So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale. Walter Laufenberg

So schön war die Insel. Bericht aus der West-Berliner Regierungszentrale - Walter Laufenberg


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mannshohen Spiegel in seinem Apartment, steht da ohne alles, und sucht herauszubekommen, womit die Natur ihm einen Fingerzeig für seine ganz persönliche Karriere gegeben habe. Sich seinen Platz an der Sonne zu ersitzen, das wäre sicher nicht seine Bestimmung. Dazu gehört ein breiter Arsch, hat er oft genug sagen gehört, ein Arsch, so ausladend – und einladend – breit, daß keiner um ihn herum kommt. Fehlanzeige, stellt er bedauernd fest. Hätte ihm dieser bequeme Weg doch gefallen. Geduld genug hätte er dafür sicherlich. Und wie ist es mit dem Kriechen? Nein. Mit meinen leider etwas asthenisch abstehenden Schulterblättern würde ich überall hängenbleiben. Und radfahren? Er besieht sich seine Beinmuskulatur mit einem nachsichtigen Lächeln. „Mir werden schon die Beine dünn“, sagt er mit Heinrich Heine, „das kommt vom vielen Studieren.“ Und erschrickt über diese Offenheit und nimmt sich fest vor, Heinrich Heine im Rathaus Schöneberg nie zu erwähnen. Aus Rücksicht auf die eine wie die andere Seite. Wenigstens solche krassen Fehler sollte man vermeiden, wenn man in der Regierungszentrale sitzt. Aber was ist mit meinen Ellbogen? Gefährlich spitz sehen sie ja aus. – Doch gehört ein wohltrainierter Apparat von Streck- und Beugemuskeln dazu, wenn sie wirksam werden sollen. Mich strecken? Wozu. Und mich beugen? Nein. Wie er sich auch dreht und wendet vor seinem hohen Spiegel, sich beinahe schlangenmenschartig verbiegt: Er kann das Loch nicht sehen, das als Königsweg der Karriere gefeiert wird. Erst wie er dem Spiegel den Rücken zukehrt und sich ganz tief runterbeugt und durch seine gespreizten Beine äugt, sieht er es. Und erschrickt: so eng. Und so gebückt zu arbeiten, nein, das scheint ihm auf die Dauer doch zu anstrengend. Zudem, überlegt er, lacht er sich selbst aus: Ich bin ja viel zu lang; kaum bin ich meinem Chef richtig hinten reingekrochen, hänge ich ihm schon zum Hals raus.

      Nein, er macht es sich nicht leicht, der neue Mitarbeiter in der Senatskanzlei. Dabei sind die Verhältnisse, in die er hineingeraten ist, auch ohne sein Sichwinden in Gedanken, Worten und vor dem Spiegel schon kompliziert genug. Bei ihrer Regierungs- und Verwaltungsarbeit verwechseln die Rathäusler meist energisch mit energieaufwendig. Das kann er nicht leiden. Da muß er gegensteuern. Nur stiekum natürlich. Also das Licht ausmachen, das die Kollegin angelaßen hat, die Heizung abdrehen, die der Kollege auf Dienstreise seinem leeren Schreibtischsessel bietet, und beim Händewaschen sich den Warmwasserhahn verkneifen, nicht mehr als zwei Blätter Papier zum Händetrocknen verbrauchen. Gelobt sei, was hart macht. Wenn mich einer dabei ertappen würde, weiß er, wäre ich gleich als Grüner abgestempelt. Sollen sie mich doch lieber weiter für einen Rechten halten, die lieben linken Kollegen. Für die rechte Führungsclique bleibe ich zum Ausgleich als ein Linker suspekt. Pardon, es ist schon ein Kreuz mit den Parteiabstinenzlern.

      Sollen sie von mir halten, was sie wollen. Ich jedenfalls weiß jetzt, daß die Grünen keine Linken sind, wie immer wieder in diffamierender Absicht wird. Das zeigt sich ganz klar an ihrer undifferenzierten Menschenbewertung. Habe ich doch gelesen, daß ihnen jeder, den sie in ein Parlament schicken, einen Facharbeiterlohn wert ist. Diese prokrustische Gleichmacherei hat nichts, aber auch gar nichts gemein mit der verkrusteten Rangordnung der wahren Linken, auf die wir nebenan in der DDR treffen. Die linken Machthaber dort verkaufen uns einen Gefangenen, der Facharbeiter ist, für 40 000 DM, einen Ingenieur oder ähnlich qualifizierten Akademiker können wir für 100 000 DM freikaufen, aber einen Professor nicht für unter 150 000 DM, während Rentner kostenlos abgegeben werden. Um die Kosten der Lager-Haltung zu minimieren.

      Aber was habe ich mit grün oder links zu tun? Ich bin weder das, noch dies, noch jenes oder solches. Aber mit den Parteileuten habe ich zu tun. Und mit denen ist es erst recht ein Kreuz. Die mit ihrem generellen Handlungsprinzip: Meine Interessen gegen eure Interessen und das Interesse der Allgemeinheit immer auf den Lippen, aber hier ausnahmsweise einmal hintangestellt, ganz ausnahmsweise natürlich. Immer so. Dieser lästige Zweifel, der Orpheus packt, wenn er seine Arbeit tut, also gerade so richtig funktioniert: Bin ich hier richtig? Von wegen Hand am Puls, offenes Ohr, dem Volk aufs Maul schauen ... und dann gezielt etwas für Berlin tun, für die von der Nachkriegsgeschichte besonders gebeutelten Berliner. Vielleicht ja doch. Da heute der sogenannte gemeine Mann nicht mehr der Mann auf der Straße ist, überlegt er, muß ich ihn da suchen, ihn mir da ansehen, wo er zu finden ist: Der sogenannte gemeine Mann ist heute Büromensch.

      Also wären die Büromenschen meine Zielgruppe, folgert er. Und nimmt sie gleich ins Visier: Es sind ja gar nicht die kleinen Vorteile – Kalender und Kugelschreiber und all die Zeitungen und Zeitschriften, die kostenlosen, die Presseübersichten dazu und diverse Informationsdienste –, was diese Tätigkeit am Hofe so angenehm macht. Auch die gelegentlichen Essen auf Einladung oder auf Spesen und die paar netten Besucher, selbst hin und wieder mal kleine Dienstreisen sind es nicht. Orpheus Schmitt kommt allmählich dahinter, daß seine Kollegen im Rathaus Schöneberg durchaus geistigen Genüssen frönen: Dieses Sofort-Reagieren-Können auf ständig wechselnde Fragestellungen, Aufgaben und Probleme, dieses Den-Durchblick-Haben und dieses Entscheidungen-Treffen, auch das Geizen mit sogenanntem Herrschaftswissen, das sind die Genüsse, die hier geboten werden. Zu wissen, was zu tun ist, und es sofort veranlassen zu können, das ist ein Knopfdruck-Glück, das den Vorzug hat, alles abzudecken, die lähmende Langsamkeit der Uhr wie das erschreckend schnelle Wegschmelzen des Kalenders. Aber gute Zeiten haben ihre eigene Not, kann Orpheus seinen Kollegen ansehen. Je besser das Leben, um so größer die Angst, es zu versäumen, und um so verkrampfter der Griff an alle Brüste der Glückseligkeit. Der Ausdruck Verflachung wäre hier fehl am Platz, korrigiert er seinen ersten Eindruck. Da kriegen subalterne Beamte spätrömische Genießerbacken, und König Faruks neuägyptische Leibesfülle drückt Bürostühle. Der rundum beklagte zu hohe Blutdruck ist für Orpheus ein neues Thema, aber ganz klar ein Thema, das sich hören lassen kann.

      Fast so prestigeträchtig, wie die Erörterung des Unterschieds zwischen Malt Whisky und Blended Whisky. Im Paternoster, wo Schmitt zufällig mit Vogel zusammengetroffen ist. Auf der Fahrt nach unten. Wie kommt der Mann nur auf Whisky in diesem schnöden Kasten, diesem Bürokratenbagger, der unermüdlich sein Auf und Ab vorführt, als ob er uns was zu sagen hätte. Vielleicht das: hier geht’s rund und führt doch zu nichts. Ein Service, so brauchbar wie lächerlich. Wie meine Arbeit hier. Whisky, Whisky, ja, so muß man es machen: aus dem Stand heraus ein Thema ins Gespräch bringen, das einen wachsen läßt. Wenn es auch nach unten geht. „Man bekommt ihn ja kaum noch irgendwo vorgesetzt, den richtigen Malt“, hört Orpheus aus Kollegenmund. Dann folgen Aufzählung und kritische Würdigung der teuersten Restaurants Berlins. Eine Feinschmeckerzunge leckt genießerisch die Lippen. Leckt sie den Aktenstaub ab? Darüber wird es dunkel, die Whiskykiste schiebt sich zur Seite, fährt in die Unterwelt. Was das Hohelied aus Vogels Mund auf den Whisky nicht stoppen kann. Dunkel. Noch nie bin ich im Paternoster untendurch gefahren, überlegt Orpheus. Und kann doch das leichte Erschauern nicht ungestört genießen. Schon hebt sich das Gefährt wieder, es wird hell, vor ihnen der Parterreflur, fast gleichzeitig springen sie hinaus. Abgang in verschiedene Richtungen.

      Kein vernünftiger Mensch fährt untendurch, überlegt Orpheus. Kein Bedarf für besondere Erlebnisse. In dieser „Mahlzeit“-Gesellschaft gilt nur die schnelle und bequem erreichte Beförderung. Natürlich, die Beförderung ist es. Dabei fährt der Paternoster nicht nur nach oben. Ich fahre auch gern nach unten. Weil ich gern auf den freien Kasten von oben warte. Wegen der optischen Faszination: zuerst Füße, dann Beine, dann Hände und Taschen und Papiere, und erst zuletzt die Köpfe sehen zu müssen, diese belanglosen Köpfe. Und schon sind sie weg. Ein Brett schiebt sich vor den Kopf. Und neues Spiel, neues Glück. Dagegen nebenan die von unten, die Hochfahrenden, wie sie scheinheilig die Augen nach oben verdrehen, sich vor einem erheben, über einen hinauswachsen und dafür ruck-zuck geköpft werden, Stück für Stück weiter abgesäbelt bis zu den Füßen. Das zu sehen, dafür muß man in der richtigen Stimmung sein.

      Schon ein toller Typ, dieser Vogel, muß Orpheus sich zugeben. Womit er dem Kollegen allein aufgrund seiner Genußfähigkeiten eine gute Note gegeben hat. Der altgediente Regierungsdirektor, ein Aufsteiger aus dem gehobenen Dienst mit routiniertem Kitekatlächeln und ein wenig rausgedrücktem Steiß – vom vielen Duckmäusern –, der in der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit eine Art Erster-Offizier-Rolle spielt, erregt schon durch seine Nase Dr. Schmitts besonderes Interesse. Eine Victory-Nase, beste deutsche Handarbeit trotz dieses angelsächsischen Namens. Die Typenbezeichnung leitet Orpheus ab von dem V, das sich auf dem unteren Teil des Nasenrückens abzeichnet. Wie bei Barbra Streisand. Jahrzehntelange


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