Interlaken. Silvia Götschi
gut gesinnt war.
Sie hatten kaum geschlafen. Im fahlen Licht der Dämmerung waren sie am Montagmorgen aufgebrochen. Mit dem ersten Sonnenstrahl hatten sie die Alpgschwänd erreicht, wo sie seither auf Einlass ins Restaurant warteten.
«Es gibt Leute, die dürfen länger liegen bleiben.» Max konnte es nicht lassen, auf die kurze Nacht hinzuweisen.
«Schlafen kann man, wenn man tot ist.» Fede hüpfte lachend zur alten Seilbahnstation, von deren einstiger Blüte bloss eine verwitterte Hütte übrig geblieben war. «Warum auf einmal so betrübt?»
Max wollte nicht darüber sprechen, nicht über die Gefühle, die seit dem Anruf Achterbahn fuhren. Alles, was er in den letzten vier Jahren verdrängt hatte, brach mit einer solchen Wucht aus den Tiefen seines Unterbewusstseins, dass er wie betäubt die Luft anhielt. Wieder sah er auf das Display und bemerkte, dass Milagros ihn gesucht hatte.
Milagros, seine Mutter, um die ihn viele beneideten. Sie war eine aussergewöhnliche Frau und für ihre über sechzig Jahre sehr unternehmungslustig. Im April waren sie und ihr Lebensabschnittspartner Ralph von einer sechsmonatigen Weltreise zurückgekehrt. Der Erholung nicht genug, hatte Milagros bereits Mitte Juni Ferien in Interlaken gebucht. «Was soll’s?», hatte sie gesagt. «Ich muss nicht arbeiten. Das macht das Geld für mich. Solange ich den Zaster ausgebe, tue ich etwas Gutes für die Wirtschaft.» Und für den Cellisten Ralph, dachte Max. Er wählte Milagros’ Nummer, während er über die alte Seilbahnschneise Richtung Tal sah.
Milagros nahm den Anruf entgegen. «Mi madre, gibt’s dich auch noch?»
«Einen schönen guten Morgen.» So schön empfand Max ihn allerdings nicht mehr. Die Worte des Unbekannten hatten sich wie Speere in sein Inneres gebohrt.
«Das ist er in der Tat. Ich bin schon zehn Runden geschwommen, während du dich wahrscheinlich noch im Bett wälzt.»
Max unterliess es, seiner Mutter über das nächtliche Abenteuer zu berichten. Er liess sie im Glauben, erst erwacht zu sein. Sie hätte ihm sonst Löcher in den Bauch gefragt.
«Ich habe Arbeit für dich», sagte sie.
Er hatte es geahnt. Milagros war ständig darum bemüht, ihm lukrative Fälle zuzuspielen. Selbst auf ihrer Reise rund um den Globus hatte sie es versucht. Physisch war sie zwar Tausende von Kilometern von ihm entfernt gewesen, per Mail oder WhatsApp dagegen immer präsent. Sie hatte ihm auch finanzielle Unterstützung angeboten. Bislang hatte Max es vermeiden können, von Milagros’ Ressourcen zu schöpfen, obwohl sie ihm das mehr als einmal nahegelegt hatte. In der Not könne er immer anklopfen. Sie sehe sich als Teil ihrer GmbH.
«Maximilian?» Sie dehnte «Maximilian» so stark, dass es wie eine Drohung klang.
«Worum geht es?», fragte Max harscher als gewollt. Er lechzte nach Kaffee, und wenn er Fede von der Seite betrachtete, vermutete er, sie könnte vor Hunger fast sterben. Doch Fede untersuchte die von der Sonne verbrannten Balken der alten Bahnstation und schien über etwas nachzudenken.
«Komm nach Interlaken ins Grandhotel Victoria-Jungfrau.» Milagros mit ihrer eindringlichen Stimme. «Hier können wir darüber reden.»
«Kannst du’s nicht am Telefon tun?»
«Stell dir vor, wir würden abgehört! Das ist zu gefährlich.»
«Ein Stichwort?»
«Nein, kann ich dir nicht geben. Es handelt sich um eine heikle Mission.»
Max verkniff sich ein lautes Lachen. Bei ihr war alles heikel. «Glaubst du noch immer, deine Geheimniskrämereien würden mich beeindrucken?»
«Du würdest gut bezahlt. Ich habe eine Juniorsuite für dich und Federica reserviert. Du brauchst nur Ja zu sagen, und du wirst ab der nächsten Nacht wie ein König schlafen.»
«Ich werde es mit Fede besprechen.»
Interlaken. Es war lange her, seit Max den Ort zwischen Thuner- und Brienzersee besucht hatte.
«Das heisst, du nimmst an?» Milagros liess einen Seufzer der Erleichterung vom Stapel.
Max kommentierte es nicht. «Wir hören voneinander, versprochen.» Nachdenklich beendete er den Anruf, während er sich Fede näherte. «Was tust du da?»
«Hast du gewusst, dass man das Alter eines Holzhauses anhand der Jahrringanalyse, der sogenannten Dendrochronologie, bestimmen kann?»
«Wo bist du bloss mit deinen Gedanken?»
Fede wandte sich zu ihm um. «Hat Milagros einen neuen Job für uns?»
«Wie war das schon wieder mit der Jahrringanalyse?» Max liess seinen Blick zum Restaurant schweifen. Jemand hatte Licht gemacht. «Gilt das auch für uns?» Er nickte Richtung Gasthaus. «Ich glaube, die haben jetzt geöffnet.»
«Du hast meine zweite Frage nicht beantwortet.» Fede fuhr mit ihrer linken Hand über die Holzfassade der alten Station. «Könnte älter sein als mein Bauernhaus.»
«Du hast gelauscht.»
«Halbwegs. Sag schon: Worum geht es?»
«Milagros hat für uns eine Suite im Hotel Victoria-Jungfrau reserviert, in Interlaken.»
«Das hört sich verdächtig nach einem neuen Fall an.» Fede schritt neben Max her. Sie hatte sich bei ihm eingehängt. «Weisst du schon Konkretes?»
«Du kennst Milagros. Sie will immer absolut sicher sein, dass wir zusagen, bevor sie mit Details herausrückt.»
«Und lässt uns dabei ins Berner Oberland reisen.» Fede hielt mitten im Schritt inne. «Ins ‹Victoria-Jungfrau› bringen mich keine zehn Pferde. Wir können es uns nicht leisten. Warum musst du immer mit der grossen Kelle anrichten?»
«Ich doch nicht … Milagros lädt uns ein. Aber ich habe nicht zugesagt.»
«Wir nehmen an, da wir den Auftrag brauchen. Übernachten können wir anderswo.» Fede setzte sich wieder in Bewegung. «Sobald wir zu Hause sind, werde ich es mit meinem Mitbewohner Chrigi besprechen und mich um eine Unterkunft in Interlaken kümmern.»
«Es ist Hochsaison. Es wird sicher schwierig sein, ein Doppelzimmer zu bekommen. Im besten Fall in einem Airbnb.»
«Das lass mal meine Sorge sein.»
***
Es hatte einiges an Überzeugungskraft gebraucht, sich für seinen Ford Mustang GT und gegen Fedes Oldtimer Austin Mini durchzusetzen. «Bevor wir unsere Unterkunft beziehen», hatte Max sich verteidigt, «treffen wir Milagros im Hotel. Deine alte Karre wäre wie eine Ohrfeige gegen den Luxus.»
Fede hatte sich nach einigen heftigen Protesten geschlagen gegeben und am Ende ein perfides Lächeln aufgesetzt, dessen Bedeutung Max nicht zu entschlüsseln vermochte. Sie hatten zuerst in Hergiswil und später in Stans das Nötigste eingepackt und waren am Nachmittag aufgebrochen.
Das Nötigste. Fedes Koffer war in Ordnung. Aber was befand sich in ihrer Sporttasche? Max hatte nicht gefragt.
Bis zum Brünigpass hatte Fede trotz offenen Verdecks geschlafen und ihr Manko ausgeglichen. Jetzt war sie hellwach und kommentierte die zum Teil überhängenden Felsen, welche die Strasse vom Brünigpass Richtung Brienzwiler säumten. «Hast du nicht Angst, dass da mal was runterkommt?» Demonstrativ zog sie den Kopf ein und legte die Hände darüber. «Die Berge sind instabil geworden. Klimawandel, sag ich da nur. Siehst du die Netze dort? Die reichen kaum aus, wenn die Felsbrocken abbrechen.»
Max warf wieder einen Blick auf ihre Seite und bemerkte ihr schelmisches Grinsen. Fede wirkte entspannt. Die Sonne hatte in den letzten Tagen einen Goldton auf ihr Gesicht gezaubert. Die Sommersprossen standen ihr gut. Der Fahrtwind blies ihre rote wilde Mähne nach hinten und liess ein neues Tattoo an ihrem Hals aufblitzen. Max kommentierte es nicht. Wenn es um Tattoos ging, liess sich Fede nicht dreinreden. Auch sonst nicht.
Max’ Hand verselbstständigte sich, legte sich auf Fedes Oberschenkel. Fast zwei Jahre waren sie zusammen, ein Paar, das nicht unterschiedlicher