So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale. Walter Laufenberg

So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale - Walter Laufenberg


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er den Spruch gekauft hatte: Now is the time to live tomorrows memories. Beate hatte das so gut gefallen. Ihm selbst dann auch. Und nun liegt die freundliche Aufforderung hier auf dem Tisch, irgendwie mitgekommen.

      Diese Anstachelkachel zu kaufen, das sollte wohl ein Witz sein. Kaum wieder daheim, jagt sie mich aus dem Haus, läßt mich nach Berlin ziehen, arbeiten gehen. To live tomorrows memories? Na, und ob. Bin ich etwa kein Mann mehr, wenn ich meine Frau verloren habe? Er steht vor dem großen Spiegel und läßt die Hose runter. Die Unterhose beult sich gehorsam aus. „Holla, nichts da, nur umziehen für den Feierabend“, sagt er, „noch bin ich der Chef hier.“

      Er sieht sich wie applausheischend in seinem 24-Quadratmeter-Apartment um. So betulich putzig, diese Kleinstwohnung. So wie alle anderen. Wie ein paar hundert über- und nebeneinander. Mit ein paar hundert über- und nebeneinandergestapelten Männern und Frauen drin, immer schön einzeln abgepackt, Mensch für Mensch, jeder für sich, mit Kochnische und Bad und Schrank und Regal und gerahmten Kunstdrucken aus Berliner Museen an den Wänden, mit einem Tisch und zwei Stühlen, ja zwei, falls mal Besuch kommen sollte. War ja auch schon da: Der Vertreter, der überfallartig fünfzig Mark für die Schlüsselverlustversicherung kassierte. Aber für den war der zweite Stuhl eigentlich nicht gedacht. Er und Sie sollte ich in die Rückenlehnen schnitzen. Ja, an alles haben sie gedacht, die Erbauer dieses Wohnheims für neuangeworbene Arbeitnehmer, an alles. Deshalb das überbreite Bett und der mannshohe Spiegel an der Wand. Aber auch die einheitlichen Namensschilder, für die Vornamen nur ein Buchstabe und ein Punkt. Nur keinen Vorschub leisten. Punktum. Sollen die Punktierten doch sehen, wie sie zurechtkommen.

      5.

      Das Zimmer 1035 im ersten Obergeschoß des Rathauses Schöneberg geht auf einen engen Innenhof hinaus, in dem eine einsame Jungbirke zu leben versucht. Mit dem Bäumchen schließt Orpheus sofort Freundschaft. Ein aufmerksamer Blick und ein freundliches Wort, als vegetative Antwort ein Wedeln der Blättchen: Sie sind sich einig. Dabei hätten sie beide nicht sagen können, wieso. Nüchtern betrachtet ist es so, daß die Birke mit ihrem schüchternen Grün all das wettmachen muß, was Orpheus bedrückt. Vor allem, daß sein Büro so klein ist und nahezu leer. Nur ein Schreibtisch mit defektem Schloß, ein Schreibtischstuhl mit abgewetztem Stoffbezug, ein Schränkchen für Akten und für einen schmalschultrigen Mantel. Das ist das Interieur. Orpheus erfährt, was es heißt, in der Verwaltung der Neue zu sein: Man findet die ältesten Sachen vor, Plunder, der keinen der Kollegen mehr zum klammheimlichen Austauschen reizen konnte, als das Zimmer leerstand.

      Dr. Hecht hat gesagt: „Ich hoffe, Sie fühlen sich hier bei uns wohl. Natürlich muß man sich ja überall erst einmal einleben.“ Damit hat er wohl den Kontrast gemeint, in dem das Büroambiente zu der Stellenbeschreibung in der Anzeige stand, auf die hin Orpheus sich beworben hatte. Auch mit den hoch- und höherstapelnden Ansprüchen, die ihm im Vorstellungsgespräch präsentiert wurden, hat diese Arbeitsplatzgestaltung so gar nichts zu tun. Nur gut, daß ich die Typen dieser Beschnupperrunde nicht geschont habe. Meine Faustformel hat sie geschockt, exakt im richtigen Moment gebracht: „Genau genommen, meine Herren, entscheiden Sie hier ja nicht über mich, sondern über sich selbst.“

      Unsicherheit in den einheitlich glatten Funktionärsgesichtern und die Frage: „Wieso das?“

      „Nun, es gibt eine gesicherte Erkenntnis der Betriebssoziologie, die da sagt: Erstklassige Leute stellen erstklassige Leute ein, zweitklassige Leute stellen drittklassige ein. – Mit Ihrer Entscheidung über mich werden Sie zeigen, ob Sie erstklassig sind oder nicht.“

      Das war der Fangschuß. Mit meiner ehrlichen Neugier auf Berlin, mit meinen Erfahrungen in der Öffentlichkeitsarbeit und mit etlichen nur angedeuteten Ideen gab ich den Herren den Rest: Da war ich eingestellt. Daß das so glatt läuft, hätte ich nicht gedacht. Wenn ich noch daran denke, wie ich das Bewerbungsschreiben getextet habe. Mit diesem Hinweis: „Ich spreche hundert Sprachen, alle in bestem Deutsch“. Daran entscheidet sich, ob ich dort richtig bin oder nicht, hatte ich mir gesagt. Wenn sie das goutieren, dann mach ich den Job, wenn nicht, dann bleibe ich besser raus aus dem Stall.

      Und jetzt? – Jetzt komme ich überhaupt nicht mehr aus dem Staunen heraus: Was für den, der in der zweiten Reihe parkt, der laufende Motor ist, das ist für den Büroflüchtling die brennende Schreibtischlampe. Das Signal: Ich bin gleich zurück. Ob man Mittag macht oder zu privaten Besorgungen unterwegs ist, die Lampe sagt ihr Immer-Dienstbereit. Und scheint die Sonne noch so schön, die Lampe hält mit. Als Platzhalterin sogar viel zuverlässiger als die Sonne, tröstet sie den, der hereinkommt und mit seinem Wunsch nicht ankommt, und besänftigt den Vorgesetzten, der suchend herumläuft – während natürlich auch an seinem Schreibtisch die Lampe einsame Wache hält.

      Dr. Orpheus Schmitt macht Erfahrungen, mit denen er nicht gerechnet hat. Dabei ist er so widerborstig, diese Erfahrungen nicht in eigene Geschicklichkeit umzusetzen. Man möchte sich ja noch von diesen Bürokraten, diesen Apparatschiks absetzen. Plötzlich gefallen ihm solche Begriffe. Nur nicht alles von ihnen übernehmen, nimmt er sich vor. Mich nicht normalisieren lassen. Denn was ich hier so höre: vorehelicher Geschlechtsverkehr ist normal, und erhöhter Blutdruck ist normal und Ehekrach auch. Und ein Beutel Tee pro Tasse ist genauso normal, wie ein Auto pro Familienmitglied normal ist. Die Novembergrippe ist normal und der Weihnachtsbaum auch und der Sommerurlaub sowieso. Und sogar der Glaube an Horoskope ist normal. Nur wer an die baldige Wiedervereinigung Deutschlands glaubt, dem sagen sie: „Du bist nicht ganz normal.“ Klar. Dabei: Wenn wir uns einig wären, daß wir all das, was wir gemeinhin als normal bezeichnen, überhaupt nicht zur Norm erheben wollen, sondern es damit nur als üblich deklarieren, dann könnten wir uns damit beruhigen, daß das Übliche eigentlich gar nicht so übel ist. – Daß ich mich immer so verfranse, wenn ich nachdenklich werde.

      Was man unter Anpassungsdruck zu verstehen hat, wird ihm vorgeführt, als er bei einer der gemütlichen Büroplaudereien die Kneipe „Dicke Wirtin“ am Savignyplatz erwähnt. Die kennt keiner der Kollegen. „Eine ausgesprochen urige Pinte. Da trifft man die kuriosesten Typen. Als ich gestern abend an der Theke mit einer Frau ins Gespräch kam, die sich betont emanzisch gab, habe ich sie schließlich nach ihrem Beruf gefragt. Da kriegte ich zunächst einmal zu hören, daß man danach in der Kneipe nicht gern gefragt werde. Sie sagte dann aber doch mit unüberhörbarem Stolz, sie sei Journalistin. Und auf Nachfrage kam sie endlich damit heraus: Sie arbeitet für die Die Wahrheit. Wie gut, daß ich ihr nicht gesagt hatte, wofür ich arbeite, ich hatte mich einfach nur als Büromensch ausgegeben.“

      Den letzten Satz hat er schon für sich selbst gesagt. Weil seine Gesprächspartner sich abrupt einem anderen Thema zugewandt haben, von ihm abgerückt, als hätte er die Krätze. Eine Reporterin des kommunistischen Hetzblattes Die Wahrheit – pfui, Spinne, so der allgemeine Kommentar in Körpersprache. Was Orpheus zu denken gibt. Nun ja, daß das Blättchen hier im Westen erscheint, aber von drüben finanziert wird, das weiß man. Aber man empfindet es offensichtlich nicht als einen Vorteil, daß es deswegen in einer so rücksichtslosen Weise berichten kann, wie sie kein Westberliner Zeitungsverleger seinen Redakteuren erlauben könnte. Gerade das Lokale, müssen die ja immer wieder gezügelt werden, gerade das Lokale ist die empfindliche Seite einer Zeitung. Weil man mit peinlichen Hintergrundstories aus dem städtischen Leben die wichtigsten Anzeigenkunden verprellt. Orpheus liest in den nächsten Tagen besonders aufmerksam Die Wahrheit. Und sieht: Da wird über die Westberliner Verhältnisse in einer Art berichtet, die ganz eindeutig auf nichts und niemand Rücksicht nimmt. Da werden einzelne Fälle von Grundstücksspekulation schonungslos aufgedeckt, da wird ohne jede Verschleierung über die miserablen Ausbildungsverhältnisse in einem Großunternehmen berichtet. Alles so fremd klingend für den Zeitungsleser aus Westdeutschland, wo alles so schön rücksichtsvoll, so hintertürig, so publicrelationshaft gebracht wurde, wo immer der ängstlich auf die Kontoauszüge schielende Verleger durchschimmerte, und der haareraufende Anzeigenleiter, wo alles dreimal gewendet, viermal gefiltert und fünfmal verwässert werden mußte, ehe es serviert werden konnte, mit ein wenig Sex angereichert und mit Pop, damit der fade Geschmack nicht aufstößt. All diese Hindernisse fehlen hier, stellt er fest. Das ist die Wahrheit hinter der Wahrheit, so degoutant wie diese selbst. Ob auch alles wahr ist, was so schonungslos gebracht wird, ist natürlich eine andere Frage.

      Muß


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