Die Schäferin von Yorkshire. Amanda Owen

Die Schäferin von Yorkshire - Amanda Owen


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ein altes viktorianisches Gebäude, nur einen kurzen Fußweg von zu Hause entfernt. Da es eine multikulturelle Schule war, wuchs ich mit asiatischen und farbigen genauso wie mit weißen Freunden auf. Mit sieben wechselte ich zur Stile Common Junior School, mein Freundeskreis blieb aber derselbe.

      Als ich sechs war, wurde meine Schwester Katie geboren, ein Ereignis, an das ich mich nur sehr unscharf erinnere. Was ich hingegen noch in sehr guter Erinnerung habe, ist der Geheimtrick, mit dem ich Katie beruhigen konnte, wenn sie quengelig war. Dann griff ich durch die Stäbe ihres Kinderbetts, klaute ihr den Schnuller aus dem Mund und flitzte hinunter in die Küche. Wenn ich mich auf den Deckel des Eimers stellte, in dem Katies Windeln zum Einweichen lagen, konnte ich den Honigtopf erreichen und den Schnuller hineintauchen. Beim Herausziehen blieb ein dicker, klebriger Honigklumpen daran kleben, und diesen Honigschnuller stopfte ich ihr dann wieder in den Mund. Meine Mutter dachte tatsächlich jedes Mal, ich hätte eine besondere, magische Gabe, um Kleinkinder zu beruhigen. Es war aber natürlich nur eine Frage der Zeit, bis der ganze Schwindel aufflog: Eines Tages gab der Deckel des Windeleimers nach, der Inhalt ergoss sich auf dem Küchenboden und der Geruch von Bleichmittel durchzog das ganze Haus.

      Mein Vater war Ingenieur und arbeitete in dem renommierten Unternehmen David Brown, das Traktoren und Militärfahrzeuge produzierte. Jede freie Minute verbrachte mein Vater in unserer Garage, denn seine große Leidenschaft war das Reparieren von Motorrädern. Er hatte die Begabung und das Knowhow, alles reparieren zu können, was ihm in die Finger kam: von der Wurstmaschine aus der Fabrik bis hin zur Kühlanlage unseres Supermarktes.

      In der Familie meines Vaters hatten alle jungen Leute Motorräder und dazu eine große Pokal-Sammlung von Straßen- und Geländerennen. Mein Vater hatte jede Menge Motorräder, ein paar zum Fahren und ein paar in Einzelteilen. Sein ganzer Stolz war eine Honda mit metallic-blauer Lackierung, mein Favorit hingegen war eine Norton-Straßenmaschine. Die hatte einen breiten, viereckigen Sitz, auf dem ich mich als Sozius ganz sicher fühlte. Ich klammerte mich eng an meinen Fahrer, die Arme um seine glatte, speckige Belstaff-Motorradjacke geschlungen. Mein Vater fuhr sehr vorsichtig, wenn ich dabei war – wahrscheinlich auf Anweisung meiner Mutter, die stets um meine Sicherheit besorgt war. Früher oder später musste es aber dann doch passieren: Ich war acht oder neun, als ich rückwärts von einem Geländemotorrad stürzte. Das war in Post Hill, in der Nähe von Leeds, auf unwegsamem Gelände mit Wald, Wasserläufen und Steinbrüchen, einer Strecke, auf der die Motorradfahrer ihr Können testen. Geländemaschinen sind nicht fürs Fahren zu zweit geeignet und als mein Vater damals versuchte, eine steile, steinige Steigung zu erklimmen, vergaß er wohl, dass ich hinten drauf saß, auf dem Sozius über dem Schutzblech. Erst als er die schwierige Stelle geschafft hatte, blickte er sich um und sah eine kleine Figur mit einem übergroßen Sturzhelm, weit unten, verzweifelt winken. Meine Würde war stärker verletzt als mein Körper.

      Wenn man meinen Vater suchte, musste man einfach in die Garage gehen. Hätte er die Wahl gehabt, so hätte er liebend gern dort gewohnt. Für meine Mutter hatte er eine Sprechanlage installiert, damit sie ihn ins Haus rufen konnte. Katie und ich verdienten uns ein Taschengeld, indem wir die Metallspäne unter den Drehbänken und Werkzeugmaschinen zusammenfegten. Mein Vater war der Mann, den man aufsuchen musste, wenn Präzisionsarbeit gefragt war; er hatte eine unbeschreibliche Geduld und half jedem, der irgendein technisches Problem hatte. Es gab Tage, an denen man morgens beim Öffnen der Haustür einen Auspuff oder eine ölige Kurbelwelle auf der Türschwelle fand und kurz danach sah man meine Mutter wie wild die Stufe schrubben, um die Ölflecken wieder wegzukriegen. Schnell lernte ich, Pleuelstangen von Vergasern zu unterscheiden und Kolben von Kurbelwellen.

      Vater hatte als Motorradmechaniker eine schillernde Kundschaft: Einmal kam eine Schar ledergekleideter Hell’s Angels auf ihren röhrenden Harleys, um diese nach ihren individuellen Wünschen frisieren zu lassen. Besonders ist mir eine auffällige, pinkhaarige junge Motorradfahrerin mit Namen Toyah in Erinnerung geblieben. Meine Mutter war nicht so begeistert von ihr wie mein Vater. Diese Toyah schenkte mir ein schwarzes, Ripped-T-Shirt, mit Löchern, und der Aufschrift THE PISTON BROKE CLUB, das ich ganz stolz trug, bis meine Mutter realisierte, was das überhaupt hieß – Kolbenbruch. Danach verschwand das Shirt ganz schnell auf einem Haufen ölverschmierter Lumpen in der Garage. Mein Vater hatte nur ein großes Problem: er war einfach zu gutmütig. Einige Kunden bezahlten ihn für seine Arbeit, andere waren weniger entgegenkommend. Sehr oft nahm er Arbeiten an, die andere Mechaniker abgelehnt hatten, er liebte solche Herausforderungen.

      Meine Mutter war das genaue Gegenteil dieses ölverschmierten Tüftlers, sie war sehr elegant. Sie hatte Vater als Angestellte im Büro des Traktorunternehmens David Brown kennengelernt. Nebenberuflich verfolgte sie aber auch noch eine Karriere als Model und gewann – vor ihrer Heirat und den Kindern – bei Schönheitswettbewerben einige Preise und Titel. Es war die Zeit von Twiggy, und da Mutter sehr groß und schlank war und auch dieses knabenhafte Aussehen hatte, entsprach sie perfekt dem Modegeschmack der Zeit. Sie hatte wunderschöne Sachen zum Anziehen, von denen einige auf dem Dachboden einstaubten und andere in einer Kostümkiste landeten, darunter Ponchos, Schlaghosen und ein prächtiger Samtumhang. Diese Sammlung nutzten Katie und ich zum Verkleiden. Besonders ist mir ein Paar silberner Schaftstiefel in Erinnerung geblieben, die Mutter für ein Foto-Shooting anhatte. Diese Stiefel waren unser größter Schatz, und wir Schwestern lieferten uns heftige Kämpfe darum, wer sie tragen durfte. Ich wünschte, Mutter hätte mehr von ihren Kleidungsstücken aufbewahrt. Viele wären heute sicher sehr wertvoll und außerdem wäre es ein großer Spaß, sie noch einmal rauszukramen.

      Vater und Mutter waren beide sehr groß: Vater war 2,06 m und Mutter 1,82, sodass es kein Wunder ist, dass Katie und ich auch ziemlich groß sind. Ich bin 1,88, war immer die Größte und hatte auch leider immer die größten Füße der Schule, von der ersten Klasse an.

      Alle vier Großeltern lebten bei uns in der Nähe, im Umkreis von einer halben Meile. Die Eltern meines Vaters, Großmutter und Großvater, waren begeisterte James-Herriot-Fans. James Herriot war der Tierarzt in den Yorkshire Dales, der Der Doktor und das liebe Vieh (All Creatures Great and Small) geschrieben hat. Ich habe als Kind alle Folgen der Serie im Fernsehen gesehen und im Haus meiner Großeltern war ein Regal voll mit seinen Büchern, die ich irgendwann alle gelesen hatte. (Hier schließt sich, wie so oft, der Kreis: Nach Ravenseat kommen jetzt Besucher aus den USA, Kanada und Japan, die ebenfalls James Herriot-Fans sind. Sie möchten die Orte aus den Büchern aufsuchen und eine Farm besuchen, die noch ungefähr so aussieht wie die Farm, die James Herriot beschrieben hat – in den 40er und 50er Jahren.)

      Die Eltern meines Vaters waren ein bisschen wohlhabender als die meiner Mutter, und hießen unter Freunden nur Nana und Ganda. Beide Großväter hatten wirklich praktische Berufe: Mutters Vater arbeitete bei einem Bushersteller und später als Lastwagenfahrer, während mein anderer Großvater eine gute Stelle beim Elektrounternehmen Philips hatte.

      Als ich elf war, kam ich auf die Newsome High School, eine riesige Gesamtschule mit mehr als tausend Schülern, angeschlossen war noch eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung und für Taube. In dieser Schule trafen sich Kinder vieler verschiedener Nationalitäten und sozialer Schichten. Ich erinnere mich, dass mal die Polizei aufs Schulgelände kam und während des Kunstunterrichts einen Jungen festnahm. Er hatte offensichtlich die Mittagspause dazu genutzt, Autoradios zu stehlen. Ich war nicht wirklich eins von den coolen Mädchen dort, ich riss keinen vom Hocker. Ich war keine von denen, die den letzten Schrei an Klamotten oder Schuhen trugen. Das Geld war knapp und die neuesten Turnschuhe waren einfach nicht drin. Ich wurde zwar nicht gemobbt, versuchte aber immer, so unauffällig wie möglich zu bleiben. Ich wollte einfach kein Aufsehen erregen, weder positiv noch negativ. Ich hatte sehr viele Freunde, die meine Leidenschaft für A-Ha und Madonna teilten, außerdem war ich – etwas beschämt gebe ich es zu – eine Brosette, d. h. ein Fan der schaurig aussehenden Goss-Zwillinge, deren Popband Bros hieß. Zum Glück gab es zu jener Zeit auch Modetrends, die nicht viel kosteten: Netz-Tops, von Madonna getragen und von uns ›Teebeutel-Tops‹ genannt zum Beispiel, die man recht billig auf dem Markt erstehen konnte. Außerdem verbrachten wir viele glückliche Stunde damit, die Container hinter dem Fountain Pub zu durchstöbern, um Grolsch-Flaschenverschlüsse zu finden, die wir an unseren Schnürschuhen festmachten. Wenn wir modemäßig auch nicht immer top waren, so waren wir aber auch nicht ganz out.

      In der Schule


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