#Fatboysrun. Philipp Jordan

#Fatboysrun - Philipp Jordan


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wehrte sich vehement gegen die One-Night-Stand-Regel – und brach sie auch regelmäßig. Später habe ich eine Reise ins andere Extrem genommen und mich wegen meines Drogenkonsums oft zitternd und schwitzend über einer Kloschüssel wiedergefunden, um das letzte bisschen Flüssigkeit in Form von bitterer Galle ins Abwasser zu spucken. Warum konnte ich nicht gemäßigt konsumieren? Warum musste es erst der komplette Verzicht sein – und später der ungezügelte Konsum?

      Viele Menschen schüttelten schon den Kopf über mich und mein Verhalten, von manchen erntete ich aber auch Bewunderung. Augenscheinlich polarisiere ich. Vermutlich ist mein Motor anders getaktet. Ich habe Ausdauer wie ein Duracell-Häschen. Ich kann reden wie ein Wasserfall. Insofern bin ich oft extrem in meinem Sein und Tun. Ich mag die Bezeichnung »extrem« eigentlich überhaupt nicht, auch wenn sie manchmal den Nagel auf den Kopf zu treffen scheint. Ich ziehe eine andere Formulierung vor: Ich kann mich mit absoluter Leidenschaft und Hingabe in Sachen verlieren. Oder mich auch gern mal kopfüber hineinstürzen – mit Anlauf und hochgekrempelten Ärmeln. Wenn ich an etwas Gefallen finde, kann ich einen schier unstillbaren Durst entwickeln. Das kann in völlig verschiedene Richtungen gehen und entweder sehr willkommene Früchte tragen oder mich ins Unheil stürzen. Eines Tages entdeckte ich das Laufen. Ich entdeckte es wieder. Wieder, weil ich als Kind schon mit meinem Vater und meinem Bruder lief. Aber als Jugendlicher gibt es nichts Uncooleres, als das zu tun, was der eigene Vater tut. Auf einmal war da etwas, das eigentlich die ganze Zeit vor meiner Nase war, das wie die Antwort auf alle meine Fragen wirkte: das Laufen. Das Ultralaufen. Auch hier ist das »Mehr« Programm. Hier schaffe ich es endlich, meinen Motor an seine Grenzen zu bringen. Hier kann ich endlich ein inneres Gleichgewicht finden. Ich war schon immer süchtig nach mehr. Nach vielem Suchen habe ich mein perfektes Mehr gefunden.

      Denn:

      »As far back as I can remember,

      I always wanted: MEHR!«

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      Da ist er also. Der letzte Tag. Die letzte Etappe. Wie an jedem Morgen der vergangenen 14 Tage, packe ich auch heute meine große Tasche und zurre sie auf dem Ziehwagen fest, den ich mir um die Hüfte schnalle. Es hat etwas Festliches. Wir sind eine Einheit geworden, dieser Ziehwagen und ich. Wir haben uns kennengelernt. Miteinander leben gelernt. Ab und zu hatten wir auch Differenzen, aber ich hätte es nie ohne ihn geschafft. Er ohne mich übrigens noch viel weniger. Fast 700 Kilometer lang dauerte unsere Freundschaft, und jetzt ist es Zeit für unser letztes Rendezvous. 700 Kilometer zu Fuß, von Utrecht bis nach Karlsruhe. Von meinem neuen Zuhause zu meinem ehemaligen Zuhause. »Home2Home« habe ich die Aktion getauft. Und das Ganze für einen guten Zweck.

      Wenn ich die Zeit fünf Jahre zurückspule, ist das alles absolut surreal. Hätte man dem auf der Couch hängenden Fettsack von damals erzählt, er würde mal zwei Wochen lang jeden Tag fast nur laufen, hätte er laut gelacht. Und wäre wahrscheinlich schon allein dadurch ins Schwitzen geraten. Ich, ausgerechnet ich! Ich war zwar immer ein bewegungsfreudiges Kerlchen, aber ich war auch nie ein Athlet. Ich war nie, auch nicht ein einziges Mal, irgendwo Erster. Ich war nie dieser disziplinierte und ehrgeizige Sportstyp. Und nach der Geburt unserer Kinder bin ich zudem geschwollen! Am ganzen Körper! Als ob ich meiner Frau den Schwangerschaftsbauch nicht gegönnt hätte. Ich musste wohl auch einen haben. Ich hatte mich beinahe aufgegeben. Ein Marathon? Nie im Leben! Und jetzt stehe ich hier am Ende dieses selbst gemachten Laufabenteuers. Am Ende dieser völlig verrückten Challenge, von der ich nie wusste, ob ich mich da nicht völlig übernommen hatte.

      Es ist ein großer Moment für mich, dennoch bin ich seltsam verhalten und nur ein wenig aufgeregt. 37 Kilometer liegen noch vor mir, in 37 Kilometern erreiche ich das Ziel, den Ludwigsplatz im Herzen Karlsruhes. Die heutige Etappe ist eine kurze Etappe, am Tag zuvor lief ich sogar nur 25 Kilometer. Ich wäre am liebsten bis Karlsruhe durchgelaufen, aber ich hatte mich für heute mit meinem Trainer und Podcast-Partner Michael Arend verabredet. Er ist extra mitten in der Nacht aufgestanden und aus dem Allgäu hergefahren, um mich ein Stück auf dem Rad begleiten zu können. Er hat großen Anteil daran, dass ich es ohne Probleme bis hierhin geschafft habe. Intervalltrainings mit Umfängen bis zu 21 Kilometern. Mit Ziehwagen. Einen Kilometer schnell, einen Kilometer gemütlich. An anderen Tagen fünf Stunden am Stück mit voll bepacktem Wagen in ruhigem Tempo laufen. Der alte Folterknecht! Aber wie bei einem bösartigen Nachhilfelehrer, der einen stundenlang Mathe büffeln lässt, während die anderen Kids draußen spielen, ist man im Nachhinein dankbar.

      Der gestrige Tag war todlangweilig. Germersheim ist eine Kleinstadt in der Pfalz. Sie schafft den Spagat zwischen Idyll und Arsch der Welt vorbildlich. Da ich recht früh ankam, habe ich die Stadt ausführlich erkundigt. Ein paar Supermärkte, Restaurants und ein paar kleinere Geschäfte. Das war’s. Womit Germersheim allerdings wirklich hoch punktet, ist die Anzahl der Eisdielen. Drei an der Zahl, alle in 15 Minuten erlaufbar. Eine hat sogar eine eigene Karte für Spaghettieis. Achtung, Spoiler: Bis auf die klassische Variante ähnelt optisch keine Kreation einem regulären Pastagericht. Über den Tag verteilt testete ich alle Eisdielen, und ich bewegte mich nahe an der Kotzgrenze.

      Das Hotel, in dem ich die Nacht verbracht habe, ist in den 70er-Jahren stehen geblieben. Vielleicht funktionierte schon damals das in den Bettkasten eingebaute Radio nicht. Jetzt gibt es auf jeden Fall keinen einzigen Ton von sich. Auf dem Tisch steht tatsächlich ein Aschenbecher. Es scheint, als hätte dieser seine Daseinsberechtigung, denn die kleine Tischdecke hat ein Brandloch. Vielleicht stammt die Decke aber auch aus den 70ern. Vom Style her würde es passen. Auf der Kommode steht ein altes Telefon. Scheinbar nur zur Zierde, denn auch das funktioniert nicht mehr. In der Dusche fehlt eine der vier Schiebetüren, und das Handtuch ist ein knallbuntes Handtuch mit einem Comicaufdruck. Meine Vermutung: Hier hat man schon lange aufgegeben, den Anschein eines echten Hotels wahren zu wollen. Auf meiner Reise habe ich sowieso die verrücktesten Unterkünfte besucht. Das passiert, wenn man die Hotels am selben Tag des Bezugs noch schnell auf seiner Karten-App aussucht und keinen Blick auf Rezensionen im Netz wirft. Aber wer 60 Kilometer durch die Hitze gelaufen ist, stellt keine hohen Ansprüche, der empfindet jedes Bett als puren Luxus.

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       HITZESCHLACHT

      VON UTRECHT NACH KARLSRUHE, UND DIE SONNE HATTE SELTEN MITLEID MIT MIR.

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       MAJESTÄTISCHE KULISSE

      LAUFEN MIT ZIEHWAGEN AM RHEIN BEI BONN.

      Ich checke aus und suche auf meiner App den geschicktesten Weg Richtung Rheinbrücke. Ich laufe durch das noch verschlafene Germersheim. Noch verschlafener als tags zuvor. Morgenstund hat Gold im Mund. Es wird wieder ein heißer Sommertag. Bis auf einen Regentag hatte ich nur solche Tage. Okay, es gab doch Unterschiede: Entweder es war heiß und trocken, oder es war schwülheiß. Eigentlich absolut kein Laufwetter, aber ich laufe lieber in der Hitze als in der Kälte.

      Dennoch bin ich während des Runs früh aufgestanden, um die ersten 20 Kilometer noch vor dem großen Hitzeeinbruch hinter mich zu bringen. Warum mach ich das zu Hause nie?

      Als ich die Rheinbrücke überquere, liegt eine Blindschleiche vor mir auf dem Weg. Ich mache ein Foto und gebe mir Mühe, sie so gefährlich wie nur möglich erscheinen zu lassen. Aber meine Fotografie-Skills machen aus dieser Echse ohne Beine keine gefährliche Schlange. Schade. Auf meiner Reise zu Fuß bekam ich viele Tiere zu Gesicht. Das sonderbarste war wohl das Knäuel aus Wiesel und Ratte. Die Ratte habe ich erkannt, und zumindest glaube ich, dass da auch ein Wiesel beteiligt war. Ich wäre beinahe drüber gestolpert und habe irgendetwas gerufen vor Schreck. Wenn es denn ein Wiesel war, bin ich mir ziemlich sicher, dass das Wiesel die Ratte verspeisen wollte und nicht andersherum. Ich werde nie Sicherheit darüber erlangen, welche felligen Wesen da Tango getanzt haben, denn bevor ich das Knäuel fotografieren konnte, war dieses im tiefen Gras verschwunden.

      Auf der anderen Rheinseite laufe ich auf einem Schotterweg direkt am Fluss. Der Rhein und ich sind inzwischen dicke


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