Die Schäferin von Yorkshire. Amanda Owen

Die Schäferin von Yorkshire - Amanda Owen


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Ereignisse, die wichtiger waren als meine Karriere.

      Ich war damals 18 Jahre alt, als mein Vater starb. Jahrelang hatte er geglaubt, ein Magengeschwür zu haben, und bekam Gaviscon verschrieben, ein Antazidum gegen Verdauungsstörungen. Als die Schmerzen schließlich unerträglich wurden, veranlasste der Arzt weitere Untersuchungen und es wurde Magenkrebs festgestellt. Zu dem Zeitpunkt war er schon sehr krank und konnte nicht mehr arbeiten. Schließlich kam die Zeit, als er noch nicht einmal mehr an seinen geliebten Motorrädern herumbasteln konnte. Das war das Schlimmste für ihn. Es war herzzerreißend zu sehen, wie er die Räder wegräumte und die Ersatzteile katalogisierte, die Garage, Keller und Dachboden füllten. Ich konnte zwar Kurbelwellen von Pleuelstangen unterscheiden, aber er hatte über viele Jahrzehnte Unmengen an Einzelteilen angehäuft und um zu verhindern, dass wir nach seinem Tod von irgendwelchen skrupellosen Händlern übers Ohr gehauen wurden, machte er eine detaillierte Liste davon. Wir mussten ihm versprechen, niemals seinen Kompressor zu verkaufen, alles andere versuchte er bei Motorradfans loszuwerden. Meine Mutter arbeitete zu der Zeit in der Schulkantine und sie musste ihren Job aufgeben, um für ihn zu sorgen. Katie war damals zwölf Jahre alt und es war für uns alle eine sehr schwere Zeit. Ich war bei ihm, als er starb. Er war zu Hause und stand seit Tagen unter Morphium. Mich verfolgt dieser Moment immer noch, es war solch ein irreales Erlebnis, es war, als ob ich es nicht wirklich selbst erlebte: all die Formalitäten und praktischen Dinge, die geregelt werden mussten, den Arzt und den Bestatter anrufen, und dann das Schlimmste, die Großmutter aufsuchen, um ihr zu sagen, dass ihr Sohn gestorben sei. Ich wollte eigentlich nicht zur Beerdigung gehen, aber meine Mutter bestand darauf. Der zweite Konflikt folgte auf dem Fuß:

      »Du gehst nicht in deinen Gothic-Sachen dorthin.«

      »Vater kennt mich nur so, und alle gehen in Schwarz. Wo ist das Problem?«

      Seitdem habe ich Beerdigungen gehasst, und ich gehe auch nur sehr selten hin.

      Was meinen Job angeht, so versuchte ich erst mal, keine Pferde scheu zu machen und alle Zukunftssorgen für mich zu behalten. Meine Mutter hatte schon genug am Hals.

      Mir wurde klar, dass mein Wunsch, auf einer Farm zu arbeiten, bedeuten würde, Huddersfield verlassen zu müssen. Ich wollte nicht für die kommerziellen, industriellen Farmen arbeiten, kurz, ich wollte mehr Weiden und weniger Ställe. Natürlich könnte man sagen, ich hätte eine sehr romantische Vorstellung von meinem Arbeitsplatz, aber ich war mir sicher, dass es Stellen gab, wo Hund und Stab die Hauptrolle spielten und nicht elektronische Messgeräte und Trockensubstanzen. Es war allerdings noch nicht die passende Zeit, von zu Hause wegzugehen, so kurz nach Vaters Tod.

      An einem typischen, grauen, regenverhangenen Tag im Spätherbst kam ich mit dem Bus von der Arbeit und lief, wie gewöhnlich vor mich hin summend, durch das Zentrum von Huddersfield. In der Haupteinkaufsstraße, wo die Leute wie immer einen großen Bogen um mich machten, kam ich am Strawberry Fair vorbei, einem dreistöckigen Porzellan- und Geschenkeladen an der Ecke Byram Arcade. Ich war schon oft dort vorbeigegangen, um eine Etage höher in einem Vintage-Laden vorbeizuschauen, wo zwei Punkerinnen grunge-style Mode verkauften: alte Kleidungsstücke, die sie secondhand gekauft und dann selbst umgearbeitet hatten. Dies war während meiner Gothic-Zeit mein Lieblingsgeschäft, genauso wie nebenan der Plattenladen Dead Wax Records, wo ich viele Regennachmittage damit vertrödelte, die Plastikkisten voller abgegriffener Alben zu durchwühlen. Strawberry Fair war ein Nobelladen und bis dahin nicht auf meinem Schirm. Im Schaufenster standen polierte Silber- und Glaswaren mit zartem Dekor, in der Verkaufshalle hing ein glitzernder Kristallkronleuchter und smarte Verkäufer schwebten zwischen Waren und Kunden hin und her. An der Tür hing ein Schild: VERKÄUFER/IN GESUCHT. IM GESCHÄFT NACHFRAGEN.

      Ein Gedankenblitz schoss durch meinen Kopf: Sollte ich mal etwas ganz anderes ausprobieren, eine konventionellere Arbeit? Dieser Gedanke bekam durch die Kombination verschiedener Faktoren Nahrung: den beginnenden Winter, die unbarmherzige Schufterei auf der Farm, sowie das Gefühl, jetzt nach Vaters Tod mehr Verantwortung übernehmen zu müssen.

      Bevor ich auch nur die Chance hatte, meine Gedanken richtig zu ordnen, steckte eine Frau ihren Kopf aus der Tür und sagte: »Sind Sie an der Stelle interessiert? Wenn ja, können Sie sich sofort beim Chef vorstellen. Philip ist gerade im Lager.« Überrascht über mich selbst ließ ich mich hereinbitten, zeigte aber auf meine schlammigen Gummistiefel. Betreten nahm ich den beigefarbenen, dicken Plüschteppich wahr, doch mein Vorschlag, die Stiefel vor der Tür stehen zu lassen, stieß auf taube Ohren. Irene, die Verkäuferin, nahm mich mit nach hinten und eine Treppe hinunter. Ich fühlte mich wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen, als ich mir – nach Kuhstall riechend – vorsichtig meinen Weg durch die Glasvitrinen mit Lladró-Schmuckstücken und feinem Keramikservice bahnte. Im Gespräch mit Philip antwortete ich ganz ehrlich, dass ich den Job nur vorübergehend brauchte und Verkäuferin keineswegs mein Berufsziel wäre. Ich glaube, er fand mich etwas merkwürdig, ahnte aber, dass ich zuverlässig und hart arbeiten konnte und, wie es aussah, schien er dringend jemanden zu suchen, denn er sagte: »Wenn Sie den Job möchten, haben Sie ihn.«

      Am nächsten Tag informierte ich den Farmer, dass ich nicht mehr käme. Er war nicht besonders besorgt, denn es gab eine Menge junger Leute, die Arbeit suchten. Ich war sicher leicht zu ersetzen. Feierlich verbrannte ich die stinkenden Hosen und wurde urplötzlich zum Inbegriff von Frische und Eleganz: in engem Rock, frischer weißer Bluse und den verhassten Barratts-Pumps – jetzt hatten sie mich doch erwischt.

      Erstaunlicherweise fand ich Gefallen an dem Job. Meine neuen Kollegen, eine freundliche, respekteinflößende Truppe, duldeten keine Flausen. Schnell lernte ich die wichtigsten Verkaufsfloskeln und Sprüche und wurde schon bald Expertin in der Kunst, Leute zum Kaufen zu bewegen. Noch immer war ich perplex über die Dinge, die ich verkaufen musste. Ich arbeitete in der Haushaltsabteilung, wo gutbetuchte Damen und Herren sich ihre Hochzeitslisten zusammenstellten. Sie zerbrachen sich den Kopf über das Design des Bestecks, die Farbe der Eierbecher und die Frage, ob sie einen Fischkessel brauchten oder doch besser ein Fondue-Set. Ich nickte zustimmend, wenn wir die Vorzüge eines Tellers mit 24 cm Durchmesser gegenüber einem mit 27 cm Durchmesser diskutierten, und ich dachte für mich: Wie verdammt unnütz ist das alles?

      Schon die Preise: Hunderte Pfund für gusseisernes Küchengeschirr, Tausende Pfund für die exklusiven Geschenkkisten aus Holz, gefüllt mit glänzend poliertem Besteck. Es gab viele verschiedene Ausführungen von Gabeln, Löffeln und Messern und ich hatte nicht die leiseste Ahnung, wofür einige von ihnen gut waren: Apostellöffel, Salzlöffel, Teemaßlöffel! Ein Besteckhersteller gab mir einmal eine Lehrstunde im Eindecken der Tische bei offiziellen Empfängen, damit ich einen fachkundigen Eindruck machte. Lächerliche Summen wurden für Vasen oder Porzellanfiguren bezahlt. Das alles war ein großes Mysterium für mich. Ein wichtiges Teil aus dem Laden habe ich aber dann doch für mein späteres Leben gebrauchen können.

      Es gab in dem Geschäft einen großen, schwarzen, gusseisernen Topf mit Deckel, ganz versteckt in der Ecke; er wog bestimmt eine Tonne und wurde nur ›Gänsetopf‹ genannt. Ich musste ihn regelmäßig abstauben, benutzte ihn zum Draufsteigen, um an die Pfannen oben im Regal zu kommen, und hatte mich damit abgefunden, ihn niemals verkaufen zu können. Ausnahmsweise schien ich einmal recht zu behalten, niemand wollte ihn haben. Doch dann, eines Tages, am zweiten Weihnachtstag, hatten wir einen großen Ausverkauf, und eine Dame aus Jamaica betrat den Laden. Sie kaufte den Topf zu einem deutlich reduzierten Preis und erzählte mir, sie habe eine große Familie und könnte jetzt erfreulicherweise mindestens zwei ganze Hühner darin kochen. Ich habe mir selbst mittlerweile auch solch einen Topf gekauft, für den großen schwarzen Herd mit offener Feuerstelle auf unserer Farm. Ich liebe diesen Ofen im Winter, er ist ökonomisch, wärmt das Haus, trocknet die Wäsche, heizt das Wasser und kocht das Essen. Er lässt uns auch bei Stromausfall nicht im Stich. Das einzige Problem ist, dass der Essensgeruch das ganze Haus erfüllt, den Appetit anregt und die Kinder so hungrig macht, dass sie viel mehr essen als sonst.

      Im Geschäft, bei Strawberry Fair, hatte ich ja von Anfang an ehrlich gesagt, irgendwann wieder zurück auf eine Farm zu wollen. Ich genoss meinen kurzen Abstecher in die ›geregelte, zivilisierte Welt‹, ich war da, wenn meine Mutter und Katie mich brauchten, doch das Farmleben war und blieb meine wahre Liebe. Ich kaufte mir die Farmzeitungen Farmers Guardian und Farmers Weekly und brütete über den Stellenanzeigen.


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