet, nicht auf Individualisten. Dabei würde ich mir so gern einmal in aller Ruhe die Vorhalle des Rathauses Schöneberg ansehen. Diese Pracht in Weiß und rötlich-braunem Sandstein. Oder sind das gebrannte Klinker? Das weiß ich noch immer nicht. Weil: nur nicht genauer hinschauen, nicht stehenbleiben wie einer, der nicht hierhergehört, nur immer schnell weiterhasten. Und diese vollplastischen Köpfe an den Säulen, im Augenwinkel mitgekriegt, was sollen die? Wer schaut da so auf mich herab?

      Schon sitzt er wieder in seinem Büro und liest sich ein. Liest, liest, liest – oder döst. Nach zwei Stunden Lektüre wieder das gleiche Erlebnis wie damals im Seminar der Universität. Wenn ihn nur noch die Pflicht am Buch festhielt. Lesen nicht mehr als das Ranpirschen an die Wahrheit, nicht mehr dieses Das-Leben-Anspringen, überhaupt kein Erlebnis mehr. Die Augen lasen noch, wankten gehorsam die Zeilen entlang, hin und her, hin und her, während das Gehirn schon auf Schlaf umgeschaltet hatte. Er las ins Leere hinein, las und las – und wußte längst nicht mehr, was er las. Doch plötzlich döst er nicht mehr, schreckt er sich selbst auf: Ja, bin ich dafür nach Berlin gegangen, damit ich wieder beim Schlaflesen auskomme? Nie hätte ich gedacht, daß das Leben im Zentrum der Macht so belanglos sein könnte. Ich erlebe immer noch nichts, absolut nichts. Dabei hatte mir doch irgendwer gesagt: „Auf dem Posten können Sie was erleben!“

      Aber weil


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